Herzlich willkommen!

Krispin, Stellaluna, Hathaway

Herzlich willkommen auf meiner Homepage

Hier finden Sie außer Informationen zu meinen fertigen und in Arbeit befindlichen Büchern auch Beiträge zu meinen Katzen und wichtigsten Lebensthemen (Kindheit, Hochsensibilität, Angst, transgenerationale Weitergabe von Traumata). In den letzten Monaten hat mich neben dem Krieg in der Ukraine und der Corona-Pandemie auch die Aufarbeitung der „Verschickungen“ beschäftigt, die unzählige Kinder hier in Deutschland erleben mussten. Ich verbrachte als kleines Mädchen Mitte der 1960er Jahre ebenfalls sechs endlose Wochen in einem „Kindergenesungsheim“ und habe darüber mehrere Beiträge geschrieben („Das Kind braucht Luftveränderung“), aber auch andere Betroffene zu Wort kommen lassen.

Zum Glück gibt es auch Schönes und Hoffnungsvolles zu berichten oder zu erinnern. Zum Beispiel aus dem Mausland, in dem es weder Krieg noch Pandemien gibt. Die Mäuse hatten schon mehrfach Journalistenbesuch, und sind sogar zwei kleine Filme über sie gedreht worden. In der Zeitschrift „American Miniatures“ gab es gar einen ausführlichen Artikel über die Mäuse und mich – mit vielen Fotos. Auf Instagram hat unsere Seite @cheddarandmozzarella inzwischen über 15.000 Follower. Die Mäuse haben auch eine Facebook Seite „Cheddar & Mozzarella“.

Meine geduldige Maine Coon-Assistentin Alice musste mich leider im vorigen Jahr verlassen, nachdem sie fast 18 Jahre mein Leben geteilt hat. Aber ein Leben ganz ohne Katzen war für mich so unerträglich, dass inzwischen wieder drei junge Coone durchs Haus toben: Hathaway, Krispin und Stellaluna. Über sie werde ich in diesem Jahr viel zu schreiben haben, denn sie halten mich ordentlich auf Trab. Ihre Lebenslust und Energie kennt keine Grenzen, was inzwischen auch etliche Möbel und das alte Treppenhaus zu spüren bekommen haben.

Momentan überarbeite ich meinen Köln-Roman, stelle ein Sammlung meiner Erzählungen zusammen und schreibe an meinem Katzenbuch weiter, das ich vor einigen Jahren angefangen habe. Die drei lustigen Wirbelwinde sorgen täglich für neue Überraschungen. Außerdem plane ich eine Veröffentlichung meiner Geschichten Rooms and Stories.

Ich freue mich, dass Sie meine Seite gefunden haben, und wünsche Ihnen einen hellen Tag!

Alice Pumpkin Cat (BFL)

 

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Rooms and Stories – Auf der Schwelle

Der graublaue Augenblick, den ich so deutlich vorhergespürt hatte, gehörte einem dunkelhaarigen jungen Engländer, der gleich bei meiner Ankunft im Flur des Europäischen Jugendhauses stand und belustigt zusah, wie ich meinen schweren roten Koffer die Eingangsstufen hochwuchtete. „Du hast zu viel mitgebracht“, meinte er, womit er eindeutig richtig lag, vor allem, wenn man an mein unsichtbares Gepäck dachte. Zu Irmis und meiner Enttäuschung gab es bisher nur Deutsche in unserer Gruppe, die im Laufe des Tages noch sehr viel größer und deutscher wurde, als ein ganzer Bus mit jungen Pfälzern aus Frankenthal eintraf, deren Dialekt für mich zunächst unverständlich war. „Babbelanebleed“ und „Gebabbele“ waren die ersten Lautfolgen, die ich eindeutig identifizieren konnte.

Der junge Engländer, mit dem ich im Laufe des Tages noch weitere Augenblicke austauschen sollte, war als „Haushelfer“ und „Programm-Mitarbeiter“ Teil des Betreuerteams, er war Student, stammte aus London und war erst vor wenigen Tagen in Oberammergau eingetroffen. Er sollte bis Ende August bleiben und wir waren seine erste Gruppe. Die Neuankömmlinge wurden auf die verschiedenen Schlafräume des Jugendhotels verteilt, Irmi und ich landeten in einem Vierbettzimmer, wieder in Etagenbetten, und Irmi, der es offenbar nichts ausmachte, unten zu schlafen, überließ mir auch diesmal großzügig den oberen Schlafplatz.

Wir verbrachten den Großteil des Tages mit den ausgelassenen Pfälzern und erforschten den hübschen Ort mit den bunt bemalten Häusern. Dass hier so auffallend viele Männer biblische Bärte trugen, lag sicher daran, dass die meisten bei den Oberammergauer Passionsspielen mitmachten. Die gab es schon seit 1633, lasen wir verwundert, damals hatten die Bewohner während der Pest gelobt, alle zehn Jahre „das Leiden und Sterben Christi“ aufzuführen, falls keine weiteren Bewohner mehr von der Seuche dahingerafft würden. Tatsächlich starb fortan wunderbarerweise niemand mehr an der Pest, woraufhin die Oberammergauer ihr Gelübde einhielten. Ganze fünf Stunden dauert eine Aufführung. Die dreistündige Pause mitgerechnet, muss man sogar acht Stunden einplanen. Zu meiner Erleichterung stand keine Aufführung auf unserem Programm. Die letzte war erst 1970 gewesen.

