Kölner Westen: „Radio Days“

Aachener Str. (BFL)

Inzwischen ist die Aachener Straße tatsächlich um einiges ruhiger, manchmal sogar völlig still, und selbst die Autobahn röhrt nicht mehr in der Ferne. Ich war ein paar Mal draußen, und jedes Mal war die Straße bis auf die parkenden Autos fast oder gänzlich leer. Genau wie die KVB-Haltestellen, sogar am Center. Das passiert normalerweise nur bei der Fußballweltmeisterschaft.

Stadtauswärts (BFL)

Das kleine Päckchen, das ich heute morgen bekam, wurde mir im Gegensatz zu sonst mit extrem langem Arm gereicht, nicht mal unterschreiben war nötig, denn in Krisenzeiten gelten andere Vorgaben. Im Stadtanzeiger fallen mir jetzt vermehrt die neuen Zusätze bei den Todesanzeigen auf und machen mich traurig. Ich kann mir sehr gut vorstellen, wie die winzigen Beerdigungen in diesen Tagen aussehen, ich habe in den letzten Jahren viele Verwandte verloren. Ich sehe die wenigen Trauernden verloren und ungetröstet am Grab stehen. Auf dem Weidener Friedhof war ein riesiger Bagger mit lautem Getöse zugange. Mir schoss ein völlig abgedrehter schrecklicher Gedanke durch den Kopf, als ich das riesige Loch sah, doch die Männer hatten einfach nur das Fundament des Strommasts entfernt, der dort bis vor kurzem noch stand. Das war mir glatt entgangen, dabei habe ich ihn schon so oft surren hören. Ein Glück, dachte ich erleichtert. Wie gut, dass ich gefragt habe. Es ist nur der Strommast!

die neuen Weltstars (unsplash)

Im Center sind tatsächlich noch ein paar Geschäfte geöffnet, aber richtig einladend wirkt das nicht. An den geschlossenen Läden kleben kleine Plakate, vor einigen geöffneten stehen Warnschilder. In der Apotheke trugen heute alle Mundschutz und der  Sicherheitsabstand zwischen den Kunden war sehr groß. Bei Rewe und im DM fehlen tatsächlich immer noch unsere momentan weltweit kollektiven Lieblingsprodukte (Nur so eine Idee: man kann notfalls auch liebevoll zugeschnittene Küchenrollen zweckentfremden). Ein Psychologe meinte gestern, durch das Horten von Klopapier würden die Menschen ihren Ekel vor dem Coronavirus ausdrücken. Interessante Theorie, daran hatte ich noch gar nicht gedacht. Aber vielleicht ist Klopapier im Moment auch nur eine Art Beruhigungsmittel gegen die Angst? Eine Variante des magischen Denkens: Wenn du nur genug Klopapier zu Hause hast, kann dir nichts passieren! Dass alle anderen das auch zu denken scheinen (wenn alle das meinen, muss es ja stimmen! Darum gibt es auch all die leeren Regale!), bestätigt die eigene Wahrnehmung. Interessant ist diese Fixierung irgendwie schon. Nudelhorten verstehe ich bestens. Nudeln sind lecker und halten sehr lange. Sie sind gut für das körperliche Wohl. Klopapier bietet offenbar eine ganz andere Sicherheit. Damit schützt sich der Mensch an seiner verwundbarsten Stelle, dem Intimbereich. Ich hatte schon immer genug Klopapier für einige Wochen im Schrank (genau wie Katzenstreu) und habe auch wegen Corona nicht aufgestockt. Aber vielleicht habe ich auch eine ganz andere Art Angst als die Klopapierhorter. Wir kennen uns halt schon sehr, sehr lange, die Angst und ich. Damit hat Klopapier nichts zu tun.

