Hochsensibel

„Von wegen Mimose“

Es hat lange gedauert, bis ich meine Hochsensibilität nicht nur als Schwäche, sondern auch (und inzwischen sogar vor allem) als Stärke empfinden konnte. Hochsensibilität oder Hochsensitivität ist weder eine Krankheit noch eine Störung, sondern eine offenbar genetisch bedingte persönliche Eigenheit. Der Begriff ist meiner Meinung nach allerdings etwas unglücklich gewählt, denn er richtet die Aufmerksamkeit vor allem auf die psychische Ebene, dabei ist der GANZE Mensch mit all seinen Sinnen betroffen. Hochsensible „ticken anders“, sie denken und fühlen anders, sie sehen und hören anders. Etwa 15-20% aller Menschen (und zwar beiderlei Geschlechts!) sind hochsensibel. Auch Tiere können übrigens hochsensibel sein. In einer Antilopenherde gibt es z.B. immer ein paar Tiere, die besonders feine Sinne haben und nahende Gefahr schon wittern oder hören, wenn alle anderen noch friedlich grasen. Leider können die feinsinnigen Wächter die Zeichen natürlich auch falsch deuten und einen Fehlalarm auslösen – und schon kommt es zur Stampede. Eins meiner vielen Tiere (auf meiner Katzenseite habe ich Sam näher vorgestellt) war auch hochsensibel und ein wahrer Seismograf für meine Emotionen. Wenn ich Stress hatte, wurde mein Kater krank. Was mir dann noch mehr Stress machte. Und ihn noch kränker. Ein Teufelskreis, den ich lange nicht verstand.

Viele Hochsensible fühlen sich wie befreit, wenn sie anfangen, ihre Eigenart endlich zu verstehen. Das Gefühl „nicht in Ordnung“ zu sein, verschwindet. Sie sind nicht „falsch“ oder „gestört“, sondern einfach nur „anders“. Wenn man das begreift, kann man sehr viel besser mit Reizüberflutungen und negativem Stress umgehen.

Besonders geärgert hat es mich als Kind, wenn man mich als „Kräutlein-rühr-mich-nicht-an“ oder „Prinzessin auf der Erbse“ verspottet hat. Dazu kam die intensive Angst, die bei mir durch die Hochsensibilität noch gesteigert wurde. Eine Welt, die einen schon beim Aufstehen erschlägt, macht einem nun mal Angst. Und eine Fantasie, die ständig mit einem durchgeht und einen dauernd die schlimmsten Schreckensszenarien in allen Einzelheiten befürchten und durchdenken lässt, auch.

Nigella

„Du mußt dir unbedingt ein dickeres Fell anschaffen“, „Sei doch nicht so empfindlich“, „Du bist viel zu sensibel“, „Was bist du doch für eine Mimose!“, „Stell dich nicht so an“, „Das bildest du dir doch alles nur ein!“, „Mein Gott, bist du aber kompliziert!“, Was du wieder hast!“, „Warum bist du immer so komisch?“, „Lass nicht alles so nah an dich heran!“, „Sei doch nicht so nachtragend!“,  (wenn man einfach nur verletzt ist)  – die meisten Hochsensiblen wachsen mit solchen Sätzen auf. Leider kann man sich nicht so einfach ein dickes Fell wachsen lassen, wenn man dünnhäutig ist, auch wenn man es noch so gern möchte. Gerade darin liegt ja das Problem! Man muss erst lernen, sich zu schützen, abzugrenzen oder zu wehren.