Nach dem anstrengenden Tag voller Stimmen und Eindrücke und der unbequem durchwachten Zugnacht kam ich mir so unwirklich vor, als wäre ich ohne Skript und Regieanweisung rein zufällig mitten in ein malerisches Filmset geraten. Ich wollte nur noch schlafen, wenn doch bloß meine innere Anspannung nicht gewesen wäre. Sie erreichte ihren Höhepunkt, als ich plötzlich wieder dem jungen Engländer mit den graublauen Augen gegenüberstand und endlich begriff, was mich die ganze Zeit so beunruhigt hatte. Auch diesmal befanden wir uns im Flur. Ich war schlagartig wach und entschied, nicht wie geplant mit den anderen Mädchen nach oben zu gehen, sondern bei ihm zu bleiben. Nach und nach verschwanden sämtliche Jugendgäste in ihren Zimmern, bis zum Schluss nur noch wir beide übrig waren.

Gemeinsam gingen wir nach draußen und machten es uns auf den Haustürstufen bequem. Ich weiß nicht, wie lange wir so beieinandersaßen und in dem später für uns typischen Sprachengemisch aus Deutsch und Englisch über unsere Länder, über Gott und die Welt, Bücher, Gedichte, Filme und Musik redeten, als würden wir uns seit Ewigkeiten kennen. In der Erinnerung waren es etliche Stunden, in Wirklichkeit trennten wir uns wohl schon nach zweieinhalb Stunden gegen Mitternacht, und ich musste mich im Dunkeln in mein Bett tasten. Ich war glücklich, aufgeregt, gespannt, verwirrt und besorgt. Etwas überaus Wichtiges war geschehen, in der Rückschau erscheint es mir heute eindeutig und überklar. Wir hatten eine geheimnisvolle Schwelle gefunden, die vor allem den Lauf meines Lebens auf Dauer in andere Bahnen lenken würde, und wir hatten diese Schwelle gleich am ersten Abend gemeinsam und ohne zu zögern überschritten.

Danach ergab sich alles von selbst. Eine Weile noch gingen wir vertraut Hand in Hand weiter, dann trennten sich unsere Pfade. Doch ein feiner spinnwebzarter Faden ist bis heute geblieben, denn wir haben einander in all der Zeit nie ganz aus den Augen verloren.

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Rooms and Stories – Alpen-See-Express

night train (Gruu/pixabay)

Es gibt Momente, Stunden, Tage, Nächte, in denen das Leben unerwartete Wendungen nimmt, die seinen weiteren Lauf in andere, neue Bahnen lenken. Augenblicke, in denen sich Fenster mit Landschaften auftun, von deren Existenz man bis dahin nichts ahnte. Augenblicke, in denen sich fremde Schicksale miteinander verweben. Augenblicke, in denen sich Türen öffnen, vor deren Schwellen man nachdenklich verweilen, an denen man achtlos vorübergehen kann oder über die man beherzt treten muss. Inzwischen weiß ich, dass ich diese Augenblicke und Schwellenzeiten fast immer vorher spüre, als würden sie ihre Schatten in beide Richtungen werfen, ins Vorher und Nachher.

In der Nacht vom 27. auf den 28. Juni 1973 befinde ich mich im Alpen-See-Express, der von Dortmund nach Garmisch-Partenkirchen unterwegs ist. Ich gehe noch zur Schule, werde im nächsten Jahr Abitur machen. Gemeinsam mit meiner Freundin Irmi bin ich auf dem Weg nach Oberammergau. Wir haben eine internationale Jugendreise mit „Fahr mit“ nach Bayern gebucht, stellen es uns schön vor, Gleichaltrige aus anderen Ländern und Kulturkreisen kennenzulernen. Ich weiß nicht mehr, wer von uns beiden die Idee hatte und warum es ausgerechnet Oberammergau wurde. Ich meine, dass wir ursprünglich in den Norden, ans Meer, wollten. Endlich bin ich richtig weit weg von zu Hause und von meinem Freund, mit dem ich seit drei Jahren zusammen bin. Er findet die Idee überhaupt nicht gut und hat alles versucht, sie mir auszureden, aber ich habe mich nicht abbringen lassen. Diese Reise ins Europäische Jugendhaus muss einfach sein.

Eigentlich sollte ich jetzt auf dem ruckeligen Schlafwagenbett liegen, aber das Vierer-Abteil im Wagen 99 ist unangenehm stickig. Fast eine Stunde lang habe ich versucht einzuschlafen, doch Beklommenheit, Herzklopfen und die Geräusche der Schlafenden haben mich gestört, daher habe ich meinen Platz (95, oben) verlassen, was im Dunkeln gar nicht so einfach war.

