Der Mond in Zeiten des Krieges

Die „amerikanischen Jahre“ meines Vaters als Kriegsgefangener der US Army haben auf merkwürdige Weise auch mein Leben geprägt. Schon als Kind wollte ich unbedingt nach Arizona, um endlich den Mond über der Wüste zu sehen, von dem mein Vater so oft erzählte. Auch die Kakteen mit den merkwürdigen Namen wollte ich sehen, die turmhohen Saguaros, in denen die Eulen nisteten, die bizarren Joshua Trees mit ihren klagend zum Himmel hochgestreckten Armen. Als Erwachsene bin ich Ende der 1980er Jahre auf den Spuren meines Vaters tatsächlich dort gewesen. Mein Vater hatte recht. Hier ist der Mond wirklich anders. Eines Nachts, auf einer Fahrt durch die Wüste, hing er plötzlich wie eine riesige Leuchtkugel über mir, größer und geheimnisvoller als ich ihn mir als Kind auch nur annähernd vorgestellt hatte. Er war so hell und klar, dass man glaubte, jeden Krater erkennen zu können. Das Gefühl, das ich bei seinem Anblick empfand, war tiefe Ehrfurcht.

In der Wüste (Foto: privat)

Als junger Prisoner of War hat mein Vater den Mond als tröstlich empfunden. Die Kriegshölle lag endlich hinter ihm, auch wenn sie ihn bis an sein Lebensende verfolgen sollte. Doch das wußte er damals zum Glück noch nicht. Er war 21 Jahre alt, fühlte sich einsam und unglücklich, lebte gegen seinen Willen in der Fremde, doch er war in Sicherheit, hatte zu essen und zu trinken und das Glück, im Lager als Dolmetscher arbeiten zu dürfen. Er konnte sich zwar nicht frei bewegen, doch sein Freund David nahm ihn manchmal mit hinaus in die Wüste. Nachts, wenn mein Vater nicht schlafen konnte, stand er oft auf und hielt Zwiesprache mit dem Mond. Er erschien ihm wie eine stille Geliebte, eine gute Freundin oder vertraute Schwester, die man tagsüber heimlich herbeisehnt, wohl wissend, dass sie einen zuverlässig jede Nacht besuchen wird. Eine Gefährtin aus Kindertagen, die sich weder durch Stacheldraht, Wände noch Mauern abhalten lässt, die Grenzen, Gebirge und Ozeane mit Leichtigkeit überwindet. Ein Wesen aus uralten Zeiten, mit dem man sich unterhalten kann, dem man seine Sorgen erzählt, dem man Grüße auftragen kann an all jene, denen man sich verbunden fühlt, die Lebenden und die Toten, nah und fern oder unerreichbar in Raum und Zeit.

mein Vater (Foto: privat)

Mein Vater hat die Wüste geliebt. Genau wie ich, als ich sie zum ersten Mal sah. Für mich war es beinahe so, als ginge ich umher in den Landschaften seiner Erinnerungen, als käme ich zurück an einen mir seit langem vertrauten Ort. Auch in seinen Aufzeichnungen hat er darüber geschrieben:

„Zwischen Sand und Felsen herrschte eine Stille, die man sonst wohl nur im Tiefschlaf erlebt. Ich saß auf einem Felsplateau und blickte in das rosafarben leuchtende Sandmeer. Geheimnisvoll verwitterte Steinskulpturen ragten darin auf, wie von Künstlerhand hineingesetzt. Worte wie Frieden, Ruhe, Zurückkommen, gingen mir durch den Kopf. Die reglose Felsen- und Sandwelt scheint in sich selbst zu ruhen, angekommen, vollendet in ihrem eigenen Zauber. Immer wenn mich diese Stille umgab, wäre ich am liebsten für immer in dieser Welt versunken.“

(Kurt Felten, „Kakteen und Stacheldraht“, 2008)

Ich stelle mir vor, wie genau dieser Mond meines Vaters, der Mond der Wüste und der Kriegstage, etliche Stunden früher oder später in derselben Nacht die andere Seite des Erdballs erhellt. Es ist ein unwirtlicher Ort weit im Osten, an dem sich mein Schwiegervater, der Arzt und Dichter Hans-Joachim Leidel, befindet. Auch er hat sein Gesicht dem Himmel zugewandt.  Auch er sieht die silberne Schönheit, auch er denkt an seine Familie und an seine Kindheit. Doch er ist noch mitten im Krieg, muss jeden Tag aufs Neue um sein Leben fürchten, weiß nicht, was der nächste Tag bringen wird an Gräuel und Grausamkeit. Im Moment denke ich wieder sehr an Jachym, wie ich den vertrauten Unbekannten nenne, denn er starb in diesem Monat. Am 7. Februar 1962, im Alter von nur 46 Jahren. Der Mond in seinem Gedicht scheint über der Front.

Hans-Joachim Leidel (Foto: privat)

Mondschein an der Front
 
Wie hell es ist –
Ich lege den Kopf auf den Acker,
in dem kein Same ruht.
Sternensand, Schwärme, Gewimmel:
Die mystische Milch Gottes, das galaktische Rauschen.
Der Mond, den man als Kind besang, ist aufgegangen.
 
Wenn ich nun ginge,
wenn ich nun über die silberne Brücke ginge,
wenn ich mir nun sagte:
daheim bewacht der gleiche Mond die Lieben.
Trostgewinn, Mutschöpfen, fester den Kolben umgreifen,
größere Entschlossenheit?
 
Nein.
Mit diesem Moment rechnen die Generäle.
Die Hasser rechnen mit unserer Vollmondbereitschaft zum Träumen.
Auf unserer Phantasie bauen sie ihre Stellungen aus,
Sie sind nicht sentimental.
 
Niemals etwas anderes denken als das;
Dies ist Mord.
 
Mein Gott, wohin lässt du mich gehen?
Was lässt du mich tun?

(Hans-Joachim Leidel, undatiert)
Hans-Joachim Leidel (Foto: privat)
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