Rooms and Stories – Die beiden Schwestern

Der folgende Text handelt vom Umgang mit Angst und Panik und dem Themenkreis Sterben und Tod und könnte bei LeserInnen, die selbst unter Angst leiden oder besonders einfühlsam sind, unangenehme Empfindungen auslösen.

Vor kurzem hatte ich nach langer Zeit wieder zwei Panikanfälle, der erste hat mich überwältigt, den zweiten konnte ich rechtzeitig beruhigen. Panik kommt (zumindest bei mir) so gut wie nie völlig aus heiterem Himmel, auch wenn es sich jedes Mal so anfühlt. Im Nachhinein finde ich immer die Auslöser, oft hat sich einfach nur sehr viel angesammelt oder es waren zu viele Trigger auf einmal.

Im Februar, als mein Mann im Sterben lag, hatte ich nach Jahrzehnten wieder einen schlimmen Panikanfall. Ich verlor vorübergehend die Kontrolle über mich, begann von Kopf bis Fuß zu zittern, Hals und Schultern verkrampften sich, mir war übel und meine Zähne klapperten, bis schließlich mein ganzer Körper in Aufruhr geriet und ich das Gefühl hatte, verrückt zu werden oder in lauter Einzelteile zu zerbrechen. Ich lebte schon seit Tagen in einer kaum zu ertragenden Ausnahmesituation voller Stress und Angst, hatte mich die ganze Zeit kontrollieren müssen und so gar nicht um mich selbst gekümmert. Die Panik erwischte mich an diesem Morgen plötzlich und völlig unerwartet unten im Flur. Die Palliativärztin war gerade gegangen, hatte mich an der Tür kurz in den Arm genommen und irgendetwas Nettes gesagt, was mir offenbar den Rest gab, weil es so mitfühlend war und damit meinen emotionalen Schutzpanzer durchbrach. Jetzt ging gar nichts mehr, und ich hatte Angst zusammenzubrechen. Mein Mann war zum Glück nicht allein, ich brauchte also nicht sofort nach oben zu gehen. Ich schleppte mich zum Küchentisch, hätte am liebsten geheult wie ein Wolf, doch ich wollte auf keinen Fall, dass Jan meine Verzweiflung mitbekam. Wahrscheinlich konnte er das in seinem Zustand gar nicht mehr, aber was, wenn doch? Sterbende können offenbar bis zum Schluss gut hören, und das menschliche Gehirn ist selbst Minuten nach dem Tod noch hochaktiv, wie man vor kurzem herausgefunden hat. Das unkontrollierbare Zittern erschreckte mich, aber ich erkannte es wieder, das letzte Mal hatte es mich als junge Studentin erwischt, nicht ganz so dramatisch, aber damals war ich auch nicht so verzweifelt und einsam gewesen wie jetzt. Auch damals befand ich mich allerdings in einer Ausnahmesituation, mein erster Freund hatte sich vor kurzem auf sehr unsensible Weise von mir getrennt, und ich fürchtete, die Trennung nicht zu überleben, was natürlich Unsinn war. Das fürchtete ich offenbar gerade wieder. Wenn Jan stirbt, sterbe ich auch! Der Gedanke war mir oft durch den Kopf geschossen in den letzten Tagen.

In meinem Buch „Hasenherz und Sorgenketten“ habe ich jenen ersten Zitteranfall in dem Kapitel „Espenlaub“ beschrieben. Doch das fiel mir erst wieder ein, als ich mich beruhigt hatte. Damals hatte mich das große Beben in der Uni erwischt, ich war wie vom Blitz getroffen und zu Tode erschrocken. Ich sehe mich noch genau: Ich stand am Getränkeautomaten, meine Hände gehorchten mir nicht mehr und der Becher fiel mir sofort aus der Hand. Die Umherstehenden starrten mich an, äußerst unangenehm, denn ich hatte damals noch viele unbewältigte soziale Ängste. Ich konnte mir nicht erklären, was da Schlimmes mit mir passierte. Vor allem war es ein extrem unangenehmes Köpergefühl und die schier unerträgliche Furcht zu sterben. Jetzt, auf der Stelle. Ich brauchte Hilfe. Wahrscheinlich war ich sehr krank! Unser Hausarzt wusste nicht weiter, ließ meine Schilddrüse checken, und als die in Ordnung war, bekam ich Tabletten, insgesamt vier am Tag. Heute weiß ich, dass die Dosierung für mich viel zu hoch war, eine hätte dicke gereicht. Eine Zeitlang lief ich fremd und abwesend wie in Watte gepackt mit trockenem Mund durch die Welt, hätte dringend eine Therapie gebraucht, doch es sollte lange dauern, bis ich endlich die richtige Hilfe bekam. Der Tag an der Uni ist lange her, inzwischen bin ich eine erfahrene Angstspezialistin und weiß genau, was in mir passiert, wenn Angst und Panik kommen. An diesem Februarmorgen war es ein Kraftakt, mit Zitterhänden den Kühlschrank zu öffnen und mir ein Glas Wasser einzugießen. Langsam ließ ich die kühle Flüssigkeit durch Mund und Rachen fließen, es half ein bisschen, wie ich gehofft hatte, und schon fielen meinem nun etwas klareren Kopf die Tabletten ein, die mein Mann für den Notfall „gegen Panik“ bekommen hatte. Sie waren in seinem Tablettendöschen, ich brauchte nur die Hand auszustrecken und es zu öffnen. Ich kannte das Mittel nicht, aber die Ärztin hatte uns versichert, dass es schnell helfen würde. Auf der Zunge erinnerte mich die dünne Tablette an Esspapier, sie löste sich sofort auf und das Krampfen und Zittern ebbte bald ab. Nach zwei weiteren Wassergläsern war der Spuk vorbei. Ich fühlte mich leer und erschöpft, hatte aber zum Glück die Kontrolle über meinen Körper zurück. Die Katzen sprangen auf den Tisch und trösteten mich. Sie sind angstfrei und lassen sich nicht mal durch Schluchzen und Panikanfälle verstören.

Doch der Anfall nach so langer Zeit hatte mich alarmiert, und schon meldete sich wie erwartet die Angst vor der Angst. Hoffentlich passiert das nicht wieder! Etwa am Sterbebett oder beim Bestatter oder bei der Beerdigung! Das wäre schrecklich! Ich versuchte mich selbst zu beruhigen, und tatsächlich blieb ich in allen drei Situationen ruhig und funktionierte wie mit einem inneren Autopiloten. Etwas Schützendes schien mich zu tragen, vielleicht das irreale Gefühl, dass alles nur ein Film oder ein Traum war. Aber wahrscheinlich half mir vor allem das Gefühl, dass Jan auch nach seinem Tod noch an meiner Seite war, viel mehr als in seinen letzten schwerkranken Jahren. Er konnte gar nicht tot sein, denn ich spürte ihn ja neben mir. Wir waren immer noch zusammen! Er war bei mir, was für ein Trost, was für ein Glück! Ich spürte, wie er tröstend den Arm um meine Schulter legte und fürsorglich über mich wachte, wie in seinen gesunden Zeiten. Ich bekam auch die versprochenen Zeichen, die ich jetzt so dringend brauchte, zumindest fühlte es sich so an. Da war die merkwürdige Sache mit dem verschwundenen und wieder aufgetauchten Ehering, da war der schwarze Schmetterling, der sich an seinem Todestag auf meiner Hand niederließ und durch das ganze Haus tragen ließ, und vor allem das mit völlig unbekannte altgriechische Wort, das ich im Traum dreimal hörte. Das alles konnte doch nur von ihm kommen! Das konnten doch nur Zeichen sein! Das altgriechische Wort machte vollkommen Sinn, als ich im Internet die Bedeutung fand. Für eine Weile verspürte ich eine für mich ungewohnte tiefe Gelassenheit, als wäre mein Mann mit all seiner Ruhe vorübergehend in mein Innerstes geschlüpft. Eine so enge Verbundenheit kann doch nicht einfach aufhören! Ach, ich könnte alles ertragen, wenn er noch bei mir wäre! Am Anfang hat mich dieser Glaube getröstet. Inzwischen ist er der Verzweiflung gewichen, denn ich fürchte, unsere Nähe ist für immer dahin. Er ist fort, antwortet mir nicht mehr und kommt auch nicht in meine Träume. Die Seelen von Verstorbenen bleiben nur die ersten dreißig Tage in unserer Nähe, heißt es, und diese dreißig Tage sind lange vorbei. Die kleinen Zeichen sind wahrscheinlich auf mein Schriftstellerhirn zurückzuführen oder einfach nur Zufälle. Nach dem Tod ist das Band zu den Lebenden offenbar zerrissen. Eine Vorstellung, die für mich nahezu unerträglich ist.