Stopp! (BFL)

Zwei Frauen suchten heute morgen im DM verzweifelt nach Desinfektionsmitteln und eilten panisch und hektisch durch die Gänge. Ich gab ihnen den Tipp (aus der „New York Times“), dass man stattdessen auch sehr gut (verdünntes) Geschirrspülmittel verwenden könne, denn Coronaviren vertragen ja keine Fettlöser, was die beiden sichtlich beruhigte und mir ein gutes Gefühl gab. Spülmittel gibt es zum Glück noch genug, offenbar haben die Menschen diese Geheimwaffe noch nicht auf dem Schirm. Sogar meine Lieblingsmarke gab es, kam also auch gleich in den Einkaufskorb. Ich habe schon immer Spülmittel und Seife geliebt! Auch bei Gummihandschuhen gibt es erstaunlicherweise noch keinen Engpaß (wohl aber bei Einweghandschuhen, die sind nicht mehr zu kriegen).

Zur Säuberung von Oberflächen gab es eine gute Empfehlung in der „New York Times“: Gummihandschuhe anziehen und 1 x am Tag folgende Gegenstände mit einem feuchten Tuch (Desinfektionsmittel oder verdünntes Spülmittel) abreiben: Türklinken, Schubladengriffe, Fernbedienungen, Telefon, Tastatur und Handy (besonders wichtig, weil man es dauernd in der Hand hat!), Wasserhähne, Toilettenspülungstaste, Lichtschalter, Kühlschranktür, Microwellentür. Danach Handschuhe gut mit Seife waschen und trocknen lassen, danach noch mal Hände waschen, ebenfalls mit Seife und nach bewährter Manier. Also gründlich. Mindestens 20 Sekunden. (Für die Hände braucht man eigentlich gar kein Desinfektionsmittel, da reicht Seife!!!!) Ob ich die neue Handhygiene je vergessen werde? Wenn das noch monatelang so weiter geht, sicher nicht. Irgendwie ist es mir jetzt schon in Fleisch und Blut übergegangen. Mache ich ja auch schon seit sechs Wochen.

Radio Days (pixabay)

Übrigens bemerke ich mehrere auffällige Veränderungen in meinem Leben: Ich höre plötzlich Radio. Normalerweise tue ich das sonst nur im Auto, weil mich fremde Stimmen von unsichtbaren Leuten im täglichen Leben und bei meiner Arbeit am Schreibtisch stark irritieren (ich bin ein ausgesprochener Augenmensch), aber jetzt verbringe ich praktisch mehrere Stunden am Tag neben dem Radio. Es ist nicht nur der Podcast von Professor Drosten, es ist noch viel mehr. Wenn ich tief in mich hineinhorche, verstehe ich sogar, warum. Radiohören erinnert mich an meine Kindheit, an die Zeit, als wir noch keinen Fernseher hatten und mit dem Radio den Tag begannen und beendeten. „Komm, wir hören schnell noch die Nachrichten“, sagte meine Mutter. Dann waren kurz alle leise, und zum Schluss kam die Wettervorhersage. Und später „Die großen Acht“ von Radio Luxemburg mit Frank Elsner. Bei mir erlebt das Radio gerade eine echte Renaissance. Irgendwie fühle ich mich dadurch beruhigt und behütet. Wie war das noch früher? Morgens beim Frühstück, bevor mein Vater zur Arbeit fuhr, lief das Radio, auch später noch, wenn ich zur Schule ging, und außerdem immer, wenn ich krank im Bett lag. Aber dann war es nicht der große Kasten, sondern ein Transisterradio. Das entführte mich in die Welt des Kinderfunks. „Was meinst du dazu?“ fällt mir ein. Und „Kalle Blomquist, der Meisterdetektiv“ (da kann ich sogar noch die Erkennungsmelodie singen!). Und die Stimme von Peter René Körner! An den habe ich schon ewig nicht mehr gedacht.