Jetzt bin ich draußen im Gang, um die Lichter der Nacht, die verlassenen Bahnhöfe und die ländliche Finsternis vorbeifliegen zu sehen. Manchmal klappe ich mir einen Sitz herunter, doch lieber noch stehe ich an den schwarzen Fenstern. Ich bin allein, alle anderen scheinen zu schlafen. In dieser Nacht begegnet mir nur der Schaffner, der kurz nach dem Rechten sieht und mir stumm zunickt. Ich stelle mir vor, ich wäre ein guter Geist, der über die Träumenden wacht. So lange ich hier bin und aufpasse, kann ihnen nichts passieren.

Ein Fenster ist oben einen Spalt breit offen und ich genieße es, wenn der Wind mich trifft und mein Haar zaust. Sicher sitzt ein erfahrener Lokführer vorn im Führerstand, um uns wie ein fürsorglicher Vater sicher an unser Ziel zu bringen. Ich vertraue ihm und fühle mich auf merkwürdige Weise geborgen.

Ich sehe mich in der Scheibe. Jung, schmal, müde, langes dunkles Haar, Mittelscheitel, großäugig, nachtblass. Ich weiß, dass dieser Zug mich in ein neues Lebenskapitel fährt, und verspüre Angst und Vorfreude. Tatsächlich bin ich so aufgeregt, dass ich während der ganzen Nacht kein Auge zutun werde. Ich mag die gleichmäßigen Bahngeräusche, vor allem das rhythmische Dadamm-Dadamm, Dadamm-Dadamm, Dadamm-Dadamm.

Irgendwann bin ich so müde, dass sich mein Kopf übergroß und wattig anfühlt. Trotzdem kehre ich nicht ins Abteil zurück. Der enge leere Gang bleibt mein Zimmer in dieser langen Nacht.

In Oberammergau gibt es jemanden, dem ich mit jedem Kilometer näherkomme. Ich spüre es nicht nur, ich weiß es.

night train (Vince Gx/pixabay)

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Rooms and Stories – Köln Klettenberg

Turtle (Ana Singh/unsplash)

Früher war die Wohnungssuche äußerst mühselig, besonders für Studenten (dieses Problem ist offenbar geblieben, aber zumindest gibt es heute Immo Scout). In den 1970er und 1980er Jahren gab es weder Mails noch Internet und die meisten von uns hatten nicht mal ein eigenes Telefon, also blieben uns nur öffentliche Telefonzellen, die Vermittlung des ASTA/Studentenwerks (heute natürlich Studierendenwerk) und das schwarze Brett in der Mensa, wo regelmäßig Zimmer und Wohnungen angeboten wurden, sowie die Kölner Tageszeitungen, die mittwochs und samstags seitenweise Mietangebote abdruckten. Um einen der begehrten Besichtigungstermine zu ergattern, musste man sich bereits dienstags- oder freitagsabends zu Dumont in der Breite Straße begeben, um bei Wind und Wetter für die frisch gedruckte Ausgabe Schlange zu stehen, was eine gefühlte Ewigkeit dauerte, aber man lernte dabei gelegentlich auch nette Leute kennen oder traf alte Bekannte. Am besten ging man zu zweit, eine Person besorgte die Zeitung, während die andere mit genügend Münzen in der Tasche eine Telefonzelle in der nahegelegenen Ladenstadt blockierte oder, netter gesagt, „reservierte“.

In meinem Fall war die zweite Person meine damals beste Freundin Karla. Wir waren während unserer gesamten Studienzeit nahezu unzertrennlich, haben uns inzwischen aber seit fast dreißig Jahren aus den Augen verloren. Unsere Zimmersucheinsätze waren häufig, erfolglos und frustrierend. Die meisten Wohnungsanbieter hoben nicht ab oder waren dauerbesetzt, weil sie den Hörer neben den Apparat gelegt hatten oder mit anderen Interessenten redeten. Die wenigen, zu denen man durchdrang, waren verärgert, weil man sie zu dieser Uhrzeit oder überhaupt störte, oder teilten einem unfreundlich mit, dass man zu spät komme oder dass sie keine Studenten als Mieter wollten. Ich kann mich nicht mehr erinnern, ob wir Karlas Wohnungen auf diese Weise fanden, wohl aber an unseren Frust an den Suchabenden. Meistens endeten wir danach im „Bepi“ und trösteten uns mit Pizza, Lasagne oder Tortellini alla Panna.

Karlas erstes Zimmer war möbliert und lag strategisch äußerst praktisch in Klettenberg. Genau an der Endhaltestelle der Straßenbahn, die dort im großen Bogen dreht und anschließend in die Stadt zurückkehrt. Zu dem mittelgroßen, leider ziemlich dunklen Raum gehörte ein großzügiger gemauerter Balkon, von dem aus man (unsichtbar, beide) Melonenkerne auf den gewöhnungsbedürftigen Sohn der Vermieter schnipsen oder laut und durchdringend wie eine Katze (nur ich) miauen konnte, woraufhin unten im Garten sämtliche Menschen aufgeregt hin und her liefen und wie wild nach dem vermeintlichen Tier suchten, während wir in unsrem Versteck leise kicherten. Im Haus gegenüber wohnte ein Pärchen, das wir Romeo und Julia nannten, denn genauso verhielten sie sich, gut sichtbar für alle interessierten Zuschauer. Ich glaube, sie legten es darauf an, beobachtet zu werden, denn sie zogen die Vorhänge und Gardinen nie zu. Im Sommer waren sie mitunter auch gut zu hören.

