Pandemischer Jahresrückblick

Amsel (pixabay)

Heute vor genau einem Jahr (zwei Tage zuvor hatte die WHO die Pandemie ausgerufen) schrieb ich hier auf meiner Seite: „Über 4.200 Menschen sind bereits an der Erkrankung gestorben.“ Weltweit, wohlgemerkt. In Köln gab es damals gerade mal 61 bestätigte Krankheitsfälle, und die Quarantänefälle lagen noch unter 200. Und die meisten von uns machten sich Sorgen. Wie anders sieht es jetzt aus. Bis heute wurden allein in Köln 35.433 Fälle gemeldet, aktuell infiziert sind 1.658, verstorben 552. Morgen vor einem Jahr wurden zum ersten Mal jegliche Veranstaltungen im Stadtgebiet untersagt, auch die Gottesdienste.

Ich kann kaum fassen, wie sehr sich die Welt in den wenigen Monaten verändert hat. Wieder ist März, wieder nähert sich zuverlässig der Frühling, die Amseln singen schon morgens und abends, bald wird es wärmer, auch wenn es heute stürmisch ist und zwischendurch sogar Hagelkörner herunter prasselten. Die ersten Knospen erscheinen an den Zweigen, die Wacholderdrossel kommt neuerdings zum Frühstück, die Zugvögel kehren zurück. Heute Morgen um gab es als wetterliche Zugabe sogar noch einen richtig lauten Donnerschlag.

vaccine (hakan nural/unsplash)

Heute vor einem Jahr befanden wir uns am Beginn der ersten Welle, verunsichert bis ungläubig, fühlten uns soldarisch und hilfsbereit. Sangen gemeinsam um 9 Lieder. Vorbei. Heute singt und klatscht kein Mensch mehr. Pandemiemüdigkeit. Damals trugen wir noch keine Masken, konnten uns nicht mal vorstellen, mit den unbequemen Lappen vor dem Gesicht herumzulaufen. Die ersten Hamsterkäufer räumten die Klopapierregale leer, als könnten sie mit den weißen Rollen ihr Leben retten. Darüber lächeln wir heute. Wir haben viele neue Wörter gelernt, hören Podcasts, sind wahre Impfstoffspezialisten, kennen mindestens fünf bekannte Virologen und sehen zu, wie die Menschheit in immer mehr kleine Gruppen zerfällt. Und jede hat ihr eigenes Kürzel und wehe, man nimmt ihr was weg. Ich sehne mich zurück nach der Zeit, als das wichtig war, was wir gemeinsam hatten, und nicht das, was uns trennt und unterscheidet.

Gerade stehen wir vor der dritten Welle und schauen mit bangem Blick auf Ostern. Heute denken wir in Millionen. Weltweit gibt es 119.187.414 (bekannte) Fälle (ohne Dunkelziffer), 67.491.954 Menschen sind genesen (was immer das bedeutet, das ganze Ausmaß der Katastrophe ist noch nicht sichtbar), 2.641.707 sind gestorben. Zum Glück gibt es in Deutschland bereits drei zugelassene Impfstoffe (in einigen anderen Ländern sind es noch mehr), auch wenn die Impfungen nur sehr schleppend voranschreiten und sich bei einem der Impfstoffe die Probleme häufen. Gerade heute wurde wieder ein Lieferengpass verkündet. Wir kommen nicht weiter mit den Schutzimpfungen. Deutsche Gründlichkeit und suboptimales Krisenmanagement sind keine gute Kombination. Die Impfstoffe sind zwar ein Hoffnungsschimmer und eine wahre medizinische Hochleistung, aber leider gibt es auch bereits mehrere gefährliche und hochansteckende Virusmutationen aus Südafrika, Brasilien und aus dem Vereinigten Königreich. Sie sind längst auch schon bei uns. Besonders B 1.1.7, momentan ist sie bereits für 50% der Fälle verantwortlich.

Masked  (Engin Akyurt/unsplash)

Letzten März wußten wir noch sehr wenig über dieses Virus und seine Tücken. Dass es so viele Bereiche unseres Körpers schädigen kann, uns (oft leider nicht nur vorübergehend) komplett die Sinne rauben kann, dass selbst milde Verläufe üble Folgen haben können, manchmal erst Monate später, und dass Genesene eher Überlebende sind. Das wirtschaftliche Ausmaß dieser Katastrophe ist noch gar nicht absehbar. Heute wissen viele von uns, wie es sich anfühlt, plötzlich nichts mehr riechen und schmecken zu können. Wochenlang. Wochen voller Unsicherheit und Angst. Und wie es sich anfühlt, auch nach Monaten noch urplötzlich in eiskalten Schweiß gebadet dazustehen, ohne dass einem warm ist oder man Stress hat, einfach so. Dass einem büschelweise die Haare ausfallen. Das Herz rast wie ein Rennpferd. Wie es sich anfühlt, tagelang so schmerzende Fingergelenke zu habe, dass man keinen Stift mehr halten kann, oder sich so matt und kraftlos zu fühlen, dass man nur noch liegen und vor sich hindämmern kann. Wie bei Jetlag (das verstehen die meisten), nur schlimmer. „Dann mußt man sich eben zwingen!“ oder „Du musst dich zusammenreißen“ sind gut gemeinte Sätze, helfen aber nicht. Hier stellt sich keiner an, das ist traurige, kräfteraubende Realität.

