Mülhausen revisited

unser ehemaliges Klassenzimmer, beim letzten Besuch, Ende der 1980er Jahre

Am 21. September werde ich meine alte Schule wiedersehen. Diesmal nicht als schüchterne Schülerin, sondern als gestandene Schriftstellerin. Einige wenige meiner damaligen Lehrerinnen leben noch. Ob sie da sein werden? Ob sie sich noch an mich erinnern? Hoffentlich werde ich auch ein paar ehemalige Klassenkameradinnen treffen. Ich bin sehr gespannt, wie es sich anfühlen wird, an den Ort meines zweiten Niederrhein-Romans zurückzukehren. Bei mir heißt er „Niersbeck“. Aus naheliegenden Gründen. Marlies und Winnie, die beiden Freundinnen im Buch, werden mich zum Glück begleiten, leise miteinander tuscheln und möglicherweise noch aufgeregter sein als ich.

Wie schade, dass meine Eltern nicht mehr leben. Sie hätten sich bestimmt gefreut und stolz in der ersten Reihe gesessen. Und wie schade, dass die echte Winnie, meine Freundin Kornelia, nicht da sein kann. Schon drei Jahre ist sie tot. Merkwürdigerweise jährt sich ihr Sterbetag genau am Tag meiner Lesung. Ein Zufall, der sie bestimmt amüsiert hätte. „Et jibt keine Zufälle, dat weißte doch!“ höre ich sie sagen. „Nie im Leben!“

Der Schulpark beim letzten Klassentreffen – Ende der 1980er Jahre

In unserem Versteck im Park haben wir damals oft philosophische Gespräche geführt und auch darüber gesprochen, wie wir uns das Leben nach dem Tod vorstellen. Genau wie Marlies und Winnie im Buch:

„Wat bedeutet Paradies überhaupt? Is‘ man da immer glücklich oder wat? Is‘ man da einfach bei Gott oder in ’nem anderen Land mit Bäumen und Tieren? So wie Adam und Eva. Oder in ’ner Schattenwelt wie im Hades?“

Winnie legte die Stirn in Falten und dachte nach. Sie hatte erstaunlich klare Vorstellungen vom Leben nach dem Tod. „Wenn man tot is‘, kann man all dat tun, wat man immer schon mal tun wollte. Man kann sich verwandeln in wat man will. In jedes Tier. Un‘ auch in Bäume. Oder Steine. Man kann fliejen bis über die Wolken. Man kann unter Wasser atmen un‘ bis zum Meeresjrund tauchen wie die Wale. Un‘ singen wie die Lorelei. Man kann sojar in der Zeit rumreisen. Auch zu den Dinosauriern. Un‘ zu den Indianern in die Canyons. Einfach alles. Un‘ dat bis in alle Ewigkeit.“ Die Vorstellung gefiel mir. Dann hatte also jeder Mensch sein eigenes Paradies?

„Ob lebende Menschen einen noch spüren können, wenn man tot is‘?“

„Nich‘ alle“, meinte Winnie. „Nur die wichtijen. Un‘ auch nur, wenn dat beide wollen. Dann kann man denen einfach im Traum erscheinen. Oder die können einen rufen, und dann kommt man.“

„Un‘ wie is‘ dat bei uns? Wenn einer von uns tot is‘ un‘ der andere noch lebt?“ Ein schrecklicher Gedanke. „Ob wir uns dann auch noch spüren können?“

„Wir janz bestimmt! Wir sind doch Blutsschwestern!“ (aus: „Mit Winnie in Niersbeck“)

Wie mag der alte verwunschene Park heute aussehen? Man hat mir erzählt, dass ein Großteil der Bäume einer Rasenfläche weichen musste. Gibt es unseren Schwanenteich noch? Duftet es in der Schule immer noch so vertraut nach Kreide und Bohnerwachs? Die Stimmung in den Fluren wird mit Sicherheit anders sein, denn heute gibt es so gut wie keine Ordensschwestern mehr, die mit flinken Schritten und dem leisem „Wusch“ ihrer Gewänder um die Ecken biegen oder mit einem leisen „Plopp“ unverhofft vor einem aus dem Boden schießen. Die ehemalige Klosterschule nur für Mädchen ist heute ein modernes Gymnasium, das selbstverständlich längst auch von Jungen besucht wird. Die strengen Kleiderregeln von damals gibt es heute zum Glück nicht mehr. Bei uns waren lange Hosen und ärmellose Kleider streng verboten. Und lange Haare durften auf keinen Fall offen, sondern nur als Pferdeschwanz getragen werden. So lange ist das her.

Wie wird es sich anfühlen, nach all der Zeit mit vorsichtigen Schritten zurück in die Vergangenheit zu gehen? Ich werde in der alten Bibliothek lesen, vielleicht ist die Zeit dort ja ein wenig mehr stehen geblieben? Auch die Bibliothek hatte immer ihren ganz eigenen Geruch. Es roch dort ein wenig nach Gewürzen und sehr „buchig“. Auf jeden Fall nehme ich meine Kamera mit und werde mich anschließend ausgiebig mit Marlies und Winnie unterhalten. Mit Sicherheit sehen sie mehr als ich, denn ich muss ja lesen, während sie sich ungehindert umschauen können.

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