Auf Karlas Balkon trank ich zum ersten Mal Rotwein, war zum ersten Mal beschwipst und fand das Leben schlagartig ungemein erheiternd und sorgenfrei. Wenn ich mich recht erinnere, hatte ich dabei sogar eine merkwürdige Vision, in der weiße und blaue Seelen munter im Wind an einer Wäscheleine flatterten, womit Karla mich tagelang aufzog. Da ich die Zahl der Weinflaschen, die ich insgesamt in meinem Leben konsumiert habe, an einer Hand abzählen kann (meine Alkoholunverträglichkeit lässt sich nur bei Gin gelegentlich auf Kompromisse ein), ist die in Karlas Beisein getrunkene Menge lebenslaufmäßig geradezu beachtlich und mir daher gut in Erinnerung. Normalerweise bekomme ich schon von homöopathischen Mengen Hautausschlag, Kopfschmerzen und Herzrasen. Nicht so an jenem Abend auf dem Balkon. Karla hatte gekocht, ich glaube, ein Nudelgericht, und ich weiß noch, wie angenehm entspannt ich mich fühlte. Ich wüßte gern, wie dieser Wunderwein hieß.

Der Raum war spartanisch möbliert und Teil einer Art WG, die von einer sehr netten anderen Studentin und dem gewöhnungsbedürftigen Sohn der Vermieter mitbewohnt wurde, es gab kein Telefon und nur ein gemeinsames Bad im Flur. In Karlas Zimmer gab es zwar fließend Wasser, aber leider keine Kochnische. Karla organisierte sich schon bald zwei Kochplatten und hatte die geniale Idee, dahinter und darüber alles aufzuhängen, was sie ärgerte, suboptimale Scheine von der Uni, kryptische Bescheide von Ämtern und unsensible Briefe von Leuten, die sie nicht mochte. Mit der Zeit war ihre Collage über und über mit Fettflecken bedeckt, was nicht nur interessant anzusehen war, sondern auch der verletzten Seele ungemein guttat. Ich weiß nicht mehr genau, ob Karla schon in dieser Wohnung anfing, Schildkröten zu sammeln, weil der Mann, den sie liebte, mich an eine Schildkröte erinnerte und wir ihn daher Turtle nannten. Auf jeden Fall denke ich beim Anblick von Schildkröten bis heute sofort an sie. Und an ihn.

Karlas Zimmer waren immer voller Musik, in jener ersten Wohnung sangen Wolf Biermann, Hannes Wader, Joni Mitchel und Arlo Guthrie für uns, aber vor allem André Heller und Leonard Cohen. Letzteren hatten wir gemeinsam an einem dunklen kalten Abend in der Cinemathek entdeckt. Es war Karlas Idee gewesen, sich den Film „Bird on a Wire“ anzusehen, auf dem Weg dorthin meinte sie noch entschuldigend: „Der gefällt dir bestimmt nicht!“ Nie hat sie falscher gelegen! Leonard Cohen wurde meine große Liebe und ist bis heute mein favourite Singer Songwriter, nur seine letzten Alben mag nicht, weil ich die grabestiefe, trockene alte Stimme nicht ertrage. Sie deprimiert mich, klingt nach klebrigen Mundwinkeln und macht mir Angst vor Alter und Tod. Die junge, sehnsuchtsvolle Stimme dagegen hat bis heute nichts von ihrem knisternden Wallungsfaktor eingebüßt und mich im Laufe meines Lebens oft getröstet und verstanden und bei mindestens zwei meiner männlichen Freunde zu erschreckend heftigen Eifersuchtsanfällen geführt. Eifersucht auf eine STIMME! Ich habe ihn bisher trotzdem immer und überall bei mir gehabt, lange hing sogar ein Portrait von ihm an meiner Wand. Mit Karla hörte ich vor allem seine frühen Platten „Songs of Leonard Cohen“ und „Songs from a Room“.

Das Bett in der Klettenberger Wohnung stand auf dünnen Wackelbeinen, man hatte ein wenig Sorge, es durch eine unbedachte Bewegung zum Zusammenbruch zu bringen, doch es erwies sich letztendlich als erstaunlich robust. Zum Glück hatte Karla eine extra Matratze, wenn es zu spät, zu unbequem oder zu gefährlich war, um allein mit der Straßenbahn heimzufahren. Also relativ häufig. Ich wohnte zu dieser Zeit noch in dem katholischen Studentinnenheim mit der strenger Hausordnung in der Nähe des Volksgartens, von dem ich bereits geschrieben habe, zuerst im Doppelzimmer, später in einem im Sommer stark überhitzten Einzelzimmer unter dem Dach, wo bei höheren Außentemperaturen die Luft stand und die Kerzen nur so dahinschmolzen. Männliche Besucher waren im Heim ausdrücklich unerwünscht und durften eigentlich nur im Gemeinschaftsraum im Keller getroffen werden. Feste Freunde waren damit in den meisten Fällen so gut wie erledigt und blieben dem Ort freiwillig fern. Mit einer Ausnahme: Es gab eine Studentin, die ein großes Eckzimmer bewohnte und gleich zwei Partner hatte, die voneinander nichts ahnten und sich nach einem genial ausgeklügelten Plan regelmäßig zu unterschiedlichen Zeiten bei ihr einfanden. Es funktionierte perfekt, und wir haben sie alle heimlich beneidet. Ich habe mich oft gefragt, wie sie es geschafft hat, dass sie nie bei der Heimleitung verpetzt wurde und dass ihr Doppelleben nie aufflog.