Es geht mir nach seinem Verschwinden nicht gut in Gesellschaft, ich ertrage keine Nähe, bekomme Fluchttendenzen, wenn ich länger mit anderen zusammen sein muss, am liebsten bin ich allein mit meinen Katzen.

Vor wenigen Wochen kam ein weiterer Panikanfall. Es war ein sehr heißer Tag, mir ging es körperlich schlecht, ich merkte schon auf dem Weg zur Veranstaltung, dass etwas nicht stimmte. Mir war schwindelig, ich konnte mich nicht konzentrieren. Am liebsten hätte ich mich umgedreht und wäre zurück in mein stilles Haus gegangen, doch ich gab nicht nach und ging weiter. Bald saß ich mitten in der Pflichtveranstaltung, in der ich eigentlich gar nicht sein wollte, sogar das Thema war mir unangenehm. Meine Knie taten weh, mein Stuhl stand weit weg von der Tür, der Raum war zwar groß, fühlte sich aber trotzdem warm und stickig an. Ich saß zwischen lauter fremden Menschen, würde in Kürze sprechen und vielleicht sogar an den Diskussionen teilnehmen müssen. Alles schlimme Stressfaktoren. Als Kind mit ausgeprägter Sozialphobie und Redeangst hätte diese Kombination sofort zu extremer Aufregung und Panik geführt, doch als angsterfahrene Erwachsene kann ich solche Situationen normalerweise gut aushalten.

Ich kenne meine Angst und Panik genau, weiß, wie sie aussehen, dass sie keine riesigen Monster sind, sondern nur Teile meiner selbst. Sie sehen sogar aus wie ich, auch wenn die Panik mir unsympathisch ist, leider leicht durchdreht, überhaupt nicht zuhört und überhaupt extrem anstrengend ist, während die Angst lieb und schüchtern ist, eher Trost und Zuneigung braucht und am liebsten in den Arm oder an die Hand genommen wird. Sie ist fragil und leicht verletzt, braucht viel Zuspruch und sieht aus wie ich selbst als kleines Kind. Die Angst ist meine bleiche kleine Schwester, mit ihr kann ich gut umgehen. Die Panik ist meine nervige große Schwester, eine schreckliche aufbrausende Chaotin und Drama Queen. Sie hat ein feuerrotes Gesicht und reagiert total über, so ähnlich wie mein Vater bei seinen Wutanfällen. In Wirklichkeit war er in diesen Situationen immer völlig verzweifelt, aber das merkte man nur, wenn man ihn sehr gut kannte, und dann konnte man auch damit umgehen. Aber es war sehr anstrengend. Die Panik ist auch völlig verzweifelt, deshalb hilft es auch gar nicht, wenn man versucht, gegen sie anzugehen.

Ich war erschrocken über meine massiven körperlichen Reaktionen an diesem heißen Nachmittag. Panikanfälle spürt man ja vor allem physisch, rennt innerlich Amok und fürchtet, jeden Moment ohnmächtig zu werden oder gar an einem Herzinfarkt oder Schlaganfall zu sterben. Hitze ist bei diesen Symptomen natürlich genau das Falsche, sie steigert sämtliche Paniksymptome, kann durch den beschleunigten Herzschlag und das starke Schwitzen und den damit verbundenen Stress sogar selbst zu Panik führen! Ich weiß das alles sehr wohl und konnte doch an diesem Tag die Panik nicht aufhalten.

Schon ging das Innentheater los. Mein Herz raste, ich sah alles verschwommen, spürte meinen Schweiß rinnen und meine Hände zittern, schaffte kaum die Unterschrift auf der Teilnehmerliste. Wie schrecklich, und das ausgerechnet hier vor all den Leuten! Was, wenn ich jetzt tatsächlich ohnmächtig werde oder für alle sichtbar zitternd und zähneklappernd auf meinem Stuhl hänge? Was, wenn das jetzt gar kein Panikanfall ist, sondern ein Herzinfarkt? Es gibt bekanntlich das Broken Heart Sydrome, an dem überlebende Partner vor Kummer und Trauer sterben, weil sich ihr Herz vorübergehend krankhaft verändert. Kein hilfreicher Gedanke, die Panik riss ihn mir sofort weg, wiederholte ihn in einem fort und war echt auf dem besten Weg, völlig außer Kontrolle zu geraten. Jetzt war es wirklich zu spät. Keine Gelegenheit mehr, die anderen vorzuwarnen, Entschuldigung, aber ich kriege gleich einen Panikanfall, oder meiner Nachbarin zu sagen, hol mir bitte was Kaltes zu trinken, dann geht es mir gleich besser. Mit flackerndem Blick schaute ich zur Tür. Flight or Fight. Nichts wie weg hier, rief die Angst, lauf raus, ich halt es nicht mehr aus hier. Im Freien ebbt Panik normalerweise tatsächlich schnell ab. Tief durchatmen, beide Füße fest auf den Boden setzen, antwortete eine sehr ruhige Stimme in mir, wie eine Erzählerin in einer Geschichte. Und dann sagte sie: Rot ist die Panik, weiß ist die Angst.

Rot und Weiß? Mein Schriftstellerhirn wachte auf und warf gleich den Wortanker aus. Dazu fiel mir einiges ein! Schneewittchen! Weiß wie Schnee. Rot wie Blut. Schneeweißchen und Rosenrot. Weiß ist die Unschuld. Rot ist der Mohn. Tomatenrot. Paprikarot. Meißner Blumenrot. Telefonzellenrot. Und dann legte es richtig los. Rot-Weiß Essen. Köln Rotweiß! Wenn die ganze Kurve tobt, schlägt mein Herz in weiß und rot! Jetzt musste ich tatsächlich schwach grinsen. Mit Fußball habe ich einfach so gar nichts am Hut. Warum fiel mir ausgerechnet so was Blödes ein? Und dann kam die Krönung der Absurdität: Pommes rut-wiess!  Die kleine Angst grinste jetzt auch, nur die Drama Queen blieb unberührt, sie war zu sehr beschäftigt mit ihrem roten Ausrasten. Zeit zu handeln. Gibt es hier vielleicht was zu trinken? Oder zu essen? Etwas, das die Panik ablenkt, damit wir hier nicht filmreif durchknallen? Möglicherweise rufen die dann sofort den Notarzt und den Krankenwagen. Und dann? Notaufnahme! Krankenhaus! Die Hölle! Bloß nicht dran denken, sonst dreht die Panik noch mehr durch. Man kann immer was tun! Also komm jetzt endlich in die Pötte! Steh auf. Lauf rum. Raus auf den Flur. Oder vor die Tür. Zur Toilette, das Gesicht am Becken mit kaltem Wasser bewerfen. Wasser gegen die Augen schaufeln. Aus dem Hahn trinken. Schnurzegal, was die anderen denken. Wichtig ist jetzt nur, die Panik wieder runterzuholen. Ihr Mut zuzusprechen, auch wenn sie noch so nervt. Arme Panik, ich versteh dich ja, ist viel zu heiß und stressig hier, wir finden jetzt was, das dir hilft. Wir schaun uns einfach mal genau um. Das taten wir. Zumindest die kleine Angst und ich. Die große Panik war leider immer noch mit Schnappatmung und Ausrasten beschäftigt.

In einer Ecke des Raumes gab es tatsächlich einen Tisch mit Snacks und Getränken. Zu dem gingen wir jetzt. Alle drei. Die kleine Angst und ich zogen die Panik einfach mit. Dabei versuchte ich, jeden Schritt, jede Berührung der Füße mit dem Boden zu registrieren, alles wahrzunehmen, Farben, Gerüche, Vorhänge, Bodenbelag, Stimmen. Ich holte uns ein großes Glas Mineralwasser und ein Brötchen mit Käse und Tomate, in das ich gleich meine Zähne grub. Ich liebe Käse und Tomaten, für mich ist es Kindertrostessen wie Eis. Kauen und Trinken half. Die anderen guckten erstaunt bis entrüstet, was isst die denn jetzt schon, wir sind doch grade erst hier und es ist doch noch gar keine Pause! Egal. Kauen, Trinken, Atmen. Die Panik war abgelenkt, hörte auf zu toben und zog sich verwundert zurück. Die Angst blieb noch eine Weile, doch dann verschwand auch sie. Ich war wieder frei und allein, atmete tief durch, erklärte dem Mineralwasser, wie sehr ich es liebte, holte mir Nachschub, die ganze Flasche, und gleich auch noch ein Brötchen, freute mich, dass mein Kopf klar wurde, und beteiligte mich irgendwann sogar an der Diskussion. Meine Erleichterung war grenzenlos. Hier bin ich! Zurück unter den Lebenden! Anfall erfolgreich abgewehrt, auch wenn ihr davon nichts ahnt. Die restlichen dreieinhalb Stunden waren kein Problem.