Mein Mann hört immer viel Radio, für ihn ist das jetzt nichts Besonderes, aber ich schaue eigentlich viel lieber fern. Ich bin ein echter Film-Junkie. Auch ein echter Serien-Junkie, seufz. Jetzt stelle ich mit einem Mal erstaunt fest, wie gut und interessant das Radioprogramm ist! Und wie sehr ich mich im Moment genau dort unmittelbar und gut informiert fühle. So höre ich nicht nur täglich im NDR den informativen Drosten-Podcast, sondern habe rein zufällig auch im WDR etliche gute Sendungen gefunden, z. B. eine ausgezeichnete Sendung über Hermann van Veen. Bei KiRaKa. Ich hatte glatt vergessen, wie angenehm seine Stimme ist. Und wie schön seine Lieder. Danke, WDR! Auch die Nachrichten höre ich jetzt alle paar Stunden. Komischerweise fühlt sich das sehr viel unmittelbarer an als das Fernsehen, und die „Tagesthemen“ und das „Heute Journal“ kommen ja erst so spät. Die schaue ich mir auch beide an. Schade, dass die „Heute Show“ nicht jeden Abend den Abschluss bildet, dann hätte ich wenigstens was zu lachen. So liest mir mein Mann (er hat eine wunderbare Stimme, eigentlich hätte er Radiosprecher werden sollen) im Moment „Winnie the Pooh“ vor. Das brauche ich, um runterzukommen. Vorher hatten wir „Karlsson vom Dach“.

Auch die Ansprache von Angela Merkel habe ich mir gestern bewußt zuerst im Radio angehört und erst dann „richtig“ im Fernsehen. Meine Gefühle waren dabei so ähnlich wie bei „The King’s Speech“. Es war ein historischer Moment. Das hat sie noch nie zuvor getan. Sie sprach einfühlsam, unaufgeregt, klar und für ihre Verhältnisse erstaunlich emotional. Ich war und bin beeindruckt. Leider werden viele Menschen ihren dringenden Appell nicht befolgen. Auch heute haben sich wieder hunderte Jugendliche am Rheinufer versammelt und Coronafeiern abgehalten. Es ist einfach nur noch zum Heulen und wird zu Ausgangssperren führen. Wir sind offenbar immer noch nicht reif und mündig genug, um in dieser historischen Ausnahmesituation Vernunft walten zu lassen und Rücksicht aufeinander zu nehmen. Ich wünsche mir, die „Partymacher“ würden den verzweifelten Bericht der jungen New Yorker Ärztin lesen, den ich heute gefunden habe: „The Sky is falling!“ Doch antiphobisches Verhalten ist nicht neu. Es gab auch schon wilde Feste währen der Pestepidemien. Aber das waren eher Totentänze. Tanzen auf dem Vulkan muss ein ganz besonderer Thrill sein, den ich nicht nachvollziehen kann.

Wie im Rest von Köln und in vielen anderen Städten (besonders eindrucksvoll schafft man das in Italien!) gab und gibt es auch hier im Westen abendliche „Klatschaktionen“ als Dank an die Menschen, die „den Laden am Laufen halten“, immer um 21:00 Uhr. Von der ersten habe ich zu spät erfahren, die zweite habe ich durch einen wichtigen Anruf verpaßt. Aber an der breiten Aachener Straße hätte sich mein Klatschen ohnehin sekundenschnell „versendet“. Für Sonntag, den 22. März ist um 18:00 Uhr eine Art kollektives Musikkonzert geplant, doch selbst dazu werde ich an der Aachener Straße nicht viel beitragen können. Kein Instrument wäre hier laut genug. Damit man mich irgendwie bemerkt, müsste ich wohl riesige Leuchtkugeln in den Himmel schießen. Mal sehen, wie es heute Abend wird. Noch ist nicht 21:00 Uhr.

Seifenblasen (pixabay)

In diesen Tagen fällt es mir schwer, mich beim Schreiben auf „Unpandemisches“ zu konzentrieren. Mein Roman pausiert daher erst mal. Merkwürdigerweise habe ich während der SARS-Krise (2003) ein ganzes Buch geschafft, in dem meine Romanfamilie im Belgischen Viertel sogar eine Woche in Quarantäne verbringen musste. Sie hatten damit argen Stress, denn der Vater hatte im selben Flieger gesessen wie der SARS-infizierte Arzt, und seine beiden Töchter fürchteten, dass er sich angesteckt haben könnte. Ich habe mir schon überlegt, ob ich meine Familie nicht einfach wiederaufleben lassen soll, denn sie fehlt mir schon seit langem und ich würde gern wieder mehr Zeit mit ihr verbringen (außerdem hege ich insgeheim tiefe Gefühle für Martin, den amerikanischen Vater). Vielleicht versuche ich in den nächsten Tagen, mit ihnen Kontakt aufzunehmen. Wenn sie Lust dazu haben, was ich sehr hoffe.

