„Das Kind braucht Luftveränderung“ (4) – Angelika

Die folgenden Erinnerungen stammen nicht von mir, sondern von meiner Freundin Angelika. Bis vor zwei Wochen hatte ich keine Ahnung, dass auch sie zu den „Verschickungskindern“ gehörte. Was sie während der „Kur“ erlebte, fand in anderen Jahren statt. Nicht 1965, sondern 1968 und 1971. An anderen Orten. In anderen Heimen. In anderen Landschaften. Angelika war nicht am Meer, sie war im Chiemgau und im Schwarzwald.

Zuerst wurde sie nach Ruhpolding „verschickt“. Es war Winter, kalt, überall lag Schnee. Danach war sie am Schluchsee. Es war Sommer, warm, roch nach Sonne und Wald. Ich kann mir die Landschaft gut vorstellen, denn auch ich habe Erinnerungen an diesen Ort. Allerdings völlig andere. Schöne. Ich war dort nicht als wehrloses Kind, sondern als erwachsene Frau. 

Angelika schreibt unter anderem über sexuellen Missbrauch an einem Kind, was bei LeserInnen mit eigenen Missbrauchserfahrungen Flashbacks triggern könnte, daher bitte nur weiterlesen, wenn Sie sich diesem Thema psychisch gewachsen fühlen. 

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Kleines Mädchen  (Alexas_Fotos/pixabay)

Zu dünn, zu blass!

Ich war acht. Oder neun? Ich kann mich nicht wirklich erinnern. Ein zartes, feingliedriges Mädchen mit langen Zöpfen. „Das Kind ist einfach zu dünn, viel zu blass!“ So hörte ich es von allen Seiten. Heute, mit dem Rückblick auf meine Eltern, ihr Erlebtes, kann ich mir gut vorstellen, dass sie wirklich nur das Beste für mich wollten und über Folgen ihres Tuns nie nachdachten. Wer schickt schon so ein kleines Kind mit dem Zug durch ganz Deutschland?

Ich erinnere mich, wie ich mit den Eltern am Bahnhof stehe, spüre meine Angst. Bis dahin stets wohl behütet von Eltern und zwei größeren Brüdern. 

Ich sehe mein Bett, ich bekam eines an der Wand. Ich sehe den kleinen Beistelltisch, auf dem man Habseligkeiten auslegen konnte. Ich glaube, ich hatte keine. Vielleicht das eine oder andere Buch hat mich begleitet, das könnte ich mir schon gut vorstellen, aber ich weiß es nicht mehr genau. Ich fokussiere in meinen Erinnerungen den Raum, viele Mädchen lagen in einem Zimmer, mindestens fünf bis sechs Betten standen dort.

Mein Vater hatte mir diese Kinderkur schmackhaft gemacht. „Kind, du wirst auf einer schönen Liege, in einer Wolldecke gewickelt hinter einem großen Panoramafenster liegen und die Berge sehen!“ Auf diese Illusion wartete ich die kompletten sechs Wochen. Als ich es erwähnte, wurde ich ausgelacht.

Alle Briefe wurden kontrolliert, es musste uns zwingend gut gehen.

Ich rieche meinen Angstschweiß bis heute, wenn es zum Essen ging. Ich aß, bis heute hat sich das gehalten, vieles nicht. Dort wurde ich gezwungen. Mein Vater schrieb mir, aber die Briefe wurden von der Heimleitung geöffnet: „Für jedes Pfund, das du zunimmst, bekommst du zehn Mark.“

Flashbacks

Ich schaffe es nicht, ganz zurückzugehen, habe Flashbacks um das Thema.

Meine Therapeutin riet mir damals, die Vergangenheit darum ruhen zu lassen, nicht zwangsläufig aufzureißen. Daran halte ich mich. Die Flashbacks ziehen Gerüche, Geräusche, Gefühle mit sich. Unendliche Ängste. Es wurde bedroht, gedroht. 

Ich rieche meinen Schweiß unter meiner nassen Mütze, den Geruch meines Anoraks kann ich abrufen. Ich sehe mich, wie ich versuche, meine uringetränkten Schlüpfer am Becken auszuwaschen. Ich sehe zornige Blicke, höre laute Stimmen, knallendes Geschirr, erinnere stundenlanges vor dem Teller Sitzen (das kannte ich ja schon von zuhause). Die Brote, die verteilt wurden, nach der Eisenbahnfahrt, mein Entsetzen darum, und ich höre meine zarte Stimme, weinerlich, dass ich keine fremden Brote essen könne. Ich aß nur Marmelade- oder Zuckerbrote und bekam ein widerlich dickes Brot vorgelegt mit einer dicken Scheibe Käse. Ich wurde gezwungen. Brechreiz. In einem unbeobachteten Moment die Chance, mir das Brot in die Unterhose zu stopfen. Man glaubte mir, dass ich es aufgegessen hatte. Die schlimmen Milchsuppen mit dicker Haut. Mich ekelt es bis heute.