Bei der nächsten größeren Veranstaltung nehme ich eine der beiden verbliebenen Tabletten mit. Es reicht, wenn ich sie in der Hosentasche weiß. Vielleicht nehme ich auch eine kleine Wasserflasche mit. Oder eins meiner blauen Cool Pads. Die gehören zu den zuverlässigen Nothelfern gegen Stress und Panik. Genau wie Eisklümpchen aus dem Tiefkühlfach. Doch die kann man nicht gut transportieren.

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Rooms and Stories – Tante Lotte (1)

Charlotte Block als Kind

Manchmal habe ich das Gefühl, dass die Erinnerungen meines Mannes meine eigenen sind, so genau und oft hat er sie mir beschrieben. Um die starken Frauen in seiner Kindheit habe ich ihn immer beneidet, so eine charismatische Bezugsperson wie Tante Lotte, die einem bereits als Kind auf spielerische Weise die Welt der Literatur und Kunst erschließt, hätte ich auch gern gehabt. Hier im Haus gibt es vieles, das an sie erinnert, etwa der Tante Lotte-Schrank in meinem Arbeitszimmer und die von ihr gemalten Bilder im Wohnzimmer. Die habe ich aus dem Keller gerettet und wir haben sie dann rahmen lassen. Auf einem ist ihre Freundin Ida, Jans Großmutter, zu sehen.

rechts Lotte Block

Geboren wurde Charlotte Block am 30. Mai 1892 in Gießen, ihr Vater war der Staatsrat Rudolf Block, gestorben ist sie am 7. Juli 1973 in Darmstadt, wo sie sich nach dem Tod ihres Partners Heinrich Adolph erneut niederließ. Die Kinderbilder von Tante Lotte habe ich erst vor zwei Wochen gefunden. Merkwürdigerweise haben wir auch die Alben ihrer älteren Schwester Ilse. Ich glaube, sie war Fotografin. Beide Schwestern hatten keine Nachkommen. In Gießen besuchte Lotte die Höhere Mädchenschule, dort hat sie möglicherweise auch Jans Großmutter, Ida Strack, kennengelernt. Durch die Versetzung des Vaters siedelte die Familie im Herbst 1907 nach Darmstadt um.

Lotte lebte viele Jahre im Elternhaus meines Mannes im Haus am Nahrungsberg in der mittleren Etage, zusammen mit Jans Großvater Heinrich Adolph, in „wilder Ehe“, wie man diese Lebensform früher nannte. Vielleicht hätten die beiden geheiratet, wäre sie nicht Studienrätin gewesen, doch so hätte sie bei einer Eheschließung automatisch ihre Stelle und jeglichen Anspruch auf ihre Pension verloren. Das rechtlich festgelegte Lehrerinnenzölibat verbot damals Lehrerinnen zu heiraten, bei Missachtung folgte umgehend die Kündigung. Das war für die selbstständige, selbstbewusste Lotte, die ihren Beruf liebte, sicher unvorstellbar. In meiner Kindheit äußerten sich die Erwachsenen noch oft herablassend über Lehrerinnen. „Die hat keinen mitgekriegt“, „Die denkt, die ist was Besseres“ und „Alte Jungfer“ waren Bemerkungen, die ich oft gehört habe, vielleicht war die unfaire Behandlung dieser Berufsgruppe den meisten damals gar nicht bewußt. Frauen hatten in den Augen der Gesellschaft wohl nicht das Recht, einen Beruf auszuüben, und wenn sie trotzdem die Kraft und den Mut dazu aufbrachten und ihre Eltern ihnen gar die Möglichkeit gaben zu studieren, hatten sie oft einen schweren Stand. Die ersten Frauen wurden erst um 1900 an deutschen Universitäten zugelassen, Promotionen waren eine absolute Seltenheit. Wer sich als Frau für eine selbstständige Berufsausübung als Lehrerin entschied, verzichtete damit bewusst auf Familie und Kinder, was für einige sicher auch eine emanzipatorische Bedeutung hatte. Erst 1957 wurde die Zölibatsklausel für verfassungswidrig erklärt. In den Schulen, die ich besuchte, gab es nur zwei (!) verheiratete Lehrerinnen, alle anderen waren „Fräuleins“. Doch 1957 war Tante Lotte bereits 65 Jahre alt und Jans Großvater seit sechs Jahren tot. Eine Beziehung, wie Jans Großvater und Lotte sie führten, wäre  in unserem Dorf völlig unmöglich gewesen, aber in der ohnehin toleranteren Stadt Gießen gab es damit offenbar keine Probleme. Offiziell unterstützte sie den Witwer wohl bei der Haushaltsführung und bei der Betreuung der beiden ältesten Kinder. Zuerst arbeitete sie an ihrer ehemaligen Schule, ab 1936 hatte sie dann eine Stelle am Lyzeum inne.

Lotte Block vorn in der Mitte

Charlotte Block wollte ursprünglich Künstlerin werden, erhielt bei einem gewissen Professor Beyer Unterricht in Malerei, bildete sich an der Technischen Hochschule in Darmstadt künstlerisch weiter und unternahm in diesem Zusammenhang auch ausgiebige Reisen nach Paris und Rom. Es gibt ein Foto von ihr mit Malerkittel im Kreise anderer Künstler in einem Atelier. 1916 gab sie das Kunststudium auf und besuchte stattdessen die Viktoriaschule in Darmstadt. Im Mai 1917 erhielt sie das Zeugnis der Reife an der Großherzoglichen Studienanstalt zu Darmstadt. Als gewählter Beruf ist im Zeugnis Kunstgeschichte angegeben, doch bald beschloss sie, Studienrätin zu werden, weil ihr Talent ihrer Meinung nach nicht ausreichte für eine Laufbahn als freie Künstlerin. Zusätzlich erhielt sie 1918 als Ergänzung auch noch ein Reifezeugnis für Latein vom Realgymnasium zu Darmstadt. Lotte studierte in Tübingen, Heidelberg, München und zuletzt auch in Gießen Deutsch, Englisch und Kunstgeschichte, schloß das Studium 2021 mit hervorragenden Noten ab und promovierte kurz darauf, damals noch eine Rarität für Frauen, mit ihrer Arbeit „Das Verhältnis von Dichtung und Malerei in Dante Gabriel Rossettis Schaffen“ zum Doktor der Philosophie. Die Präraffaeliten lagen ihr zeitlebens am Herzen, wie ich von Jan weiß, denn sie hat ihm viel dazu erzählt. 1922 beendete sie ihr Seminarjahr  am Pädagogischen Seminar der Viktoriaschule in Darmstadt. Vor mit liegt eine große grüne Mappe mit all ihren Seminarscheinen und Zeugnissen. Irgendwie rührt es mich, dass wir beide Deutsch und Englisch studiert haben, sie hat sogar Seminare zu denselben Themen besucht wie ich, hat sich auch intensiv mit dem Nibelungenlied und Beowulf beschäftigt.

Lotte mit der kleinen Hilde (1915)

Tante Lotte war die beste Freundin von Jans Großmutter Ida, die 1918 kurz nach der Geburt ihres dritten Kindes nach nur sechs Jahren Ehe mit 28 Jahren an der Grippe starb, möglicherweise waren es aber auch Komplikationen im Kindbett. Wann genau Lotte und Jans Großvater ihre Liebe entdeckten, habe ich noch nicht herausgefunden. Vielleicht hat die gemeinsame Trauer um Ida sie verbunden, vielleicht waren sie aber auch einfach voneinander fasziniert. Jedenfalls zogen sie wohl 1925 zusammen, nachdem Lotte sich hatte versetzten lassen. Danach war sie an zwei Schulen in Gießen tätig. Tante Lotte wurde neben der Großmutter Emilie Strack zur fürsorglichen Bezugsperson für die beiden älteren mutterlosen Adolph-Kinder. Hilde war damals 7, Heinz 5 Jahre alt. Marianne, die jüngste Tochter, wurde kurz nach der Geburt von  Verwandten aufgenommen und wuchs weit weg in Hamburg auf, wodurch ihr Verhältnis zu den beiden größeren Geschwistern, die zusammenhielten wie Pech und Schwefel, und wohl auch zu Tante Lotte, nie wirklich eng wurde, auch wenn es mindesten einmal im Jahr ein Treffen bei einem Gießener Fotografen gab, der die drei Kinder in trauter Harmonie mit und ohne Vater ablichtete. Später wurde Lotte auch Jans Bezugsperson und „zweite Oma“. In unserem Familienstammbaum habe ich sie bewußt als „Partnerin des Großvaters des Partners“ eingetragen, denn ich fände es jammerschade, wenn sie einfach vergessen würde.

