Weißer Sonntag am Niederrhein

Tante Pia und St. Blasius

Tante Pia war in unserer Familie die höchste Instanz für alles Kirchliche und Religiöse. Sie kam direkt hinter dem Papst, dem Herrn Pastor und dem Herrn Kaplan. Anfang Februar nahm sie mich immer mit, wenn sie an Maria Lichtmess ihre Kerzen segnen ließ, mit denen sie die ganze Familie versorgte, und danach bekamen wir beide den Blasiussegen. Ich war dabei immer ziemlich aufgeregt. Der Herr Pastor stand mit zwei gekreuzten brennenden Kerzen da, segnete uns den Hals und sagte dabei: „Auf die Fürsprache des heiligen Blasius bewahre dich der Herr vor Halskrankheit und allem Bösen.“

Dann kam der Ziegenpeter

So richtig schien der Heiligenschutz bei mir nicht zu funktionieren, denn ausgerechnet eine Woche vor meiner Erstkommunion schwoll meine linke Backe plötzlich an, bis sie doppelt so dick wie die andere war. Es tat schrecklich weh. Ich konnte den Kopf nicht mehr richtig bewegen, nicht mehr normal kauen und schlucken und kaum noch sprechen. Meine Mutter packte mich ins Bett und machte mir unbequeme warme Umschläge. Mit Öl! Nach drei Tagen wurde auch die andere Backe dick. Nicht ganz so dick wie die linke, aber trotzdem sah aus ich wie ein Monster oder wie mein Goldhamster, wenn er sich die Backentaschen vollgestopft hatte.

Unser Hausarzt Doktor Engels kam, sah und diagnostizierte Mumps, auch Ziegenpeter genannt. Den kannte ich schon aus meinen Heidi-Büchern, und das sagte ich ihm auch. „Der heißt aber nicht Ziegenpeter, sondern Geißenpeter“, erklärte Doktor Engels. „Aber Sie wollen mich jetzt nich’ operieren, oder?“, erkundigte ich mich ängstlich und dachte an Opas schiefen Hals. „Nein“, sagte Doktor Engels, „das braucht man nicht zu operieren, das geht von ganz allein wieder weg. Man muss nur ein wenig Geduld haben.“ Ich war am Boden zerstört. Das sollte mein schönster Tag werden? In diesem Zustand konnte ich ja wohl kaum Bräutchen sein! Inzwischen konnte ich nur noch Flüssiges zu mir nehmen, weil mir das Schlucken so wehtat.

Doktor Engels hatte mir strenge Bettruhe verordnet, doch ich wollte unbedingt mit den anderen zur Erstkommunion gehen. Auf das Kränzchen mit den kleinen Stoffrosen und das schöne weiße Bräutchenkleid hatte ich mich monatelang so gefreut. Sämtliche Verwandten legten ein gutes Wort für mich ein, vor allem Tante Pia redete mit Engelszungen. Am Ende wurde Doktor Engels schwach, und so zog ich mit Ziegenpeter und geschwollenen Mumpsbacken zusammen mit den anderen Kindern in die Kirche.

Mein schönster Tag?

Doch alles lief schief. Man hatte uns leider der Größe nach eingeteilt, so dass ich nicht neben meiner besten Freundin Winnie ging, sondern neben Martina, die zwar genauso groß war wie ich, aber sonst nur selten mit mir zusammen war. Die arme Martina war auch ein Mumpskind, allerdings schon auf dem Wege der Besserung. Nein, mein schönster Tag war es ganz gewiss nicht. Eher einer meiner schlimmsten. Weil mein Hals so weh tat, konnte ich kein bisschen andächtig sein und litt während der endlos langen Messe wahre Höllenqualen.

Dummerweise klebte mir im feierlichsten aller Momente auch noch die Hostie am Gaumen fest. Damit hatte ich überhaupt nicht gerechnet. Mit der Zunge kriegte ich sie nicht runter, mit den Fingern ging es auch nicht, weil sie ja heilig war und man sie nicht berühren durfte, und mir war so gar nicht mehr würdevoll und feierlich zumute, sondern nur noch schrecklich elend. Vielleicht hatten die Ärzte ja doch Recht, wenn sie einem strikte Bettruhe verordneten? Nach dem großen Ereignis musste ich sofort wieder ins Bett und bekam wieder Umschläge mit ekligem warmem Öl um den Hals. Hunger hatte ich auch keinen, denn mir war übel. Meine vielen Gäste saßen derweil unten im Wohnzimmer und genossen die Festtafel. Sie hatten es gut! Ich hätte heulen mögen.

Frau Mahlzahn und Odysseus

Wirklich trösten konnte mich an diesem Tag nur der große Tisch mit den Geschenken, denn zwischen den unzähligen Reisenecessaires, Poesiealben, Handtüchern und Blumensträußen befanden sich auch etliche Bücher, unter anderem die neuesten Bände von „Hanni und Nanni“, aber vor allem zwei ganz besondere Kostbarkeiten. „Sagen des klassischen Altertums“ von Gustav Schwab und „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“ von Michael Ende. Beide Bücher durfte ich mit ins Krankenbett nehmen, und sie schafften es tatsächlich, dass ich für kurze Zeit meine Mumpsbacken vergessen und in andere Welten abtauchen konnte. Den ersten Tag verbrachte ich mit Jim und Lukas in Lummerland und Kummerland, traf Frau Waas, die Lokomotive Emma, Frau Mahlzahn, den kleinen Ping Pong, Prinzessin LiSi und den Scheinriesen Herrn Turtur, und an den folgenden Tagen bestand ich die aufregendsten Abenteuer mit Odysseus, Achill, Hektor, Ariadne, Poseidon, Herkules, Persephone und vielen, vielen anderen Helden. Es war einfach wunderbar, auch wenn der Hals noch so weh tat.

Mein Vertrauen in den Heiligen Blasius war danach stark erschüttert. Entweder er hatte versagt, was nicht sein konnte, wenn man Tante Pia und den anderen Großtanten Glauben schenkte, oder er konnte mich einfach nicht leiden. Ich fürchte, mit der zweiten Vermutung lag ich ganz richtig. Ich hatte als Kind auffallend oft Halsschmerzen und ständig geschwollene Drüsen. Vor allem am Hals und an den Ohren, den Spezialstellen des Heiligen.

(Erinnerungen aus „Mit Winnie in Kattendonk“ und „Mit Winnie in Niersbeck“)

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