Die wenigen Male, die Karla bei mir übernachtet hat, gab es jedenfalls mehrfach ärgerliche „Zwischenfälle“. Einmal wurde die Heimleiterin gerufen, weil ich zwei Tassen aus meinem Küchenfach mit in mein Zimmer genommen hatte. Ich war allein in der Küche, nahm wie immer die geniale Abkürzung durch Sakristei und Kapelle (direkt neben meinem Zimmer) und habe während der ganzen Zeit keine Menschenseele gesehen. Trotzdem muss es eine Spitzelin gegeben haben, ich hegte auch einen gewissen Verdacht, konnte aber nichts beweisen. Die Heimleiterin betrat schon kurz darauf nach höflichem Anklopfen das Zimmer, um sich zu vergewissern, dass auch nichts Anstößiges im Gange war, sah uns harmlos beim Tee sitzen, entschuldigte sich peinlich berührt und verschwand. Nicht auszudenken, wenn Karla ein männliches Wesen gewesen wäre. Nach neun Jahren Klosterschule und drei Jahren katholischem Studentinnenheim war ich übrigens recht lange ziemlich paranoid, und ich schaue mich bis heute immer noch mißtrauisch um, bevor ich etwas Unnettes über andere Leute sage.

Während der Einzelzimmerzeit machte es abends deutlich mehr Spaß, nach Kino- oder Theaterbesuchen gemeinsam mit zu Karla nach Klettenberg zu fahren als allein in das schräge Zimmer zurückzukehren, denn sie konnte im Gegensatz zu mir gut kochen, hatte genug Platz und einen eigenen Plattenspieler. Zudem war ihr Zimmer auch im Sommer angenehm kühl. Es war eine ganz besondere Stimmung, wenn Leonard Cohen in der Dunkelheit von weither ganz allein nur für uns sang. „Suzanne“, „Winter Lady“ und „So long Marianne“ waren damals meine besonderen Favoriten. Das letzte dieser Lieder hat, ich muss es zu meiner großen Schande gestehen, tatsächlich einmal (von der richtigen Person gesungen) eine eigentlich bis dahin intakte Beziehung schlagartig und nachhaltig ruiniert, doch das ist eine längere, ziemlich komplizierte Geschichte. Auch der klagende Wienersound von André Hellers Musik und Poesie beamt mich bis heute zurück in Karlas Zimmer, doch diese Musik höre ich bewußt nur selten, denn sie ist so eng mit Karla verknüpft, dass sie mich traurig macht. Besonders gern hatten wir beide „Schön ist’s ein Narr zu sein“, das ich bis heute auswendig kann. „Die Narren des Königs saßen am Ufer der Nacht, lauschten dem Tamburin des Mondes, das die Stille bewacht. Sie zogen den Schnee mit Netzen ans Land und schmückten ihn mit Dukaten. Und ihre Kappen leuchteten, wie Segel von Piraten.“

Bei Karla sprachen und sangen die Dichter, allen voran Bert Brecht. Besonders oft hörten wir in meiner Erinnerung die „Ballade von der Hanna Cash“, gesungen von Hannes Wader. Einige Zeilen daraus sind mir im Kopf geblieben: „Das war die Hanna Cash mein Kind, die die Gentlemen eingeseift, sie kam mit dem Wind und sie ging mit dem Wind, der durch die Gassen läuft“. Ich höre noch Hannes Waders Stimme und seine Gitarre: „Und sie war wie eine Katze in die große Stadt geschwemmt, eine kleine graue Katze, zwischen Hölzer eingeklemmt, zwischen Leichen in die schwarzen Kanäle“.  Auch der „Barbarasong“ hat ein fernes Echo, diesmal ist es eine Frauenstimme: „Ach, es schien der Mond die ganze Nacht, Und es ward das Boot am Ufer losgemacht, Und es konnte gar nicht anders sein. Ja, da muss man sich doch einfach hinlegen, Ja, da kann man doch nicht kalt und herzlos sein! Ja, da musste so viel geschehen, Ja, da gab’s überhaupt kein Nein.“ Auch die Seeräuber Jenny lässt in meiner musikalischen Erinnerung bis heute die Köpfe rollen.

Karla gab ihr kühles Klettenbergzimmer auf, als wir Köln verließen, um als Assistent Teachers in England zu arbeiten. Dort trennten sich unsere Wege vorübergehend, doch wir blieben telefonisch und brieflich in Kontakt und trafen uns regelmäßig in London oder bei mir in Gravesend. Karla wohnte leider bei einer arg gestörten Gastfamilie, deren männliches Oberhaupt sich selbst für „tall, dark, and handsome“ hielt. Tall und dark war er tatsächlich. Handsome eindeutig nicht. Not at all!