Im Herbst und Winter durfte der kleine Jan nachmittags gegen fünf bei Tante Lotte auf dem Sofa die „heure bleu“ zelebrieren, eine kostbare Zeit, auf die er sich sehr freute. Wieder und wieder schaute er auf die Uhr und  konnte es gar nicht abwarten, endlich nach oben zu laufen. Großvater Heinrich hielt sich während der Blauen Stunde immer in der Nähe auf, hörte den Gesprächen interessiert zu und freute sich am liebevollen Zusammensein von Enkel und Partnerin. Tante Lotte und der kleiner Jan machten es sich unter der großen lilafarbenen Häkeldecke auf dem Sofa bequem und Lotte begann zu erzählen, von Odysseus, Athene und Artemis, den Haimonskindern, Griseldis, der schönen Melusine, König Artus und Genoveva. Sie las ihm Gedichte vor oder rezitierte sie frei aus dem Gedächtnis, sprach vom Knaben im Moor und vom Erlkönig, brachte ihm auch die witzige Version mit Rede und Gegenrede „uff Hessisch“ bei, die Jan auswendig hersagen konnte. Im Internet finde ich zwar eine Version, bin mir aber nicht sicher, ob es wirklich dieselbe ist.

Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?                                                                                   (So lossen, so lossen doch rieden!)                                                                                                    Es ist der Vater mit seinem Kind.                                                                                                 (Der kunnde ’ne Droschke sich mieden!)                                                                                         Er hat den Knaben wohl in dem Arm,                                                                                            (Sall hä’n uffen Buckel sich hangen?)                                                                                               Er faßt ihn sicher, er hält ihn warm.                                                                                             (Das kann me vun’n Vadder verlangen!)

Lotte im Weihnachtskostüm

Sie brachte ihm auch die Datierung der Goetheschen Dramen anhand eines kleinen Eselsbrücken-Gedichts bei, das ich leider vergessen habe. Die einzige Zeile, an die ich mich noch erinnere, ist „Maria, seine Jungfrau Braut, schrie hell und laut“ (gemeint sind hier eindeutig die Dramen Maria Stuart, Jungfrau von Orleans, Braut von Messina und vielleicht auch Wilhelm Tell?). Ach, hätte ich es doch nur aufgeschrieben! Jetzt ist es zu spät! Jedenfalls hat der Knabe Jan seinerzeit mit der korrekten chronologischen Auflistung der Goetheschen Dramen das Aufnahmekomitee am Gießener Landgraf-Ludwigs-Gymnasium offenbar nachhaltig beeindruckt.

Pet

Auch mit der Malerei machte sie ihn vertraut, zeigte ihm Bilder von Rembrandt, Breughel und Feininger. Mein Mann erinnerte sich noch gut an das verblüffte Gesicht seiner Mutter, als der Kleine sie eines Tages still beobachtete, während sie in der Küche vor dem Fenster stehend prüfend ein Einmachglas gegen das Licht hielt, und dann urplötzlich verlauten ließ:  „Jetzt siehst du genauso aus wie Rembrandts Sakia!“ Tante Lotte war damals natürlich schon älter und hatte auch schon weißes Haar. Manchmal malte der Großvater sie als Eule vor dem Mond, wie sie Pet, ihren kleinen Foxterrier, in den Klauen hielt. Irgendwo muss das Kinderbuch sein, in dem eine dieser Darstellungen sich erhalten hat. Ich glaube, es ist eine Uraltausgabe von den Heinzelmännchen von Köln, die ursprünglich Ida gehörte. Doch darauf hält die Eule keinen kleinen Hund, sondern zwei Mäuse in den Klauen.

Hypnos

Über Tante Lottes Sofa hingen viele Bilder, die sich ihrem kleinen Bewunderer, der gar nicht genug bekommen konnte von all den spannenden Geschichten, tief einprägten. Besonders beeindruckt war er von einem Detail des Isenheimer Altars, ich weiß aber nicht mehr genau, welches. Im Musée Unterlinden in Colmar hat er mir das Original mehrfach voll Begeisterung gezeigt, aber leider hat es mich enttäuschend wenig beeindruckt. Altäre sind so gar nicht mein Geschmack. Ganz im Gegensatz zum dunkel verblichenen Foto der Büste von Hypnos, dem Gott des Schlafes, den ich zunächst wegen seines geflügelten Hauptes für Hermes hielt. Leider fehlt der zweite Flügel, so dass man denken könnte, der Gott habe nur den einen. Hypnos, der Vater von Morpheus, dem Gott der Träume, war eine Erfindung des Dichters Ovid und wachte sicher gern über die schlafende und Geschichten erzählende Tante Lotte und ihren gespannten kleinen Zuhörer. Von ihrem Partner Heinrich wurde sie übrigens liebevoll-spöttisch „Eulonia Kürbiskaja vom Nahrungsberg“ genannt, denn sie hatte nicht nur eine Schwäche für Eulen, sondern auch für süßsauer eingelegte Kürbisse. Auch ich liebe Eulen und Kürbisse, aber letztere vor allem ausgehöhlt an Halloween und in Form cremiger Kürbissuppen.

Lotte und ihre Rosen

Gelegentlich gab es in der Wohnung gar kleine Privatkonzerte für den staunenden Enkel. Jans Großvater war evangelischer Pfarrer, Studienrat und außerordentlicher Professor für Theologie (er hat über dreißig Bücher verfaßt, wie ich neulich gezählt habe) und war nicht nur ein Predigertalent, er hatte auch eine schöne Tenorstimme. Er sang gern zu Hause gemeinsam mit Tante Lotte Kirchenlieder, auch a capella, ohne Klavier- und Orgelbegleitung. Aus politischen und weltanschaulichen Gründen hatte er mit Jans Vater große Probleme, doch der kleine Jan bildete das versöhnliche Band zwischen den beiden Männern. Er liebte seinen hochgewachsenen Großvater, der ihn oben auf den Schultern durchs Haus trug und jedes Mal vor Angst schlotterte, wenn der Kleine übermütig an der Ofentür rüttelte. Heinrich Adolph starb plötzlich und unerwartet 1951 mit nur 66 Jahren während des Silvester Gottesdienstes, unbemerkt von der restlichen Gemeinde, aufrecht in seiner Bank sitzend, das aufgeschlagene Gebetbuch noch auf den Knien, den Gehstock ans Bein gelehnt. Dass er tot war, fiel den anderen erst auf, als er sich nach dem Gottesdienst nicht von der Stelle bewegte.

Hermes auf Melaten

Als ich ein Bild für die Danksagung nach Jans Beerdigung suchte, konnte ich zu meinem Bedauern Tante Lottes Hypnos nicht finden und wählte stattdessen Hermes, der ja nicht nur als Götterbote unterwegs war, sondern auch die Seelen der Verstorbenen zu den Pforten der Unterwelt geleitete. Auch er hat ein geflügeltes Haupt, selbst wenn ihm die Schwingen nur aus dem Helm und nicht aus den Schläfen wachsen. Hermes war einer unserer Lieblinge, genau wie Odysseus, Athene und die rosenfingrige Eos. Jan hat mir die Ilias und die Odyssee zweimal komplett vorgelesen. Seine Lieblingsszene war die, als der greise Priamos nachts zu Achill kommt und um den Leichnam seines Sohnes bittet. Auf dem Melatenfriedhof gibt es eine Statue von Hypnos, die wir aus unerklärlichen Gründen nie gefunden haben. Doch vielleicht hat alles seine Zeit, selbst Statuen, und ich finde ihn beim nächsten Besuch auf Anhieb. Hermes  hätte meinem Mann auch gefallen, ich weiß noch, wie wir ihn fotografiert haben. Es gibt mindestens sieben Versionen von ihm im Album. Tante Lottes Hypnos ist übrigens vor kurzem plötzlich wieder aufgetaucht wie ein echter deus ex machina. Ich suchte nach etwas völlig anderem, und da war er! Hatte sich an der Seite im Schrank versteckt und steht jetzt katzensicher in einem von Jans Regalen.

 

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Toys and Stories – Mausland

Lille und Bror aus der Ukraine

Da im September in der Zeitschrift „1001Miniatur“ ein langer Artikel über meine Mäuse erscheint, ist es wohl an der Zeit, dass ich auch auf meiner Homepage ein wenig mehr über meine große Liebe zur kleinen Welt schreibe.