Sechs lange Wochen

Ich habe mich weggeschaltet, um das zu überleben. Ich kann keine Einzelheiten erzählen, nur das Gesamte betrachten. Die Kur dauerte sechs Wochen. Nach vierzehn Tagen kam der Brief meines Vaters. Nach vier Wochen hatte man mich auf fünf Pfund hochgemästet. Mich, das zarte Kind. Ich bekam einen Fünfzigmarkschein ausgehändigt.

Was haben die mit mir getan? Beim Schreiben merke ich, wie mir die Tränen hochkommen und ich um mich selbst trauere.

Falling down (Free-Photos/pixabay)

Die zweite Kur

Die zweite Kur mit 11 wurde mein Verhängnis auf fast allen Ebenen. Nach dieser Kur wurde ich nicht mehr „verschickt“, von nun an ging es zum Urlaub zu den Verwandten in Bayern. 

Mit 11 hat sich während der Kur ein Betreuer „meiner angenommen“. Ich küsste das erste Mal in diesem Alter. Ihn.

In diesem Alter wurde mein Körper von einem Erwachsenen erforscht. Überall. Dann sein Jammern, dass es ihn den Job kosten könne, wenn das rauskäme.

Danach kam es noch im selben Jahr im Urlaub in Bayern zu weiteren Übergriffen durch einen anderen Erwachsenen.

Ich war früh entwickelt.

Sie haben sich einfach bedient.

Ich kann die Gefühle abrufen.

Ich bekam irgendwann durch Erkrankungen die Diagnose chronische posttraumatische Belastungsstörung. Meine Ängste, das Entsetzen, die immerwährende Hilflosigkeit, die Anstrengung, alles zu überleben, machten mich krank.

Lange konnte ich mich an die Zeit nicht erinnern, habe es so gut vergraben, dass ich irgendwann einen Therapeuten aufsuchen musste, der mit Kinesiologie arbeitete. Mein Körper und meine Seele verrieten mein junges Alter, und dann kamen die Erinnerungen.

Als ich wegen dieses Falles Anspruch auf Opferentschädigung beantragte, zeigte man zwar Mitgefühl, ABER ich hätte ja keine Beweise. Mein Anwalt für Sozialrecht bat mich inständig, den Antrag zurückzunehmen.

Zurückblickend weiß ich, dass ich meine Traumata gut verarbeitet habe. Sicherlich reichten meine Ressourcen, um zu überleben, das Geschehene zu bewältigen. Das dauerte jedoch viele Jahre, sogar Jahrzehnte, und ging nicht ohne therapeutische Hilfe.“

(Angelika C.) 

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Heute ist Angelika kein Opfer mehr. Ihre traumatischen Erlebnisse sind nicht länger verschüttet. Und doch sind die Erinnerungen schmerzhaft und aufwühlend. Und werden es wohl immer bleiben. Ich bewundere ihren Mut, so offen über das Erlittene zu schreiben.

Danke für dein Vertrauen, liebe Angelika. 

Für Geli (cablemarder/Pixabay)

 

 

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10 Antworten zu „Das Kind braucht Luftveränderung“ (4) – Angelika

  1. Thomas B. sagt:

    Erschütternd, mehr kann ich dazu nicht sagen; und danke für die offene Schilderung. Selbst Verschickungskind war ich 1971 für 6 Wochen im Kinderheim St. Antonius in Ratzenried/Allgäu interniert. Meine Erinnerungen sind bruchstückhaft und scheinen noch immer weit weg, doch an die vielen Zwänge kann ich mich erinnern: Esszwang, Schlafzwang, Ruhezwang, Zwang zur Beschönigung des alltägliche Heimterrors. Ich war denen hilflos ausgeliefert, endlose 6 Wochen lang, ohne Hoffnung auf Rettung…
    Dank der Initiative von Anja Röhl kommt der Terror endlich ans Tageslicht und ich bitte alle Betroffenen, sich ihren Möglichkeiten entsprechend zu engagieren. Nie wieder dürfen solche Dinge mit Kindern passieren, NIE wieder!
    Thomas

    • Bee sagt:

      Lieber Thomas B,

      danke für deine Nachricht. Ja, es ist wirklich gut, dass endlich über die Vergangenheit gesprochen werden kann. Viel zu lange haben viele von uns ihre dunklen Erinnerungen stumm mit sich herumgetragen. Ich kann dir nur zustimmen, so etwas darf keinem Kind passieren!

