Der Sprung ins Netz

(merakist/unsplash)

Hoffentlich kippt die Stimmung nicht! Gerade hatte ich nach meinem kühnen Vollsprung mitten ins Netz angefangen, mich virtuell etwas wohler zu fühlen. Doch in einigen Foren und Gruppen wird der Ton schon gereizter, es wird vorschnell und heftig auf Posts reagiert, beschimpft und getrollt, und das führt zu Aufregung und unnötigen Missverständnissen. Einige hängen bereits an der Decke, bevor sie die Beiträge überhaupt gelesen haben. Ich merke, wie ich zurückzucke. Bei Aggressionen bin ich dünnhäutig. Ich habe beschlossen, nicht mehr (wie in den Anfangstagen von Corona) mehrmals täglich den überquellenden Gruppenabschnitt des Netzes zu besuchen. Lieber treffe ich „enge Freunde“ bei facebook, in deren Gegenwart ich entspannen kann. Mehrere „Bekannte“ habe ich aus Selbstschutz aus meiner Freundesliste entfernt. Es ist mir nicht leicht gefallen, aber anders ging es nicht. Wahrscheinlich wird es dabei nicht bleiben. Zum Glück habe ich im realen Leben meinen Mann, der nicht mal durch Corona aus der Ruhe zu bringen ist. Vielleicht liegt das daran, dass er Virologe ist? Er ist die hoffnungsvolle menschliche Oase in meiner Social Distancing Wüste.

(Sara Kurfess/unsplash)

Mir fällt auf, dass viele Leute jetzt mehr telefonieren und (noch häufiger als sonst – ja, das geht!) whatsappen. Sogar ich. Es ist schön, schnell nachfragen zu können, wie es Freunden und Verwandten geht, und sich auch um Bekannte, mit denen man normalerweise nicht ständig in Kontakt steht, zu kümmern. In diesen Tagen geht mir so viel durch den Kopf. Der vor kurzem verstorbene Dieter Höss pflegte zu sagen: „Erst wenn wir im Dunkeln sitzen, geht uns ein Licht auf“. Da ist was dran.

Normalerweise telefoniere ich höchst ungern und muss mich überwinden, zum Telefon zu greifen, aber in den letzten Tagen sind meine Widerstände deutlich geringer geworden. Es tut gut, reale Stimmen zu hören, genauer nachzufragen und zu erfahren, wie es dem anderen jetzt wirklich geht. Mein Mann bekommt vermehrt Anrufe von ehemaligen Mitarbeitern und Weggefährten, von denen er jahrelang nichts gehört hat. Was ihn freut. Wer mit viel Zeit zu Hause sitzt, macht weite Ausflüge in die Vergangenheit. Das äußere Social Distancing führt offenbar auf der inneren Ebene die Menschen enger zusammen. Sprachnachrichten versende ich nach wie vor höchst ungern, bekomme aber gern welche von lieben Menschen, die damit keine Probleme haben und nicht so gern schreiben. Keine Ahnung, warum ich es hasse, in mein Handy zu sprechen. Möglicherweise erinnert es mich an das schreckliche Gerät, in das ich jahrelang meine medizinischen Fachübersetzungen diktieren musste. Was ich noch beobachte: Familien rücken (das geht auch aus der Ferne) wieder oder noch näher zusammen, längst vergessen geglaubte Freunde fallen einem plötzlich wieder ein und man fragt sich, ob es ihnen gut geht. Wie wunderbar, dass wir heute die Möglichkeit haben, auch „verlorene“ Freunde im riesigen Netz wiederzufinden. Wie trostlos muss das bei früheren Seuchenausbrüchen gewesen sein!

Radio mouse house in Tennessee

Instagram macht mir weiterhin Freude. Wenn die Bilder nur nicht so schnell wieder verschwinden würden, aber es gibt ja zum Glück die Option, sie zu speichern, und auch eine eigene Messenger-Funktion. Ich bin noch nicht sehr lange auf Insta, daher meistere ich auch noch nicht alles auf Anhieb. Mir gefallen die fantasievollen Beiträge. Hier treffen sich Menschen (vor allem KünstlerInnen) aus aller Welt, die einander freundlich Mut zusprechen und oft auch außerhalb der Posts miteinander kommunizieren. Ob das immer so ist, weiß ich nicht. Bei Instagram habe ich gleich mehrere Seelenfreundinnen gefunden, die jetzt auch meine Facebook Freundinnen sind. Vielleicht können wir uns eines Tages sogar mal richtig treffen, das wäre schön.

