Hohenlohe am Brüsseler Platz

„Irgendwo in Hohenlohe“ (Andreas Schmelz)

Jetzt ist auch in dem Roman, den ich gerade überarbeite, Anfang Februar. Andy, dem die Bäckerei nebenan gehört, hat gerade neue Winterbilder aus seiner Heimat aufgehängt, so dass man auch im Belgischen Viertel in Köln (zumindest mit den Augen) jeden Tag mühelos nach Hohenlohe reisen kann. Herr Hayashi, der aus Japan stammt, sagt, dass ihn manche von Andys Bildern an japanische Haikus erinnern, vor allem das mit der Sonne. Im Café ist es in dieser kalten Zeit warm und gemütlich, und Andy bereitet sich schon intensiv auf den Kölner Karneval vor. Seine Muzemandeln sind kleine Meisterwerke, dezent bezuckert, feinfühlig mandelig und veredelt mit einem Hauch von Rosenwasser, eben perfekt „schmelzig“.

„Kupferhofallee“ (Andreas Schmelz)

Der alte Herr Christen aus der Lütticher Straße hat gefragt, ob man die Bilder eventuell kaufen könne. Ihm gefällt vor allem die Kupferhofallee im Schnee. Als er heute zu seinem üblichen Morgenkaffee in die Bäckerei kam, hat Andy ein kleines flaches Päckchen vor ihn auf den Tisch gelegt. Darin war – die Kupferhofallee. Da hat er der alte Herr Christen, der sonst nie die Fassung verliert, tatsächlich angefangen zu weinen.

„Schneebäume“ (Andreas Schmelz)

Am Brüsseler Platz leben im Buchjahr 2003 noch viele ältere Menschen. Eine davon ist die blinde Frau Hagedorn. Sie wohnt direkt neben der Kirche. Meine Marigard im Buch liest ihr seit kurzem vor und beschreibt sie auch näher.

„Winterapfel“ (Andreas Schmelz)

„Frau Hagedorn ist schon über achtzig, und operieren kann man ihre Augen nicht mehr. Sie sieht jetzt mit den Ohren, mit der Nase und mit den Fingerspitzen. Manchmal betastet sie vorsichtig mein Gesicht. Weil sie schon so alt ist, möchte sie nicht mehr umziehen, obwohl sie eigentlich rund um die Uhr betreut werden müsste. Sie will auf keinen Fall in ein Heim. Meistens sitzt sie am Fenster und träumt. Manchmal fallen ihr Gedichte ein, die sie früher gelesen hat. Sie hat seltene Bücher, die es nicht mal bei Herrn Halibutt im Antiquariat gibt. Zum Beispiel das Buch vom Puppenzwerg. Manchmal erinnert sie sich auch an ihre Verwandten. Leider sind die meisten tot. Ihr Vater war Bäcker, und sie kann das frische Brot immer noch riechen. Andy bringt ihr morgens die Brötchen, und eine Nachbarin geht für sie einkaufen und kocht für sie. Ihr Highlight des Tages ist Herr Prinz. Wenn er Urlaub hat, wird ihre Welt wirklich finster, sagt sie. Ich finde es traurig, dass sie so allein lebt. Aber sie ist zufrieden damit, in sich reinzuhorchen und sich zu erinnern. „Mit dem Alter wird man müde“, sagt sie. „Und dann geht man immer weiter zurück in die Vergangenheit.“ Dann sitzt sie am Seerosenteich ihrer Oma und beobachtet die Enten. Oder sie steht neben ihrem Vater in der Bäckerei und verkauft Kuchen. Sie sagt, dass Andy genau so gut nach Backstube und Café duftet wie früher ihr Papa.“

„Frostnetz“ (Andreas Schmelz)

Herr Prinz ist der Briefträger und die gute Seele im Viertel. Auch er schaut jeden Tag bei Andy vorbei. Mit oder ohne Post, denn er beendet seine tägliche Runde immer mit einem Milchkaffee. Den wunderbaren Briefträger aus meinem Buch hat es übrigens wirklich gegeben, und ich habe seinen Namen nur ein ganz klein wenig verändert. In Wirklichkeit hieß er nicht Prinz, sondern Kranz. Ich habe ihn damals extra für meinen Roman, der in meinem Kopf schon vor vielen Jahren Gestalt anzunehmen begann, ausgiebig interviewt. Dabei erfuhr ich zu meiner Verwunderung, dass Herr Kranz nicht nur der blinden Frau am Brüsseler Platz morgens die Post vorlas, sondern auch für etliche ältere Menschen im Viertel „schnell mal“ einkaufen ging und für einige Wohnungen sogar den Schlüssel hatte.“Falls mal was passiert, und keiner es merkt.“ Er war dann auch tatsächlich mehr als einmal der Retter in der Not, etwa wenn jemand unglücklich gestürzt war und hilflos in der Wohnung lag, oder plötzlich krank wurde und es nicht mal mehr zur Tür schaffte. Einmal fand er sogar einen älteren Mann, der sich aus Verzweiflung über seine unheilbare Krankheit umgebracht hatte. Er merkte sofort, wenn etwas nicht stimmte oder jemand Trost und Zuwendung brauchte.

„Kleine Wunder“ (Andreas Schmelz)

Für mich gehörte Hans Kranz, unser ehemaliger Briefträger im Belgischen Viertel, der bei seiner Arbeit so viele lustige, schöne und traurige Geschichten erlebt hat, eindeutig zu den ganz großen, oft übersehenen und vergessenen „Helden des Alltags“. Dass er durch seine fürsorglichen Einsätze immer viel länger arbeitete, als er eigentlich musste, hat ihn nie gestört. Er fühlte sich in unserem Viertel zu Hause, mochte die Menschen dort und kannte jede Ecke und jedes Haustier. Er war ein fürwahr hochsensibler Mensch, der schon von weitem sah, wenn es einem schlecht ging („Das merke ich schon am Gang“) und stets ein offenes Ohr und ein gutes Wort zur rechten Zeit hatte. Dabei war er immer bescheiden und äußerst diskret. Ich hatte das große Glück, dass er mir meine Post „aus Tradition“ persönlich überreichte, statt sie einfach unten in den Briefkasten zu werfen. Obwohl er dafür bis in den dritten Stock hoch musste (zum Glück gab es einen Aufzug). Er wußte, dass ich als Übersetzerin den ganzen Tag allein zu Hause am Schreibtisch saß, und hatte vielleicht auch das Gefühl, dass wir irgendwie seelenverwandt waren. Vielleicht genoß er die kurzen Begegnungen an der Tür oder unten auf der Straße ja auch genau so sehr wie ich? Wir haben den Kontakt bis zu seinem Tod vor zwei Jahren nicht abbrechen lassen und uns zu Weihnachten immer Karten geschickt. Wenn möglich, mit einem richtig schönen, knallroten englischen Briefkasten. Und einem Rotkehlchen oben drauf.

„Winterbaum“ (Andreas Schmelz)

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