      Viele Grüße
      Beate

    • Heri sagt:

      Ich war auch in Ratzenried, 1968, kam traumatisiert zurück. Furchtbar war es dort. Einmal ließ man zwei Kinder im Wald zurück, weil die zu „lebhaft“ waren. Die schrien um ihr Leben und wurden erst, als sie fast nicht mehr zu sehen waren, geholt. Die ganze Gruppe erlitt dadurch ein Trauma

      • Bee sagt:

        Danke für deinen Kommentar. Diese Behandlung von Kindern war grauenhaft und durch nichts zu entschuldigen. Nur gut, dass wir jetzt endlich unsere Stimmen erheben.
        Liebe Grüße, Bee

  2. Lieber Thomas B., vielen Dank für deine Zeilen zu meinen Erinnerungen, die auch nur noch schemenhaft existieren, aber das Leben nachhaltig bestimmen. „Es“ geht ja nicht einfach weg, doch durch Hilfe konnte ich sehr gut verarbeiten. Es ist beruhigend, dass nun so viele aufstehen und erzählen. Nie hätte ich meinen Kindern, aufgrund meiner Vergangenheit, so etwas zugemutet bzw. da auch vehement etwas gegen gehabt, sie ohne meine Aufsicht zu wissen. Das war dann halt ihr Schicksal, dass ich vermehrt draufschaute, was sie erlebten. So dass vieles (wenn vielleicht auch nicht alles) besprochen werden konnte und die Kinderseelen eine Chance hatten.

  3. Thomas B. sagt:

    ‚Ein kreativer Erwachsener ist ein Kind, das überlebt hat‘.
    Ja, Angelika, damit hast du wirklich Recht, darin sehe ich mich wieder.
    Alles Gute Dir,
    Thomas

  4. Klaus Bauer sagt:

    Ich war auch als Junge in Ruhpolding. Habe den Hof in den letzten Jahren nochmal aufgesucht wo ich war. Habe noch Bilder wo wir mit der Gruppe und einem großen schwarzen Hund abgebildet sind. Gibt es Namen von der Erholungsstätte wo du warst?
    Gruß Klaus

  5. Rica Westenberger sagt:

    Hallo, ich war 1969 zusammen mit meiner 4 Jahre älteren Schwester auch 6 Wochen in Ruhpolding. Ich selbst war 5 Jahre alt und erinnere mich an Essenszwang, Kontaktverbot mit den Eltern, zensierte Post.
    Meine Schwester und ich essen seitdem keinen Kümmel mehr. Es gab sehr oft zermatschte Kartoffeln mit Kümmel. Ich erinnere mich, wie wir stundenlang davor saßen und nicht wussten, wie wir das runterbekommen sollen.
    Wir schliefen in einem Schlafsaal, in dem 10-15 Mädchen untergebracht waren. Es bestand der Zwang zum Mittagsschlaf. An der Tür saß eine „Tante“ im weißen Kittel und bewachte uns. Es war verboten auf Toilette zu gehen. Einmal machte ein Mädchen deswegen ins Bett. Hinterher wurde sie beschimpft, ausgelacht und gezwungen ihr Bett alleine frisch zu beziehen, obwohl sie noch klein war.
    Ich war eine Zeitlang auf der Krankenstation, auf der es auch verboten war auf Toilette zu gehen. Ich machte heimlich aufs Töpfchen und leerte den Inhalt ins Waschbecken aus, um die Spuren zu vertuschen. Mit Entsetzen musste ich dann den „Inhalt“ irgendwie ins Klo befördern. Ich erinnere mich deutlich an meine Angst und meinen Ekel.
    Ich hätte niemals gedacht, dass es so viele Verschickungskinder gab und Viele ähnliche und noch viel schlimmere Erfahrungen gemacht haben. Ich freue mich über diese Aufarbeitung und hoffe, dass dieses dunkle Kapitel der Erniedrigungen und des Sadismus hoffentlich beendet ist.

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