Die Geister der vergangenen Winter (2)

Schlittenfahrt (Marcel Walter/unsplash)

In diesem Winter, der so gar keiner ist, steigen noch mehr Bilder auf als sonst. Draußen blühen schon die Glockenblumen zwischen den Steinen, sogar die Ampel mit den Fächerblumen, die den November bisher noch nie überlebt hat, sieht gar nicht so schlecht aus.

Ich schaue hinaus und erinnere mich. An andere, unerreichbar ferne Winter. An lange Eiszapfen an Dachrinnen, zierliche Eisblumen an Fensterscheiben, den harten Holzschlitten, auf dem man höchst unbequem saß, weil man nie wußte, wo man seine langen dünnen Beine lassen sollte. An das Prasseln und Knistern von Oma Ninnis Ofen. An die dampfenden Wintersuppen, die ich damals nicht besonders mochte und heute vermisse, an den sonntäglichen Reisbrei mit Zimt und Zucker und aufgekochten Trockenfrüchten. An saftigpralle Mandarinen und Orangen, die damals etwas Besonderes waren und deren Schalen so angenehm dufteten wie seitdem nie wieder. An gemütliches Nüsseknacken mit einem silbernen Zangeungetüm, an die klitzekleinen Stückchen, die dauernd auf den Boden fielen und mühsam aufgesammelt werden mussten. Bloß nicht in den Teppich eintreten!

Weihnachtsduft (Bru-nO/pixabay)

An die endlosen dämmrigen Nachmittage auf dem Sofa, das sehnsüchtig erwartete Kinderprogramm – „Warten aufs Christkind“, „Peterchens Mondfahrt“, die Aufführungen der Augsburger Puppenkiste. An die Weihnachtsmehrteiler, „Die Schatzinsel“, „Tom Sawyer und Huckleberry Finn“, „Der Seewolf“. Bei den wenigen Sendern, die unser Schwarzweißfernseher aufzubieten hatte, gab es nicht einmal die Qual der Wahl.

Und an all die Stunden, in denen ich mit meiner kleinen Schwester Memory und Märchenquartett spielte. Von weither höre ich meine Stimme: „Ich hätte gern von dir die Walderdbeere Nummero vier.“ Das war der beste Satz im ganzen Spiel. Gelegentlich sagte ich ihn nur, weil er so gut klang, während ich die Walderdbeere Nummero vier selbst in der Hand hielt. Und weil ich genau wußte, was die Kleine, die mir mit glühenden Wangen gegenüber saß, antworten würde. „Edauro“, rief sie auch gleich triumphierend.  Sie war so jung, dass sie nicht „bedaure“ sagen konnte. Wahrscheinlich kannte sie das Wort nicht mal. Keine Ahnung, warum wir dieses Wort immer sagten. Ich fand ihre Erwiderung so niedlich, dass ich sie nie verbesserte. Das Kartenspiel „Am Waldessaum“ von Liesel Lauterborn und auch das Tierkinder-Memory mit dem niedlichen Rehkitz und den kleinen Feldhasen mit den glashellen Augen habe ich immer noch.

Frostvögel (Genessa Panainte/unsplash)

Mitunter war es so kalt, dass selbst unsere schwarzweiße Topsi nicht nach draußen wollte und es sich lieber zwischen den festgezurrten Kissen im hochgeklappten Klappbett bequem machte. Ihre Augen leuchteten grasgrün im blaugestreiften Bettzeug, wenn man den Vorhang ein wenig öffnete. Ich streichelte ihr Köpfchen, sie begann zu schnurren, und dann stellte ich mich still ans Fenster und bewunderte den frostbemalten Garten, der fast so aussah wie der des selbstsüchtigen Riesen in Oscar Wildes Märchen.

Nur dass bei uns jeden Morgen und Mittag die frierenden und hungernden Vögel gefüttert wurden. Diese Gewohnheit hielt mein Vater bis unmittelbar vor seinem Tod jeden Tag ein. Es war zum Schluss wohl seine einzige Freude und das letzte schöne Ritual, das ihm die wachsende Entfremdung und Verwirrung nicht geraubt haben. Draußen im Garten konnte er noch er selbst sein.  Mein Vater fütterte die Wildvögel schon in meiner Kindheit ganzjährig, sehr zum Spott der Nachbarn und Verwandten, und die Tiere dankten es ihm. Seine Gartenvögel waren handzahm. Sie kamen sogar mit den Katzen klar, denn sie wußten, dass mein Vater gut aufpaßte.

Blaumeise (Martin Arusalu/unsplash)

Die Kinderwinter konnten nie lang genug sein. Ich mochte das Knacken der Äste, das Knirschen des Schlittens, das Funkeln des frisch gefallenen Schnees, die feierliche Stille, die mich an unsere leere kalte Dorfkirche erinnerte, die im Winter nie geheizt war, und mir ein ehrfürchtiges, fast heiliges Gefühl gab. Ich genoß meine dicken weißen Atemwolken, die aussahen, als würde ich genau wie die Erwachsenen „richtig“ rauchen. Wie gern besuchte ich die großen Krickenbecker Seen mit den schwarzen Löchern im Eis, in denen exotischen Wasservögel schwammen, die am Niederrhein überwinterten.

Ich betrachtete die spiegelglatten glänzenden Straßenpfützen, über die man so schön schlittern konnte. Wenn man sich denn traute. Ich traute mich nie, aber ich guckte gern zu.  Vor unserem Haus waren sie stumpf, denn sie wurden mit Asche und Steinchen bestreut. Damit keiner fällt!

Und die dicken Fäustlinge und die gefütterten Stiefel! Die Welt büßte im Winter zwar die meisten ihrer Farben ein, doch dafür bekamen die Häuser nachts gelbe Fenster wie Adventskalender, und im Wohnzimmer brannten die dicken roten Kerzen am Adventskranz. Seit einigen Jahren wird Rot zu meiner eigenen Überraschung während der Wintermonate zu meiner Lieblingsfarbe. Überhaupt schwelge ich seit einiger Zeit sehr gern in Farben. Vielleicht liegt es am Porzellanmalen oder an den winzigen Sachen, die ich für meine Mäuse bastele.

Heute würde ich am liebsten einen roten Mantel anziehen und damit zurückkehren in die Winter meiner Kindheit. Vielleicht einen Paddington-Mantel. Oder, noch besser, einen ganz bunten. Aus verschiedenen Stoffen, in lauter verschiedenen Farben, mit lauter verschiedenen Mustern. Einen Flickenmantel, ungewöhnlich und warm wie der von Allerleirauh. Oder wenigstens eine leuchtend rote Mütze. Egal, ob die Haare kleben oder elektrisch werden. Und dann hinaus in den Winter laufen. Mitten hinein in den Schnee springen. Die Arme hoch reißen. Mit der Zunge die Flocken fangen.

Die rote Mütze (Tim Gouw/unsplash)

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