Puppenstuben und Puppenhäuser haben mich schon als Kind fasziniert, auch wenn ich selbst nur eine einfache Roombox mit zwei Zimmern und ein paar einfachen Möbeln hatte, die meine Mutter zu meinem Kummer irgendwann verschenkte, weil ich angeblich „zu groß“ dafür war. Was für ein Irrtum! Eine meiner Cousinen hatte zum Glück ein antikes Puppenhaus, das mich natürlich wie ein Magnet anzog, wenn wir dort zu Besuch waren. Leider durfte ich es nur bewundernd ansehen und nichts darin anrühren, aber als Erwachsene war ich endlich frei und irgendwann nicht mehr zu halten. Ich habe mein Leben lang „Sächelchen“ gesammelt, wie mein Mann es liebevoll nannte. Ohne Grund, nur weil ich sie schön fand, gern ansah und das Sammeln so viel Spaß machte. Auch kleine Häuser gehörten dazu, aus Holz, Pappe oder Papier, sogar aus Plastik, solange sie schön bemalt oder beklebt waren. Dass ich eines Tages eine umfangreiche, raumgreifende Miniwelt für Mäuse, Hexen und andere Wesen erschaffen würde, habe ich allerdings lange nicht geahnt.

Mein Mann hat meine Neigung stets gefördert, denn er mochte Spielzeug. Wenn wir Weihnachtsbazare, Flohmärkte oder Spielzeugmuseen besuchten, kaufte er mir ausgefallene Miniaturen, am liebsten winzige Weihnachtsdekorationen. Einmal hat mir die nette Dame im Spielzeugmuseum in Rothenburg ob der Tauber sogar einen Minikuchen mit toller Obstgarnitur geschenkt, nachdem mein Mann mir mehrere kleine Kuchen und allerlei andere Schätze gekauft hatte. Bei den Kuchen war ich so entzückt gewesen, dass ich sie am liebsten alle ausgewählt hätte. Das war der Verkäuferin nicht entgangen, und an der Kasse sagte sie: „Und jetzt dürfen Sie sich noch einen Kuchen aussuchen! Weil Sie so viel Spaß an den Sachen haben!“ Dass man mir meine Begeisterung so deutlich anmerkte, hat mich sehr gefreut, denn als Kind konnte ich meine Gefühle leider schlecht bis überhaupt nicht zeigen, schon gar nicht Freude und Begeisterung. Ich stand einfach nur stocksteif da, hatte ein verlegenes kindliches Pokerface und stammelte leise: „Das ist aber schön, Mama!“ Das reichte leider nicht, um meiner extrovertierten, emotional überbordenden  Mutter klarzumachen, dass ich den Gegenstand, den ich gerade fixierte, extrem begehrenswert fand. Und so blieben meine Wünsche fast immer unerfüllt. Meine Schwester dagegen schrie vor Begeisterung laut los „Mama, Mama, das will ich haben! Kaufst du mir das? Bitte, bitte, Mama!“ und bekam prompt, was ihr Herz begehrte. Ich dagegen konnte nicht mal einen ordentlichen Wunschzettel schreiben, weil ich mir immer Sorgen machte, ob das, was ich mir wünschte, nicht vielleicht doch viel zu teuer oder zu schwer zu beschaffen war.

die schüchterne Mimolette aus den Niederlanden

Mein Mann merkte zum Glück immer, wenn ich etwas schön fand und mir wünschte. Er besaß zudem selbst einiges an Spielzeug, als wir uns kennenlernten, was in meinen Augen schon ziemlich ungewöhnlich war. Er hatte nicht nur zwei antike Porzellanpuppen, die einst seiner Großmutter und seiner Mutter gehört hatten, eine umfangreiche Blechspielzeugsammlung sowie eine riesige unvollendete Eisenbahnanlage im Keller, sondern auch einen gut mit winzigen Lebensmitteln bestückten hübschen kleinen Maggi-Laden aus Holz und verschiedene kleine Tiere und Möbel, die er mir alle sofort strahlend überließ. Irgendwann zu Weihnachten überraschte ich ihn mit einem selbstgebauten Marktstand voller Weihnachtsminiaturen, der monatelang  im Wohnzimmer auf einem Regal stand und von den antiken Biegepüppchen bewohnt wurde, die mir mein Mann geschenkt hatte. Jedes Jahr im Advent baute ich zudem unsere Santon-Krippe auf, mit wachsender Hingabe und immer mehr Häusern, Laternen, Bäumen und klitzekleinen Details. Die Mäuse kamen erst später.

Mausland (der Name klingt nicht von ungefähr wie Ausland) wurde 2015 ganz spontan geboren, nachdem ich im Internet die Mäuse der chilenischen Künstlerin Johana Molina entdeckt hatte, einer echten Pionierin der Filzkunst. Cheddar und Mozzarella waren mein Erstkauf in den von mir gerade entdeckten globalen Marktplatz Etsy und brauchten ziemlich lange, bis sie bei uns ankamen, aber Johana hatte ihnen Proviant und Lesestoff mitgegeben, so dass sie die lange Reise gut überstanden. Kurz danach schickte Johana mir meine erste Maushexe, die schwarz gekleidete Caerphilly, die sofort ein Halloweenzimmer in einem Schuhkarton bekam.

Cheddar und Mozzarella aus Chile

Da Mäuse sich bekanntlich rasend schnell vermehren, hatten Cheddar und Mozzarella schon bald etliche Kinder (die ersten waren Tina/Fontina, Parmi/Parmesan, Pecorino und Mimolette), die aus den Niederlanden stammen und von Mireille Booth (bearytalesbymireille), einer anderen Pionierin der Nadelfilzkunst, erschaffen wurden. Mireille ist genau wie ich Übersetzerin und im Laufe der Zeit sind wir gute Internetfreundinnen geworden und haben auch außerhalb der Miniwelt Kontakt. Manchmal überrascht sie mich sogar mit unerwarteten Mauspäckchen! Am Anfang waren  ihre Mäuse noch alle „ooak“ (one of a kind), also Unikate. Dass es sie nur einmal gab, machte sie für mich besonders kostbar. Ich versuche immer noch, ausgefallene Einzelmäuse zu finden, und freue mich, dass Mireille  inzwischen außer dem Etsy Shop auch eine eigene Seite mit ooak-Kreationen hat. Über Mireilles Mäuse könnte ich viele Geschichten erzählen!

Ziemlich schnell entstand eine kleine Welt, in der Mäuse (meist „hochsensibel“, mit individuellen Stärken und Schwächen, Macken, Ängsten und anderen Problemen)  aus aller Herren Länder friedlich zusammenleben und sich liebevoll und humorvoll umeinander kümmern, ganz so, wie man sich die „echte“ Welt wünschen würde. Welche Sprache der andere spricht, welche Farbe er hat und woher er oder sie kommt, ist völlig egal. In Mausland ist für alle Platz. Bis vor kurzem hatten alle meine Mäuse Käsenamen, was damit zusammenhängt, dass ich vor vielen Jahren mit großer Freude ein umfangreiches Käsebuch übersetzt habe. Ich liebe Käse und kenne mich daher ganz gut damit aus. In letzter Zeit habe ich aber auch ungewöhnliche Namen gewählt, die mir die internationalen Mausfans auf meiner Insta-Seite vorgeschlagen haben, einfach weil sie so gut zu der jeweiligen Maus passen. Ich liebe dieses gemeinsame Brainstorming!

Caerphilly aus Chile

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Rooms and Stories – Dolomitenholz

Als ich zwölf Jahre alt war, nahm mich mein Vater zum ersten Mal mit in die Dolomiten. Da meine Mutter ihr Dorf nur höchst widerwillig verließ, fuhr mein Vater, der eigentlich gern verreiste, zunächst allein und später, als ich alt genug war, zusammen mit mir in Urlaub. An die Fahrt ins Grödnertal kann ich mich noch gut erinnern. Sie war aufregend, lang und dunkel, denn wir waren nachts unterwegs, weil die Autobahnen dann weniger voll waren. Ich saß vorn auf dem Beifahrersitz, war fest entschlossen, unbedingt wach zu bleiben, hatte eine knisternde Landkarte mit vielen Knickspuren auf dem Schoß und fühlte mich stolz und erwachsen. Ich hatte mir vorgenommen, meinem Vater Geschichten zu erzählen oder mich einfach nur mit ihm zu unterhalten, damit er nicht etwa am Steuer einschlief. Außerdem verfolgte ich regelmäßig mit dem Finger auf der Karte, wo wir gerade waren. Ich war überhaupt nicht müde, nur erwartungsvoll und gespannt. Mein Vater hatte mir schon viel von den Personen erzählt, die ich bald treffen sollte, und auch von den Orten mit den geheimnisvollen Namen, die wir besuchen würden. Seiseralm, Langkofel, Plattkofel, Karer See, Kalterer See, Wolkenstein, St. Christina. Und natürlich St. Ulrich, das gleich zwei Namen hatte und auch Ortisei hieß. Dort würden wir wohnen.