Aber zuerst möchte ich mir noch die verpassten Podcasts von Christian Drosten anhören. Ich habe erst bei Folge 10 angefangen, heute war Folge 17. Inzwischen kann man sich auch die Scripts herunterladen oder im Computer lesen, und die NDR-App schickt mir morgens und abends die neuesten Meldungen aufs Handy. Genau wie der Newsletter des Kölner Stadtanzeigers speziell für die Lage vor Ort (Stadt mit K). Heute habe ich auch zum ersten Mal von der wohl aktuellsten Infoseite über die Corona Verbreitung gelesen. Sie heißt ncov2019live und wird von einem hochbegabten 17jährigen namens Avi Schiffmann in Seattle betrieben, der schon in einem Alter zu programmieren begonnen hat, in dem andere gerade erst anfangen zu lesen. (Sein Name klingt ein bisschen, als wäre er aus dem Roman „Die Lügnerin“, dem letzten Buch für die Stadt. Hab ich damals ausführlich im Literaturkreis besprochen. (der Literaturkreis fällt jetzt leider aus.)

Hummelchen (pixabay)

Draußen bleibt es frühlingshaft mild. Die ersten Hummeln habe ich im Garten gesichtet, die Vögel scheinen schon mit ihrem Nestbau zu beginnen, gestern habe ich den Rasen gemäht (natürlich ganz hoch eingestellt, damit er nur ja keinen Mähschock bekommt). Auch einen wirklich magischen Moment habe ich erlebt: Heute flogen schreiende Wildgänse hoch am Himmel über mich hinweg. Ihr Anblick rührt mich sowohl im Frühjahr als auch im Herbst zu Tränen. Irgendwie wecken diese Vogelzüge ein uraltes archaisches Bild in mir auf. Wie viele Generationen von Menschen haben diese eindrucksvollen Züge wohl schon beobachtet? Und sehr wahrscheinlich sind ihnen dabei auch Schauern über den Rücken gelaufen. Auch mit Fischfüttern habe ich jetzt angefangen, denn es gibt viele neue Fischbabys.  Hoffentlich kommt der Reiher nicht und frißt sie sie mir alle an einem Tag weg. Es gibt einen gewissen Reiher, der auf den Kölner Westen spezialisiert ist. Meine Freundin in der Bahnstraße kennt ihn auch bestens. Er hat uns beiden schon mehrfach den Teich leer gefischt, und ich habe ihn auch schon mal ganz aus der Nähe fotografiert. Er ist riesig! Sehr schön eigentlich, aber auch sehr hungrig.

Kirchenglocke (RoyBuri/pixabay)

Übrigens läuten jetzt täglich um 12:00 in Köln die Glocken zum kurzen Gebet, ebenfalls um 19:30. Auch das erinnert mich an etwas. Früher läutete in unserem Dorf die Kirchenglocke, wenn jemand gestorben war. Dann hielten die Menschen kurz inne, und meistens wußten sie auch, wer da gerade gestorben war. Es war ein kleiner Ort, in dem jeder jeden kannte. Die alten Frauen begannen dann, zu Maria zu beten. Glockenläuten ist für mich immer noch extrem emotional besetzt. Vielleicht gehe ich morgen Mittag und Abend kurz nach draußen und höre den Glocken zu. Schade, dass ich nicht mehr gegenüber von St. Michael im Belgischen Viertel wohne. Wie meine Buchfamilie, die mir gerade so fehlt, dass es fast schon weh tut. Vielleicht gehe ich morgen um 12 und 19:30 kurz an die Straße. Das Glockengeläut müsste ich eigentlich hören. Und vielleicht kommen noch mehr Menschen an die Straße und wir können uns zuwinken.

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