Hochsensible nehmen offenbar mehr Reize und diese auch noch sehr viel intensiver wahr als andere Menschen. Ihnen ist es schnell zu laut, zu warm, zu kalt, zu aufregend, zu stressig. Bei Reizüberflutung, Multitasking oder unter Zeitdruck klinken sie gelegentlich sogar richtig aus. Lärm, laute Musik, schnelles, sprunghaftes Reden bereiten ihnen geradezu körperliches Unbehagen. Auch auf unerwartete Geräusche reagieren viele von uns auffallend schreckhaft. Einigen machen sogar „ganz normale“, für andere völlig unproblematische Geräusche wie Kauen, hörbares Atmen, Niesen oder Schlucken Probleme. Es gibt Hochsensible, die bei bestimmten Geräuschen am liebsten an die Decke gehen würden – das kann das herzhafte Beißen in einen Apfel sein, Kratzen auf Glas oder das Knispern von Kartoffelchips. Auch helles oder grelles Licht, bestimmte Farben oder Texturen, Gerüche oder Düfte, Zeitdruck und Hektik machen vielen von uns Stress. Ich musste schon mal ein Restaurant verlassen, weil ich die Lampe über dem Tisch nicht ertragen konnte, die allen anderen nicht das Geringste ausmachte. Aber meine Kopfschmerzen waren so stark, dass mir nichts anderes übrig blieb. Etliche von uns telefonieren nicht gern und sind nicht gern „unter Menschen“. Auch Small Talk macht ihnen Stress. Mir früher auch. Als ich von dem Konzept der Hochsensibilität noch nichts wußte.

Oft ist auch der Körper hochsensibel und neigt zu Allergien und Unverträglichkeiten. Ein Tropfen Alkohol in einem großen Glas Wasser genügt bei mir bereits, um unangenehme Reaktionen hervorzurufen. Kratzige Pullover? Enge Kleidung? Rollkragen? Steinchen im Schuh? Krümel im Bett? Unerträglich! Als Kind bin ich fast durchgedreht, als ich ein paar Nächte lang einen sehr leise tickenden Wecker im Schlafzimmer hatte. Ich hörte ihn auch noch eingewickelt in drei Handtücher im Schrank so laut ticken, dass ich nicht schlafen konnte. Hier im Haus habe ich vor einiger Zeit sämtliche Rohrbrüche bereits gehört, als vom Wasser nicht nichts zu sehen war.

Doch Hochsensibilität hat auch viele Vorteile: Man hört tatsächlich das Gras wachsen und die Mäuse wispern, spürt die Stimmungen und Emotionen von anderen, vernimmt Zwischentöne, die anderen verborgen bleiben, kann die feinsten Tönte, Aromen und Düfte wahrnehmen – und genießen. Auch die ausgeprägte Fantasie kann man wunderbar nutzen, wenn man sich das Katastrophisieren erst einmal abgewöhnt hat. Zum Beispiel zum Träumen oder zum Schreiben.

Inzwischen ist das Konzept der Hochsensibilität glücklicherweise recht bekannt, und viele Hochsensible können endlich verstehen, warum sie so „anders“ sind, und auch besser damit umgehen. Früher haben sich viele von uns ihrer Eigenheit „geschämt“ und sich sehnlichst gewünscht, wie die anderen zu sein. Als Kind hatte ich in vielen Situationen den Gedanken: „Bloß nicht auffallen!“ und habe verzweifelt versucht, nur ja die Erwartungen zu erfüllen, die an mich gestellt wurden, und damit für mich selbst alles nur noch schlimmer gemacht. Wenn man immer wieder versucht, sich anzupassen, kann es nämlich passieren, dass man sich selbst verliert, seine besondere, feinere, intensivere Wahrnehmungsweise verleugnet und versucht, sie durch eine fremde zu ersetzen.

„Von wegen Mimose“ ist ein autobiografisches Sachbuch mit meinen ganz persönlichen hochsensiblen Highlights und Schwachpunkten, über die ich inzwischen oft genug lachen oder zumindest lächeln kann. Bei allem Stress, den sie mir in meinem Leben schon oft bereitet hat, kann ich heute meine Eigenart endlich so annehmen und wahrnehmen, wie sie wirklich ist: als wunderschönes Geschenk der Natur.

Für mich war die Entdeckung, dass ich nicht allein bin mit meiner Eigenart, zunächst eine Überraschung. Es gibt tatsächlich noch mehr Menschen mit all diesen merkwürdigen „Macken“! Und man kann sie sogar kennen lernen und treffen! Hier in Köln und in vielen anderen Städten gibt es Hochsensiblen-Stammtische, die sich regelmäßig treffen, und im Internet findet man zahlreiche HS-Gruppen. Gemeinsam sind wir stark. Die Welt braucht gerade in diesen harten, aggressiven Zeiten hochsensible Menschen dringender denn je.

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Lesetipp: Wenn Hochsensibilität Angst macht – Artikel von mir in der DAZ

(Das Efeu-Bild oben im Header stammt von Michaela O’Malley)