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Beim Aufräumen meiner Schubladen fiel mir heute unvermittelt ein alter vergessener Brief meiner Kinderfreundin Kornelia in die Hände, in dem sie mir von ihrem Aufenthalt im „Kinderkurheim“ (was für ein Wort, wenn man unsere Qualen bedenkt!) berichtet. Aus dem Heim selbst hat sie mir offenbar nicht geschrieben, warum auch, sie hätte eh nicht die Wahrheit schreiben können, denn es wurde ja alles zensiert. Und Kornelia hat Lügen immer gehaßt. Ich weiß leider nicht mehr, wohin man sie damals „verschickt“ hat, sie war, soweit ich mich erinnere, sogar zweimal „in Kur“. Meine Reaktion auf diesen Brief werde ich jetzt bewußt auch nicht zensieren und ganz gegen meine Gewohnheit genau das aufschreiben, was mir gerade durch den Kopf geht.
Wie hart wir damals im Nehmen waren, sieht man an dem lakonischen „im Kinderkurheim war es so mittelmäßig“. Mittelmäßig? Zwei Wochen krank mit schmerzendem Hals im Bett, weit weg von daheim und natürlich ohne tröstende Betreuung und Besuch, und dann auch noch eine Woche Brechen nach dem Essen? Es klingt so gar nicht dramatisch, wie sie das schreibt. Schon eher ziemlich stoisch.
Wie würden das wohl heutige Kinder bewerten? Und würden Eltern auch heute noch ihre Kinder sechs endlose, ewig lange Wochen ohne Kontakt und Besuchsmöglichkeit so einfach in irgendein Heim mit völlig unbekannten BetreuerInnen irgendwo in die Berge oder ans Meer schicken? Bestimmt nicht. Aber heute gibt es ja auch WhatsApp und Handys, was es mehr oder weniger unmöglich macht, Kinder von ihren Familien völlig zu isolieren. Und die meisten Helikoptereltern stünden sicher schon am ersten Abend auf der Matte.
Als ich Kornelias Brief las, wurde ich wieder einmal richtig sauer auf die Erwachsenen, die uns damals so gepeinigt haben. Es war wirklich ein gut funktionierendes System, dem wir da ausgeliefert waren. Kornelia war zu dem Zeitpunkt übrigens neun Jahre alt.
Sie schreibt nichts über die Berge oder das Meer. Nichts über andere Kinder oder schöne Stunden oder Unternehmungen. Vielleicht gab es für sie keine. Freundschaften sah man in der Kur nicht gern, engere Kontakte wurden in der Wurzel erstickt. Offenbar hat Kornelia sich die Mühe gemacht, genau herauszufinden, wie dieser besondere Gries, der sie so nachhaltig beeindruckt hat, zubereitet wurde. Das passt zu ihr. Sie ging den Dingen schon als Kind gern auf den Grund. Das Essen, das sie dort bekam, entsprach sicher genau dem üblichen lieblos zubereiteten Fraß, den man uns in diesen sogenannten Kinderkurheimen damals vorgesetzt hat. Ich denke an die großen übervollen schwappenden Teller mit Nußeckensuppe (Reste vom Vortag in Rinderbrühe) und Schokoladenpuddingsuppe (warm, viel zu viel und mit Haut) und an den dünnen Kinderkaffee, bei dessen Geruch mir morgens sofort ganz anders wurde (der ganze Speisesaal roch danach), vor allem aber an die beiden Scheiben Sülze, die in Niendorf sechs Wochen lang jeden (wirklich jeden!) Morgen drohend auf meinem Teller lagen und die ich jeden (wirklich jeden!) Morgen aufs Neue irgendwie los werden musste, denn essen konnte ich sie unmöglich ohne mich zu übergeben. Ich sehe mich gerade als dünnes sprachloses Kind den Tränen nah vor dem langen Tisch im Speisesaal stehen und habe das Riesenbedürfnis, mich tröstend in die Arme zu nehmen und so schnell wie möglich an den Strand zu tragen. Bis heute rühre ich weder Nußecken noch Sülze an.
Aber auch Kornelias Kur war offenbar erfolgreich, denn es zählten schließlich nur zwei Dinge: wir hatten die dringend nötige Luftveränderung gehabt und, das Wichtigste, wir hatten zugenommen. Bis heute kann ich mir nicht erklären, wie das bei diesem Essen überhaupt möglich war.

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