Zurück in Köln waren wir wieder zusammen. Bis eines Tages der Schnee in unsere Seelen fiel und wir einander aus für mich unerklärlichen Gründen gänzlich und wohl für immer verloren.

Turtle (Francesco Ungaro/unsplash)

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Rooms and Stories – Vaterzimmer

Anfang November 1975 kommt der Fremde, der bis vor kurzem noch Freund und Geliebter war, aus Köln in ihr Elternhaus, um sich förmlich und für alle Zeiten aus dem Familienleben zu verabschieden. Das gehört sich so, meint er, immerhin ist er fast sechs Jahre lang hier ein und aus gegangen, da kann man nicht ohne Erklärung von heute auf morgen wegbleiben. Sie würde sich das nicht trauen an seiner Stelle. Mit der Mutter hat sich der Fremde nicht sonderlich gut verstanden, sie ist ihm nach den ersten Katastrophen mit Misstrauen begegnet und hat das böse Ende schon damals kommen sehen. Den frühen Treuebruch hat sie ihm nicht verziehen, zu sehr hat sie mit ihrer Tochter gelitten. Auch die Tochter hat diese erste Verletzung nicht verwunden. The first cut ist he deepest, besonders, wenn man erst fünfzehn ist. Der Vater dagegen hat ihn mit Nachsicht behandelt und als eine Art Sohn betrachtet. Der Grund ist klar. Die beiden sind sich in vielerlei Hinsicht ähnlich, was den Vater milde stimmt und die Mutter argwöhnisch macht. Sie will verhindern, dass die Tochter dieselben Erfahrungen machen muss wie sie, was ihr nicht gelingt.

An diesem Novembertag ist der Vater hin und her gerissen zwischen der Liebe zu seiner Tochter und dem Verständnis für den jungen Fremden. Seitensprünge, Trennungen und dramatische Auftritte kennt er zu Genüge aus seinem eigenen Leben. Die Tochter spielt heute nur eine Nebenrolle, bleibt vor allem Statistin und kann nicht glauben, dass der Fremde tatsächlich für immer geht. Die Liebe, die sich so lange tapfer und leidenschaftlich auf dem brüchigen Fundament gehalten hat, wird diesen Tag nicht überleben.

Zu dritt gehen sie hinauf ins Zimmer des Vaters im ausgebauten holzverkleideten Dachgeschoss der Doppelhaushälfte. Die Tochter setzt sich auf das Couchbett unter die Schräge und starrt die ausgestopften Vögel am Kamin an. Käuzchen, Elster, Bussard, Stockente, Gänseküken. Der junge Fremde mit dem vertrauten Gesicht setzt sich auf den linken, der Vater, dem man seine Erschütterung ansieht, auf den rechten hellbraunen Ledersessel.

„Ich muss Ihnen was sagen, aber ich glaube, Sie wissen es schon“, beginnt der junge Mann gleich nach der Begrüßung seinen Monolog. „Ich habe in Köln jemanden kennengelernt.“ Er fasst sich kurz, will den letzten Auftritt hier möglichst schnell hinter sich bringen. Die Szene ist ihm peinlich, wird durch das doppelte Schweigen nicht leichter, aber er steht sie durch. Die Tochter kann ihm nicht zuhören, sie braucht all ihre Kraft für sich selbst, denn ihr Innerstes ist dabei sich aufzulösen. Bewegungslos, nur das Kinn zuckt gelegentlich, sitzt sie auf dem Bett. Weint. Lautlos. Unaufhörlich rinnen die Tränen. Sie hat keine Kontrolle über ihre Augen. Der Vater blickt immer wieder zu ihr hinüber, wirkt verstört, hat sie noch nie so weinen sehen, kann sich nur mit Mühe beherrschen. Seine Stirnader verrät, wie Wut, Liebe und Mitleid in ihm kämpfen.

Die Tochter vermutet, dass Schwester und Mutter an der Tür lauschen. Sollen sie ruhig. Sie gehören ebenfalls zur Schlussszene, auch wenn die Kontrahenten im Zimmer den Dialog offenbar als Männersache betrachten. Beim Vater wird um die Hand der Tochter angehalten, das hat der Fremde im Laufe der Jahre mehr als einmal direkt und indirekt getan, dem Vater gibt man sie am Ende der Beziehung auch wieder zurück.

Der Fremde kommt zum Schluss, sagt, dass ihm das alles wirklich sehr leid tue, was möglicherweise sogar stimmt. Die letzten Sätze kommen ihm leicht über die Lippen, denn sie bedeuten, dass sein Auftritt überstanden ist. „Ich wünsche Ihnen alles Gute. Vielen Dank für alles.“ Er streckt die Hand aus, der Vater ergreift sie. Oder lässt er sie in der Luft hängen? Schweigt er? Erwidert er etwas? Wünscht er dem Fremden auch alles Gute? Die Tochter nimmt nichts mehr wahr.