Frau Milkana’s new glasses

Meine Freundin in New York hat letzte Woche „einfach so“ eine winzige Brille für meine Maus-Lehrerin Frau Milkana gemacht, die ihre ursprünglichen Augengläser leider verloren hat. Das passiert öfters bei Minis, denn die Gegenstände sind ja nur wenige Zentimeter groß. So habe ich schon etliche Zitronen und Orangen zertreten und einmal sogar einen Bund klitzekleiner Fliegenpilze aus dem prallen Staubsaugerbeutel gefischt. Das war ziemlich eklig und hat bei mir einen heftigen Niesanfall hervorgerufen, aber es war effektiv. Den Pilzen sieht man den Horrortrip in den Sauger zum Glück nicht mehr an. Polymer Clay ist sehr robust. Frau Milkanas Brille wird wohl auch in den Staubsauger geraten sein. Ob ihre neue (viel, viel schöner als die alte!) je hier ankommt, wissen wir nicht. „I cannot say when I will get to the post office, I am not even sure if the post offices are open“, schreibt mir die Brillenmacherin. Diese liebenswerte, humorvolle Frau ist nur eins der vielen Wunder in dieser abscheulichen Coronazeit. Hoffentlich bleibt sie gesund!

Kunst bei instagram

New Yorker cat with gnomes

Eine andere neue Instagram-Freundin, die ebenfalls in New York wohnt, gehört auch zur Risikogruppe, und wir tauschen täglich kurze Nachrichten aus. „How are you coping?“ Sie sorgt auch noch für ihre hochbetagte Mutter. Auch um sie mache ich mir Sorgen. Vor wenigen Wochen kannte ich sie nicht mal!

Eine quirlige junge Frau in Tennessee habe ich (ungewollt, aber gern) mit dem Mausvirus infiziert. Sie hat sich gerade die zweite Maus in Europa bestellt und baut ihr schon ein tolles Zimmer in einem alten Radio. Außerdem hat sie mir lauter schöne kleine Stoffstücke mit Minimustern geschickt. Und dann sind da noch die drei jungen Mauskinder, die bei meiner vierten neuen Freundin in Norwegen ungeduldig darauf warten, sich auf die Reise zu mir ins Mausland zu begeben. Ob und wann sie wohl hier ankommen? Überhaupt die Mäuse!

Auf Facebook und Instagram versuche ich, Kinder aller Altersklassen (es gibt echt mehr erwachsene Kinder als man denkt) damit zu trösten. Ich habe mir schon überlegt, ob ich als Krisenintervention nicht abends auch noch ein Gute-Nacht-Bild einstellen soll. Zwei Fotos am Tag mit Text ist zwar etwas Arbeit, und leider hat mein „Clean up“ Programm grade die meisten meiner Bilddateien zerstört, weil ich nicht aufgepaßt habe. Jetzt haben sie alle leer, haben „keinen Inhalt“ mehr, und ich muss gucken, wo die Originale sind. Auf irgendeinem Kamera-Chip, klar, aber auf welchem?

(Kleiner Nachtrag: Dem Supernetz sei Dank habe ich die meisten Bilder sicherheitshalber auch bei google Fotos gelagert, doch das fiel mir erst letzte Nacht ein, als ich mal wieder nicht schlafen konnte. Das hat mich gleich so entspannt, dass ich eingeschlafen bin. Wenn nur dieser schreckliche Alptraum nicht gewesen wäre und mich wieder geweckt hätte. Die grausigen Details erspare ich Ihnen lieber. Es ging um meine Katze, was mich zuverlässig sofort schockweckt.

Vitalfunktionen (unsplash)

Bei Twitter bin ich (noch) nicht, aber Messenger und Whatsapp lerne ich grad richtig schätzen, weil ich damit in Sekundenschnelle Freundinnen in Frankreich, Verwandte in England,  Freunde und Bekannte in den USA, Neuseeland, Kenia oder Japan erreichen kann. Das Netz ist in dieser Hinsicht genial, auch wenn es im Moment schwer verlangsamt ist, weil immer mehr von uns dauernd hineinspringen. Hoffentlich schmiert mir das Internet nicht ab! Lästig ist der Netzverlust leider immer, weil ich ein Internet Junkie bin und den freien Zugang für meine Arbeit dringend brauche, aber im Moment wäre der Verlust schier unerträglich. Ohne WLAN geht hier nämlich gar nichts. Nicht mal das Telefon.