Die Dolomitenreise war ein Abenteuer, das nur mir und meinem Vater gehörte, und während wir uns immer weiter vom Dorf entfernten, fühlte ich mich zu meiner eigenen Verwunderung immer freier. Angst hatte ich keine, denn in Gegenwart meines Vaters konnte mir schließlich nichts passieren. Auch mein Vater wirkte wie verwandelt, und seine entspannte Stimmung war genauso überraschend wie ansteckend. Sonst war er schließlich fast immer unruhig, nervös und reizbar, man musste extrem vorsichtig sein mit allem, was man sagte und wie man es sagte, aber allein mit mir verwandelte er sich schlagartig in einen gut gelaunten Mann, der gern lachte und mit dem man einfach über alles reden konnte. Er hörte jetzt sogar richtig zu, was er normalerweise nur sehr selten schaffte, weil ihn seine eigenen Probleme so sehr beschäftigten und stressten. Diese Metamorphose wiederholte sich bei jedem unserer gemeinsamen Urlaube. Diesmal fuhren auch meine Cousine, ihr Mann und meine Tante mit, meist waren sie auf der Autobahn vor uns und winkten ab und zu aus einem der Autofenster.  Gemeinsam machten wir Rast, aßen Butterbrote und tranken Kaffee, Cola und Limonade. Mein Vater hatte bei allen Reisen eine riesige Kühltasche dabei, die meine fürsorgliche Mutter bis zum Rand mit Delikatessen angefüllt hatte. Natürlich nur mit Sachen, die er gern aß, vor allem Wurstwaren. Nach ein paar Tagen roch die Riesentasche mit den weißen Henkeln für mich unangenehm und ich mochte daraus nichts mehr essen. Meinem Vater machte das offenbar nichts aus, aber er hatte den Proviant ohnehin rasend schnell verputzt. Er aß ausgesprochen gern, und bei diesem ersten Urlaub aß er meine Portionen immer gleich mit, denn ich tat mich mit unbekannten Gerichten schwer und hatte außerhalb meines Elternhauses ohnehin so gut wie keinen Appetit. Außerdem machte mir meine feine Nase Probleme. Die erste Pizza meines Lebens fand ich völlig ungenießbar, weil mich der Thunfischgeruch fatal an Topsis Katzenfutter erinnerte. Auch den geriebenen Parmesankäse rührte ich nicht an, denn er roch wie eine Mischung aus Schweißfüßen und Erbrochenem. Zum Glück liebe ich inzwischen italienisches Essen. Auch Parmesan.

Als ich die Dolomiten zum ersten Mal sah, war ich überwältigt. Die schiere Größe, die bizarren Formen, die ständig wechselnden Farben! Einige Märchen und Sagen aus der Region kannte ich bereits, ich wußte von Laurin und seinem Rosengarten und von den feinen Bergfräulein, den Vivane, die hoch oben in den Felsen leben. Meine Lieblingsgeschichte vom schönen Gordo, den unheimlichen Hexen und der Quelle des Vergessens las ich erst hier. Mein Vater war schon mehrfach in St. Ulrich gewesen und inzwischen mit der Familie, bei der wir wohnten, gut befreundet. Wir schliefen in einem Doppelzimmer, wohl weil es die preiswerteste Lösung war, vielleicht aber auch, damit ich mich allein nicht fürchtete oder weil mein Vater nachts nicht gern allein war. Leider schnarchte er und ich musste ihn regelmäßig anstupsen oder ihm die Nase zuhalten, damit er Ruhe gab. Aber er murmelte dann nur „Is‘ gut, Kind“ und schlief weiter. Manchmal wünsche ich mir, ich hätte seine Fähigkeit geerbt, so tief und fest zu schlafen, aber leider bin ich genauso störanfällig wie meine Mutter. Bei der kleinsten Sorge oder Aufregung ist es aus mit der Nachtruhe. Bei späteren Urlauben war das unvermeidliche Doppelzimmer mir ziemlich peinlich, weil die anderen Gäste mich unweigerlich für seine junge Freundin oder Sekretärin hielten, was meinen Vater leider auch noch amüsierte. Bei unserem letzten Urlaub, im Schwarzwald, war ich immerhin schon dreiundzwanzig und wir waren der Skandal der Pension. Zu seiner Ehrenrettung muss ich sagen, dass meine Mutter ursprünglich ein Doppelzimmer für meine Schwester und mich und ein Einzelzimmer für meinen Vater gebucht hatte, doch meine Schwester verlor kurz vor der Reise die Lust, und zwei Zimmer waren offenbar zu teuer.

Das Besondere an dem großen Haus in St. Ulrich war der intensive Geruch nach Holz und verschiedenen Ölen und Lacken, denn der Vater und der älteste Sohn waren Herrgottschnitzer und im unteren Teil des Hauses gab es außer der übervollen Werkstatt noch einen riesigen hellen Raum mit zahlreichen Tischen, auf denen Figuren in allen Größen standen, die nur darauf warteten bemalt zu werden. Die meisten waren Heiligenstatuen, aber es gab auch Märchengestalten. Maria zeigte mir den Raum gleich am ersten Tag und ich war hingerissen. Sie war in der Familie für die Bemalung zuständig und ermunterte mich gleich, ihr zu helfen und die Figuren zuerst mit einem speziellen Öl und dann mit Lasurfarben zu behandeln. Ich hätte tagelang in diesem Raum bleiben können, denn ich liebte alles dort, die Atmosphäre, den Geruch, die Geräusche, aber vor allem die Versunkenheit und Konzentration, die Maria ausstrahlte. Der Raum machte mich schlagartig tiefenentspannt. In die abgetrennte Schnitzwerkstatt traute ich mich nur selten, weil ich die beiden Männer bei ihrer wichtigen Arbeit nicht stören wollte.

Ich durfte Zwerge und Zahnstocherfrauen mit riesigen offenen Mündern lasieren und winzige Püppchen mit Hüten lackieren. Die Zwerge waren detailliert gearbeitet und alle unterschiedlich, die Püppchen einfach und sahen alle gleich aus. Wir bemalten die Püppchen in einer ganz bestimmten Reihenfolge, zuerst die Hüte, dann die Gesichter und Körper, zum Schluss kamen Augen und Mund. Geduld war hier sehr wichtig. Zuerst musste alles gut trocknen, solange durfte man die Figuren nicht berühren. Manchmal erinnere ich mich beim Porzellanmalen an die Dolomitentage mit Maria, auch wenn ich nicht glaube, dass es in Marias Werkstatt auch so intensiv nach Nelkenöl roch wie beim Porzellanmalen. Nach jedem Einsatz in der Werkstatt schenkte Maria mir eine der von mir bemalten Figuren, und am Ende besaß ich zwei selbstlasierte Zwerge, eine Zahnstocherfrau und ein Püppchen, dessen Augen zwei exakt gleich große schwarze Pünktchen waren, der Mund war ein winziger roter Strich. Meine Hand hatte beim Malen kein bisschen gezittert, was Maria sehr gelobt hatte.

Auch die anderen Zimmer hatten einen ungewohnten, aber überaus angenehmen Geruch, wahrscheinlich war es auch hier das Holz, denn die Wände waren vertäfelt, möglicherweise auch spezielle Reinigungsmittel, die man hier benutzte. In einem der Zimmer roch es immer ein bisschen nach frischer, warmer Milch. Wenn man abends das Fenster öffnete, war die Bergluft kühl und klar und duftete nach Gras und Blumen. Der Raum, in dem wir auch die Mahlzeiten einnahmen, besaß einen riesigen Kachelofen, auf den man mit Hilfe einer Art Leiter hochklettern konnte. Wenn es regnete oder draußen dunkel wurde, legte ich mich mit Dolomitensagen und dicken Kissen oben auf den Ofen, war für alle unsichtbar und einfach nur glücklich. Es war mein Geheimversteck. So lange ich mich still verhielt, konnte ich alles sehen, aber keiner sah mich. Meine Tante hatte stapelweise Hefte mit Liebesromanen und Arztgeschichten dabei, die aber für mich so langweilig waren, dass ich schon beim zweiten aufgab und nicht verstand, wie man so etwas überhaupt lesen konnte. Doch ihr schien es Spaß zu machen.