Sie fühlt sich leer, verlassen und taub, schaut immer nur auf den traurigen Fuchswelpen, der starr vor dem Kamin auf dem Boden hockt. Der Vater hat den armen kleinen Kerl tot auf der Straße gefunden und ausstopfen lassen, wie alle Tiere hier im Zimmer. Er kann genauso wenig mit dem Tod umgehen wie seine Tochter. Diese schönen Geschöpfe, die eben noch quicklebendig durch den Wald liefen oder flogen, einfach liegen und verrotten zu lassen oder lieblos zu entsorgen, bringt er nicht übers Herz. Ausgestopft sind sie zumindest noch da, man kann sie betrachten, ihr Gefieder oder Fell bewundern, sie berühren und vorsichtig streicheln, so haben sie wenigstens noch ihr Gesicht. Außer der Tochter versteht das kaum jemand, bei einigen Besuchern löst die Sammlung eher Befremden oder Unbehagen aus. Im Raum wird es still. Nur noch das Ticken der kleinen Uhr ist zu hören. Alles ist gesagt. Die Darsteller erheben sich. Ende des Auftritts. Abgang der männlichen Hauptperson.

Kleiner Fuchs (BFL)

Szenenwechsel.

Der junge Mann geht vor ihr die Treppe hinunter, sie sieht seinen Nacken und erinnert sich, wie sie sich mit vierzehn in der Christmette in diesen Nacken verliebt hat. An Weihnachten saß sie in der Dorfkirche, auf der verbotenen Männerseite, neben dem Vater, genau hinter diesem Fremden, der von ihrer Gegenwart nichts ahnte und spürte. Vielleicht war dies die einzige wirklich romantische Szene in diesem langen Beziehungsdrama, doch außer ihr hat sie damals niemand bemerkt. Als das Mädchen auf dem harten Fußbänkchen kniete, sie konnte sein Rasierwasser riechen, berührten ihre Fingerspitzen heimlich sein Haar, nur ganz kurz, und die mächtigen, jäh aufgebrochenen Gefühle machten sie gleichzeitig glücklich, traurig und fassungslos.

Jetzt gehen sie die zweite Treppe hinunter. Die Treppen in diesem Haus sind steil. Man muss gut aufpassen. Der Vater folgt ihnen nicht, bleibt oben im Vaterzimmer, hat Mühe, sich von dem Auftritt zu erholen.

Als sie unten ankommen, verschwindet die Mutter mit versteinerter Miene in die Küche, der Abschiedsgruß des Fremden bleibt unerwidert. Die Mutter nimmt die Szene persönlich. Die kleine Schwester auch. Sie wartet bereits an der Haustür, reißt sie weit auf, starrt den Fremden verächtlich an, rennt vor ihm zum Wagen, tritt hart gegen den Vorderreifen, schreit „Du Schwein, du Schwein!“ und spuckt ihm vor die Füße. Die große Schwester muss trotz Tränen lächeln. Der Fremde umarmt sie flüchtig und murmelt Unverständliches. Wahrscheinlich hat er jetzt trotz allem Mitleid, denn er weiß wohl, wie selten sie weint. Am liebsten würde sie ihn hart ins Gesicht schlagen, doch ihre Hände wollen ihn unbedingt ein letztes Mal umarmen. Er steigt ins Auto und braust davon. Sie beginnt zu zittern, spürt die warme Hand der kleinen Schwester und weiß, dass sie ab jetzt das vertraute Motorengeräusch niemals mehr hören wird. Niemals. Ein wundes, wehes Wort.

Der Vater bleibt lange oben im Vaterzimmer und stellt sich vor, wie er den Mistkerl mit einer seiner Jagdwaffen über den Haufen schießt. Der Gedanke ist ihm schon gekommen, als noch alle oben in seinem Zimmer waren. Einfach kurzen Prozess machen. Wie im Krieg. Verräter haben es nicht anders verdient. Tatsächlich sieht der Vater tagelang aus wie nach einem Todesfall, wütet und tobt, wie er es immer zu tun pflegt, wenn er sich gedemütigt oder ohnmächtig fühlt. Er regt sich fast so sehr auf wie seine Tochter, nur in die emotionale Gegenrichtung. Er brennt, sie erfriert.

Spät am Abend, als es ihr richtig elend geht und sie sich in ihrem Zimmer eingeschlossen hat, klingelt das Telefon. Es ist ihr englischer Freund P., der unerwartet aus Cambridge anruft, weil er schon die ganze Zeit das Gefühl hat, dass es ihr nicht gut geht. Die Mutter holt sie aufgeregt nach unten, ungläubig nimmt die Tochter den Hörer auf. Dass er so fern ihren Schmerz spüren kann, tröstet sie. Auf diese tiefe Seelennähe war sie nicht gefaßt. Nach dem Gespräch kann sie zum ersten Mal seit langem ruhig einschlafen. Vielleicht gibt es ja doch eine Zukunft, denkt sie vorsichtig. Jenseits des Abgrunds.