Vorgestern habe ich selbst netzmäßig überreagiert. Jemand postete, es dürfe im Veedel ab sofort abends keine Musik mehr von den Bläck Fööss gespielt werden. Die Band habe das verboten. Die Nachricht zog mich runter, der Tag war gelaufen. Das gemeinsame Lied am Abend, auch wenn wir hier nur extrem wenige sind, gehört für mich irgendwie zum Corona-Zustand dazu, auch wenn es meistens blöd ist, mitten im Fernsehprogramm oder beim Essen hoch zu rasen und sich auf den kalten Balkon zu stellen. Vorgestern sind (weit, weit weg) fünf neue Schatten dazugekommen, die auch einsam die Handy-Taschenlampe durch die Nacht schwenkten. (Gestern waren wir aber leider wieder allein mit unserem unsichtbaren DJ nebenan.) Die Nachtlieder sind tröstlich. Ich beschloss daher, die Bläck Fööss persönlich um Erlaubnis zu fragen (facebook macht’s möglich), hatte aber nicht ernsthaft damit gerechnet, dass sie antworten würden. Taten sie aber: „Hallo liebe Beate, was für eine Frage. Natürlich, sehr gern. Es tut gut zu wissen, dass auch unsere Lieder für viele von Euch eine kleine Hilfe sind, um die aktuelle Situation zu meistern. Bleibt gesund. Viele Grüße.“ Ich wußte ja immer, dass die Bläck Fööss super sind!

(William Iven/unsplash)

Als ich las, dass man in Montreal nachts Lieder von Leonard Cohen singt, hätte ich mich am liebsten sofort dorthin gebeamt. „So long Marianne“ stand vorgestern auf dem Programm. NEID! Das Lied kann ich komplett auswendig!

Menschen, die normalerweise immer in Bewegung sind und beneidenswert viele soziale Kontakte haben, tun sich deutlich schwerer mit Social Distancing, und in meinem Umkreis manifestieren sich auch schon erste Depressions- und Hüttenkoller-Symptome. Es muss schlimm sein, wenn man gezwungen ist, mit nervigen Verwandten oder komplizierten Partnern (von denen man sich schlimmstenfalls vielleicht sogar trennen wollte) Tag und Nacht zusammenhockt. Da liegen rasch die Nerven blank. Wie es ist, eingesperrt mit übergriffigen Eltern oder Partnern zusammenzuleben, mag ich mir gar nicht vorstellen. (In China soll die häusliche Gewalt während der Corona-Krise um 30% zugenommen haben, und das betrifft nur die Frauen!) Oder wie es ist, krank, unversorgt und mutterseelenallein in der Wohnung zu liegen. In Spanien hat man in einem Seniorenheim die hilflosen alten Leute einfach liegen und sterben lassen und ist Hals über Kopf geflohen. Hier bei uns gibt es bisher noch keine Zunahme der häuslichen Gewalt, lese ich. Hoffentlich stimmt das. Wenn der übergriffige Mensch neben einem sitzt, wird man kaum wagen, die Polizei zu rufen. Von den armen Kindern ganz zu schweigen. Die können sich nicht mal wehren.

Gestern hörte ich im Radio, dass uns ein Pflegenotstand droht, weil die vielen, vielen (oft illegalen) Betreuungskräfte aus Ostdeutschland jetzt alle das Land verlassen (was ich sehr gut verstehen kann) und viele betagte Pflegefälle nicht mehr zu Hause versorgt werden können. Aber wo sollen sie hin? Viele Kinder können oder wollen ihre Eltern nicht zu sich nehmen, und jetzt Heimplätze zu organisieren, dürfte extrem schwer sein. Neue Pflegekräfte rücken wegen der Grenzkontrollen nicht mehr nach. Wie mag sich das alles für einen dementen, gelähmten, verwirrten, bettlägrigen, schmerzgeplagten, tauben oder blinden alten Menschen anfühlen? Ich habe eine Tante von über 90, die in einem Heim lebt und die man jetzt nicht mehr besuchen kann. Sie hört absolut gar nichts, und man muss alles aufschreiben, was man ihr sagen möchte. Wer macht sich schon die Mühe? Wie empfindet sie es wohl, wenn sie plötzlich von Menschen mit Mundschutz versorgt wird? Sie hat den Krieg noch erlebt, wahrscheinlich ist das für sie der pure Alptraum. Ich muss da heute unbedingt anrufen.

My Fairy Thorn (BFL)

Wie gut, dass meine Eltern das nicht mehr erleben. Draußen am Teich steht schon seit Jahren ein rotes Grablicht für sie. Der Friedhof ist unerreichbar weit weg, und ich habe ohnehin das Gefühl, dass sie hier bei mir sind und nicht in dem häßlichen Grab. Die Mönchsgrasmücke singt auch wieder, was ich als gutes Zeichen deute. Vor allem in der Nähe meines „Fairy Thorns„. Das ist der Weißdornstrauch, an den ich meine Wünsche in Form von Bändern hänge. Es werden täglich mehr. Ich hoffe, meine Zauberversuche helfen….

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