Normalerweise wagte ich als Kind nie zu sagen, wenn ich etwas wirklich, wirklich schön fand und unbedingt haben wollte, doch allein mit meinem Vater traute ich mich gleich zweimal. Ich erinnere mich noch an das bange Herzklopfen. Hoffentlich findet er die Sachen nicht zu teuer! Hoffentlich sagt er nicht nein! Das erste Objekt meiner Begierde war ein Märchenbuch mit Dolomitensagen, erzählt von Auguste Lechner. Ich entdeckte es in der Auslage eines Buchladens und es zog mich an wie ein Magnet. Das zweite, weit begehrenswertere Objekt, war eine Hexe aus Holz, die auf einem Bänkchen hockt, eifrig in einem Topf rührt und ein Eichhörnchen auf der Schulter hat. Mein Vater, der Einkäufe jeder Art hasste, äußerst selten in Läden ging und freiwillig eigentlich nur in Gartenmärkte (meine Bandbreite ist bei ähnlicher Grundabneigung zum Glück etwas breiter), machte allerdings zur Bedingung, dass ich mir Buch und Hexe selbst kaufen musste, was mir ein bisschen Angst machte, denn ich verstand die Leute hier nicht wirklich gut und kam auch mit der fremden Währung nicht zurecht. Alles kostete unfaßbar viele hunderte und tausende Lira! Doch ich wollte Buch und Hexe so schrecklich gern, dass ich mich allein mit Papas Geld in den Laden traute und überglücklich mit meinen Trophäen zurückkehrte. Mein Vater blieb währenddessen vor dem Schaufenster stehen, beobachtete mich und rauchte. Damals rauchten fast alle Erwachsenen.

Zu schaffen machte mir nur, dass ich die Höhenluft nicht gut vertrug, denn mir war während der ganzen Zeit fast immer schwindelig und der kleine Finger an meiner linken Hand stach, als steckten ganz viele Nadeln darin. Oben auf der Seiseralm wurde es so schlimm, dass ich zuerst blaß wurde und dann sehr unsicher auf den Beinen. Mein Vater merkte es sofort, nahm mich in seine Arme, trug mich zum Sessellift und wir fuhren zurück ins Tal. Selten habe ich mich so beschützt gefühlt. Dabei war es wunderschön auf der Alm bei den Haflingern mit ihren hellen Mähnen.

Mein Vater tröstete mich und meinte, das würde sich bestimmt schon irgendwie verwachsen. Leider hat es sich nie richtig verwachsen, so sehr ich die Bergwelt auch liebe.

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Trees and Stories – Eichen

Herbsteiche (Peggychucair)

Diesmal sinkt der Erinnerungsanker noch tiefer in die Vergangenheit, es ist Ende der 1970er Jahre, mein zweiter Herbst in England. Das Laub leuchtet, meine Wimpern sind nebelfeucht und ich bin mit jemandem zusammen, der noch sehr jung ist und mir niemals wehtun wird. „He has an old soul“, sagt seine Mutter über ihn. „He was always like that, even as a baby.“ Es ist eine tiefe, telepathische Verbundenheit, die leider nur wenige Jahre währt, danach werden wir uns völlig aus den Augen verlieren. Trotzdem finde ich ihn jetzt sofort, höre seine Stimme und sein unbeschwertes Lachen, erkenne seinen besonderen Gang. Er ist sehr groß, sehr schlank, überaus schlaksig und geht ein wenig nach vorn gebeugt wie viele große Menschen. Ein bisschen wie ein Reiher. „You walk like a heron!“ Blaue Augen, schmale Hände, verwuscheltes Haar.

„I want to show you something really special”, sagt er und führt mich durchs Wäldchen am Dorfende. Vorbei am Haus des Schulleiters und dem flammenden Ahorn, vorbei an verwilderten und gepflegten Gärten mit verwitterten Holzschuppen und leeren Kinderschaukeln, vorbei an müden Katzen und kläffenden Hunden. Er leitet mich durch einen dornigen Tunnel aus Brombeerbüschen und wilden Rosenranken, die voller blank polierter Hagebutten hängen. Der Weg ist mühsam, doch dann sehe ich mehrere mächtige Kastanien. Die große Viehweide dahinter mündet in einen Eichenhain, der überraschend aus dem nebeligen Nichts auftaucht. Wie eine Fata Morgana, denke ich. Eben war er doch noch gar nicht da? Zwischen den Kastanien führt ein uralter Holztritt über den Weidezaun. Solche public footpaths durch Felder und Weiden findet man häufig hier in England, die kleinen Treppenstufen oder Leiterchen heißen stiles. Es gibt sie nicht nur aus Holz, sondern auch aus Stein, und gelegentlich führen sie in die Anderswelt. Wir steigen hinüber, er hilft mir, denn ich zaudere, weil mir die vielen Kühe Respekt einflößen. Hand in Hand gehen wir zwischen den Tieren hindurch, die sich nicht aus der Ruhe bringen lassen. Man muss nur aufpassen, wo man hintritt. „Mind the cowpats, darling.“ Ich mißtraue den Kühen immer noch, weil sie allzu groß und nah sind, doch sie blicken uns nur gelassen aus sanften Augen an.

Als wir uns den Eichen nähern, bleibt er stehen und sagt ein wenig verlegen: „That’s it. My secret place. Paradise.“ Die Bäume müssen uralt sein, knorrig und riesig wie sie sind, einige tragen imposante Mistelbüsche. Viscum album, mystischer Schmarotzer zwischen Himmel und Erde. Hexenbesen. Zaubertrank. Fruchtbarkeitsbringer. Beerenzweige zum Küssen. Fehlen nur noch feierliche weiß gekleideten Gestalten mit Silbersicheln.

Misteln (Cris Fry/unsplash)

Misteln (Chris Fry/unsplash)

Als wir weiter gehen, verändert sich mit einem Mal die Atmosphäre, es wird kühler und stiller, der Ort scheint kurz den Atem anzuhalten, und schließlich umfängt er uns mit unendlich wohltuender Ruhe. Wir haben einen gesegneten Ort betreten, ein geheimes Heiligtum, das uns wohlwollend aufnimmt, vor der Welt schützt und alle belastenden und beunruhigenden Gedanken verschwinden läßt. Mir fallen die „Four Quartets“ von  T.S. Eliot ein. At the still point of the turning world. Where the dance is. And only the dance. Where past and future are gathered. So muss sich die Ewigkeit anfühlen. Die Zeit ist aufgehoben.

Paradise ist der erste thin place, den ich je betreten habe. Ein Ort, an dem sich die Welten treffen. Die unsere und die jenseitige. Wir können nicht sehr oft dort sein, denn ich wohne nicht in seinem Dorf. Als ich viele Jahre später unser Paradise gesucht habe, war es verschwunden. Wahrscheinlich hat man die heiligen Bäume gefällt, um dort Häuser zu bauen. Oder hat es diesen Ort möglicherweise nie wirklich gegeben?

Nachdem ich nach Deutschland zurückgekehrt bin, besucht er die Bäume allein. Um Ruhe zu finden, wenn seine Sehnsucht zu stark wird. Weit weg in Köln spüre ich jedes Mal, wenn er dort ist. Doch jetzt macht ihn Paradise traurig. Weil ich nicht bei ihm bin. Was wäre wohl aus uns geworden, wenn wir damals die vielen Kontaktmöglichkeiten der heutigen Zeit gehabt hätten? Es war eine Zeit ohne Whatsapp, Facebook und Handys, ohne eMails und digitale Bilder, ohne Computer. Eine qualvolle Zeit für gewaltsam getrennte Liebende.

Wir können einander nur schreiben und in Gedanken und Träumen suchen. Telefonieren zwischen Deutschland und England ist so teuer, dass wir es uns nur selten leisten können, zudem wohnt er noch bei seinen Eltern und ich zunächst wieder im Studentinnenheim, ohne eigenes Telefon. Schließlich finde ich ein winziges Apartment in der Südstadt. Mit eigenem Telefon. Jeden Abend nehmen wir Kontakt auf, sind aufgeregt, schauen immer wieder auf die Uhr, weil wir wissen, dass der andere in der Ferne wartet. Zuerst läßt er bei mir das Telefon klingeln, dann lasse ich bei ihm das Telefon klingeln. Viermal. Unser Abendritual. Erst danach sind wir beruhigt. Alles ist gut. Er denkt noch an mich. Ich denke noch an ihn. Und unsere Gedanken verbinden sich miteinander. Ganz eng. Irgendwo. Hoch über uns in Raum und Zeit. Das machen wir tatsächlich täglich, vier Jahre lang, und schreiben einander auch täglich, nur kommen die Briefe nicht wie erhofft jeden Tag, sondern oft in der falschen Reihenfolge und als Stapel. Ich habe Hunderte seiner Briefe. Er hat genauso viele von mir, wenn er sie nicht längst fortgeworfen hat. Bestimmt hat er das. Sie waren mein Tagebuch damals, anderen Aufzeichnungen habe ich kaum aus unserer Zeit, daher würde ich sie heute gern noch einmal lesen.