Eine derartige Losigkeit kannte man bisher höchstens bei Depressionen. Kraftlos, motivationslos, zuweilen hoffnungslos. Hört das denn nie auf? Auch nach einem Jahr nicht? Heute gibt es so viele Long Haulers, heute gibt es Long Covid, Post Covid, Chronic Fatigue. Es gibt Brain Fog (Nebel im Kopf), jähe neurologische Aussetzer, bei denen man voll Schrecken seine eigene Adresse nicht mehr weiß, sich in Wörtern verheddert oder sie nicht mehr findet und sich nicht mehr konzentrieren kann. Tage, an denen man in der Küche oder im Keller steht und nicht weiß, warum. Vor Verwirrung und Schrecken zu weinen beginnt. Das passiert auch jungen Menschen, ganz ohne Altersdemenz.

Es gibt großartige Gruppen wie „AbScent“ (ein englischsprachiges Forum), die sich mit den Folgen von Anosmie, Parosmie und Phantosmie beschäftigen, in denen die Betroffenen Halt und Trost finden. In denen sie aufgefangen und verstanden werden. Mit Nichtbetroffenen können sie sich über ihren Kummer kaum unterhalten. Die Reaktionen sind allzu oft unsensibel und verletzend. „Sei froh, dass du nur einen milden Verlauf hattest.“ Ja, ist man, aber man leidet trotzdem an Folgeerscheinungen. Oft sind sie so schlimm, dass man nicht mehr arbeiten kann. Nicht mehr Sport treiben kann. „Nichts riechen? Das hab ich nach jedem Schnupfen.“ Sie wissen nicht, wovon sie reden. „Du kannst nichts mehr schmecken? Das könnte ich auch mal brauchen, dann würde ich wenigstens ein paar Kilo abnehmen.“ Und dabei lachen sie. „Es wird meiner Meinung nach sowieso viel zu viel Tamtam um das Ganze gemacht.“ Was sie nicht wissen: Den Zustand wünscht man nicht mal seinem schlimmsten Feind.

apple (iamcristian/unsplash)

apple (iamcristian/unsplash)

In Selbsthilfeforen teilen Betroffene ihre großen und kleinen täglichen Erfolge: „Heute zum ersten Mal nach vier Monaten wieder Kaffee geschmeckt, ohne zu würgen!“ „Ich bin so froh, endlich kann ich wieder Bananen essen!“ Oder die Trauer darüber, was alles nicht mehr geht. „Jetzt hab ich auch noch Äpfel verloren.“ „Ich kann nicht aufhören zu weinen, alles stinkt nach Covid.“ „Covid“ riecht extrem scheußlich, chemisch, eklig. Und die anderen Fehlgerüche und Halluzinationen. Es gibt Betroffene, die sich beim Versuch zu essen regelmäßig übergeben, die nur noch Nahrung zu sich nehmen können, wenn sie sich eine Klammer auf die Nase setzen, wie Taucher sie benutzen, weil sie sich sonst ekeln, weil alles nach Jauche oder faulig riecht. Ranzig und verdorben schmeckt. So viele Menschen entwickeln gerade Essstörungen, Depressionen, Ängste. Wenn alles nur noch nach Zigaretten, Aas oder Gas riecht, auch die eigenen Kinder, Partner oder Haustiere, das eigene Haus und überhaupt die ganze Welt, dann sehnen sich einige sogar zurück in den Zustand des Gar-nichts-Riechens, auch wenn der Zustand ein Alptraum war, weil man sich in so einer leeren Welt nur schlecht zurechtfinden kann. Besonders Verzweifelte überlegen sogar, ob sie sich den Riechkolben operativ entfernen lassen sollen und lieber für immer ohne Geruchssinn bleiben, nur damit die scheußlichen Halluzinationen aufhören. „Ich ertrage das einfach nicht mehr.“ Die Menschen im Forum verstehen das. Die anderen nicht. Sie können es sich nicht vorstellen. „Jammern auf hohem Niveau. Seid froh, dass ihr nicht im Krankenhaus wart und beatmet werden musstet.“ Es stimmt. Und wir sind auch dankbar. Und fühlen uns schlecht und schuldig, weil wir klagen. Doch wenn die Welt stinkt und einem die Gelenke weh tun, wird man jammerig. Überlebensschuld haben wir sowieso. Warum tötet das Virus so viele und verschont andere? Es ist alles so willkürlich.

Lavendel (elly johnson/unsplash)

In Brasilien explodieren wieder die Fallzahlen, kein Wunder bei dem Präsidenten, Italien steht erneut vor einer Katastrophe. Irgendwie haben wir das Jahr überlebt, haben versucht, uns so gut es geht zu schützen, haben erfahren, wie schlimm es ist, voneinander getrennt zu sein.  Für viele lange Monate. Haben uns damit abgefunden, einander über ein Jahr nicht mehr „richtig“ zu sehen oder in den Arm nehmen zu können (wie gut, dass es Zoom und Skype und WhatsApp gibt). Wir entwickeln mitunter merkwürdige Störungen, werden zunehmend eigenbrötlerischer. Vereinzeln und verlernen das Lächeln. Man sieht den Mund ja eh nicht mehr. Schrecken zusammen, wenn wir Filme sehen, in denen Menschen in großen Gruppen auftreten. (Oh Gott, die halten ja gar keinen Abstand! Und keine Masken!) Ich erschrecke selbst im Traum, wenn jemand mir zu nahe kommt. Obwohl ich weiß, dass ich träume!

yellow flower (engin akyurt/unsplash)

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