Die feierliche Stille im Druidenhain erinnert mich an die kühle Stimmung in gotischen Kathedralen. Um uns herum wispert die Natur, unter unseren Füßen raschelt das Laub, der Wind schenkt uns Spinnwebfäden und lose Blätter, läßt sie nur für uns taumeln und tanzen. Manchmal greift er mitten ins Laub, wirft es lachend in die Luft und dreht sich glücklich im bunten Blätterwirbel. Manchmal steht er auch ganz still und versunken und schaut in die Ferne wie in die Zukunft. In der Nähe scheint es einen Bach zu geben, ich höre deutlich Wasser murmeln. Ihn freut, dass ich es ebenfalls wahrnehme. „Strange, isn’t it? Because there is no water here!“ Wirklich, weit und breit kein Wasser! Wie ist so etwas möglich? Vielleicht war hier einst eine Quelle? Vielleicht ist sie noch da? Unterirdisch? Der Geruch von Pilzen, Erde, feuchtem und trockenem Laub und die warme Gegenwart der großen Tierleiber. Heute trägt er seinen Norwegerpulli und ich meine weinrote Strickjacke.

Eichenlaub (phydc/pixabay)

Wie immer, wenn wir hier sind, spielen wir „Follow my voice“. Wie lange habe ich daran nicht mehr gedacht.

Ich schließe die Augen, höre ihn fortgehen, es schmerzt, dass er sich von mir entfernt, eine Weile höre ich noch seine Schritte, dann wird es immer stiller und ich bekomme Angst, würde am liebsten die Augen öffnen, weil ich fürchte, dass ihn der geheimnisvolle Ort mit Haut und Haaren verschluckt haben könnte. Denn unter all der Friedlichkeit liegt etwas Unheimliches, das Ehrfurcht gebietet. Ich fühle mich allein und verloren und gleichzeitig auf angenehme Weise aufgeregt, freue mich auf das Ende unseres Spiels, freue mich darauf, ihn zu finden.

Aber ich habe versprochen, die Augen geschlossen zu halten, also warte ich geduldig, bis ich seine Stimme höre, die leise meinen Namen ruft. Immer wieder. Von weither. Dann von sehr weither. Ich strecke die Arme aus wie eine Schlafwandlerin und folge seiner Stimme. Quer über die Weide, ein endloser Gang, keine Ahnung, wo ich gerade bin, ich folge nur seiner Stimme. Meine Füße bewegen sich vorsichtig, denn der Boden ist zwar weich und federnd, doch an einigen Stellen matschig und uneben. Ich könnte stolpern oder ausrutschen. Und überall liegen cowpats, in die ich nicht treten möchte. Merkwüdigerweise passiert das nie. Jetzt kommt seine Stimme aus einer anderen Richtig und ich drehe mich nach links, gehe weiter, bis die Stimme näher und näher klingt und ich mich endlich in seinen Armen wiederfinde. Sein Gesicht ist feucht und kühl vom Herbst und er nimmt mein Gesicht in beide Hände, küßt meine Stirn und meine Haare. Mit einem untrüglichen Sinn, den ich nicht benennen kann, spüre ich seinen Körper immer schon lange bevor ich ihn erreiche. Meine Schritte werden immer sicherer, finden mühelos ihren Weg, als würde mich ein starker Magnet anziehen. Als wir uns jetzt umarmen und halten, bin ich so glücklich, dass es mich fast zerreißt. Grenzenloses Vertrauen, perfect bliss, hier zwischen den Druidenbäumen im englischen Herbst, wo es außer uns keine Menschen mehr gibt, nicht hier und nirgendwo sonst auf der Welt. Der Nebel verwebt uns, bis wir uns in einander auflösen.

Jetzt schließt er die Augen und ich entferne mich, verlasse ihn widerstrebend, schreite zwischen den Tieren hindurch in die fernste Ecke der Weide, direkt unter die Eichen, lehne mich an einen der Stämme. Dort bleibe ich und beschließe, diesmal meine Position nicht zu verändern. Ich rufe ihn und sehe, wie er sich vorsichtig in meine Richtung aufmacht. Anders als sonst schließe auch ich jetzt die Augen, um blind zu rufen, in der absoluten Gewissheit, dass er mich finden wird. Ich möchte herausfinden, ob ich sein Näherkommen tatsächlich spüre, wenn ich ihn nicht sehe, und ja, auch diesmal verstärkt sich das Magnetgefühl, nur dass diesmal ich der Magnet bin und ihn anziehe. Endlich stehen wir einander gegenüber, beide mit geschlossenen Augen, und es passiert etwas überaus Merkwürdiges. Ich spüre, wie zu unseren Füßen Blumen aus dem Boden sprießen. „Can you feel that?“ frage ich verwundert. Seine Stimme lächelt. „Of course. Like a tiny island of blossoms.” Später finde ich eine Postkarte, auf der ein Liebespaar im Schnee steht, nur um ihre Füße herum ist der Schnee geschmolzen und es blühen lauter Frühlingsblumen. Das Bild hing viele Jahre neben meinem Schreibtisch.

Plötzlich meldet sich die Angst. „Do you think we will always stay together? Even after you have gone back to Germany?” Daran will ich jetzt mitten im Glück nicht denken. Dass wir schon bald weit weg voneinander sein werden, weil ich mein Studium noch abschließen muss. Wir werden in unterschiedlichen Ländern sein, ein furchtbarer Gedanke. Ich wehre mich gegen die Angst, will nur an die Liebe glauben, obwohl ich ahne, dass Ferne und Abwesenheit uns auseinander zwingen werden. Ich weiß sehr wohl, dass uns jeder Tag dem Abschied näher bringt, aber ich will auch daran nicht denken. „Don’t go. Please. Don’t go. Why don’t you just stay?“ Ich bin hin und her gerissen. Vielleicht sollte ich wirklich bleiben. Hier bei ihm. Im Glück. Mir hier eine Arbeit suchen. Doch dann verschwinden alle störenden Gedanken, denn uns schützt der Druidenhain. Paradise. Where the dance is. Where the worlds meet. Follow my voice.

Wir haben doch noch so viele Monate, versuchen wir einander zu trösten. Dann schwört er, dass er immer, so lange er lebt, an mich denken wird, wenn er diesen Ort besucht. „Cross my heart and hope to die.“ Heute bin ich mir sicher, dass ich bei jedem Besuch im heiligen Hain ein kleines Stückchen meiner Seele zurückgelassen habe, und dass sich dabei auch die Eichen tief in mir verwurzelt haben, so dass ich sie und ihn stets finden werde, wenn ich zurückblicke durch mein langes Leben fern von diesem ungewöhnlichen Jungen mit den blauen Augen und den verwuschelten Haaren. Ich hoffe, dass es ihm gut geht. Dass er glücklich ist. Dass er nicht allein ist. Dass er jetzt, in diesem Moment, nicht traurig ist.

The still point of the turning world. Where the dance is. And only the dance. I can only say, there we have been: but I cannot say where. And I cannot say, how long, for that is to place it in time. Der Druidenhain ist aus der Zeit gefallen. Vielleicht gab und gibt es ihn tatsächlich nur für uns. Er wird so lange existieren wie meine Erinnerungen. Ich wünsche mir, dass sie mir nicht genommen werden. Zweimal habe ich aus nächster Nähe mitansehen müssen, was passiert, wenn Erinnerungen ausgelöscht und geraubt werden, wenn Lebensgeschichten verdämmern und spurlos verschwinden. Wenn ein Mensch schon erloschen ist, obwohl er noch lebt.

In that open field, if you do not come too close, if you do not come too close.  Noch gibt es den Druidenhain. Doch jetzt verändert er sich. Der Junge verschwimmt, es wird Nacht, über den Bäumen hängt der Laternenmond. Zwischen den Mistelbüschen klebt schwarz wie ein Scherenschnitt ein leeres Nest, zerzaust von Jahrzehnten der Abwesenheit. The houses are all gone under the sea. The dancers are all gone under the hill. Die sanften Kühe sind fort und unsere Stimmen verweht. Oder doch nicht ganz? Unendlich leise höre ich ihn aus der Ferne meinen Namen rufen. Follow my voice! Die Schatten wachsen. Bald kommt der Herbst. Selbst der Winter hat sich schon längst auf den Weg gemacht.

Eiche (pixabay)

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