Stockente (BFL)

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Rooms and Stories – Hotel Terminus Est, Zimmer 606

Kurz vor Beginn meines Studiums fahre ich im August 1974 mit drei gleichaltrigen Mädchen mit dem Bus nach Paris. Leider ist es keine Klassenfahrt, alle anderen Teilnehmer sind bedeutend älter als wir, sprechen nicht mit uns und schmettern während der Fahrt deutsche Schlager, bei denen wir normalerweise sofort das Radio abstellen. Wir lieben englische und amerikanische Musik. Der gemischte Kegelklub dröhnt besonders. Schon nach einer Stunde brummt uns der Kopf.

Dafür ist das Hotel eindrucksvoll, meine Freundin Irmi und ich bekommen ein großes Doppelzimmer im sechsten Stock, Chambre 606. Ich bin so angetan, dass ich sofort eine Skizze anfertige. „Wir wohnen hier wie die Fürsten“, schreibe ich ins Tagebuch. „Alles ist ungeheuer sauber. Nur das Toilettenpapier ist wie Butterbrotpapier, total saugunfähig.“

Wir haben auch einen Balkon, und da ich Höhen liebe, würde ich am liebsten stundenlang hier stehen, der Stadt zuhören und tief hinunter oder weit in die Ferne schauen. Wir wohnen genau gegenüber vom Kopfbahnhof Gare de l’Est mit den Allegorien der Städte Verdun und Straßburg als Giebelskulpturen. Hier ist 1889 der erste Orient-Express nach Konstantinopel abgefahren, von hier aus sind im Ersten Weltkrieg die Soldaten an die Front aufgebrochen. Die Straße unter uns ist immer in Bewegung, in der Ferne sieht man Sacré-Cœur. Die beiden anderen Mädchen haben Pech, die 442 bietet nur einen Blick auf den Hinterhof des Hotels. Ich bin zum ersten Mal für mehrere Tage in einer Großstadt und überwältigt von der flirrenden internationalen Fülle.

Paris ist quicklebendig und weckt in mir eine merkwürdige Gefühlsmischung, macht mich traurig, sehnsüchtig, überdreht und berauscht, so viele Menschen, so viele Gesichter, so viele Blicke, ich habe den Eindruck, als ob hier jeder mit jedem flirtet, alle Männer den Frauen nachschauen oder hinterherpfeifen. Unten in der Métro springen die Jugendlichen einfach ohne Ticket über die Schranken, das trauen wir uns nicht. Im Quartier Latin trinken die drei anderen Mädchen Rotwein, ich Cola. Ich würde auch gern Wein trinken, finde es schlimm, dass ich „anders“ bin und nie wirklich dazugehöre. Dauernd werden wir angesprochen, sogar hier, auf Französisch, aber auch auf Englisch, fühlen uns zum ersten Mal frei und richtig wahrgenommen, sind stolz und geschmeichelt, aber auch verunsichert. Mir gefallen die malerischen französischen Litfaßsäulen.

Auf dem Weg zur Point Neuf sehe ich zum ersten Mal einen Transvestiten, mit ungeheuer viel Makeup, Riesenperücke und knallrotem Kleid. Wir beobachten fasziniert eine Prostituierte, die im kurzen weißen Trägerkleid mit langen Beinen lässig an Autos vorbeischlendert und gleich stehenbleibt, wenn ein Wagen langsamer fährt und der Fahrer Interesse bekundet. Schon bald nickt sie einem Fremden zu und steigt in sein Autos. Es gibt viele winzige Läden, die bis spät in die Nacht geöffnet sind, in den Buchten der Pont Neuf küssen sich die Liebespaare vor aller Augen am hellichten Tag. Pierre, ein interessanter junger Mann, der gut Englisch spricht, gesellt sich zu uns und bietet an, uns das Viertel zu zeigen. Nur so, er will dafür kein Geld. Da wir zu viert sind, fühlen wir uns sicher, stark und geschmeichelt und trauen uns. Er ist wirklich nett, hat ein lebhaftes Gesicht, fuchtelt viel mit den Händen und zeigt uns Notre Dame, die elegante Concièrgerie, allerlei hübsche geheime Ecken und führt uns zum Schluss in ein gemütliches Bistro. Pierre begleitet uns noch bis zur Métro und gibt jeder von uns beim Abschied Luftküsse. Erschöpft von all den Eindrücken gehen wir auf unser Zimmer und fallen aufs Bett.

Die Stadt wird auch nachts nicht ruhig, das Leben pulst weiter, man hört Autos fahren, bremsen, aufheulen und hupen, Motorräder knattern, Busse prusten und losfahren, Polizeisirenen schrillen, Fetzen menschlicher Stimmen schreien und rufen, vom Bahnhof her das Quietschen, Zischen, Pfeifen, Hämmern und Rattern der Züge, hallende Lautsprecherstimmen, Mesdames et Messieurs, Gongs und Glocken, und unter allem liegt ein eintöniges lautes Rauschen und Brummen. Die Balkontür ist offen, damit frische Luft ins Zimmer kommt. Wir liegen nebeneinander, ich platze fast vor Gedanken, die ich Irmi am liebsten alle gleichzeitig mitteilen würde, doch sie schwärmt nur von ihrem neuen Bekannten, der Michael heißt, dann will sie schlafen, dreht sich auf die Seite und ist fort. Ich bleibe traurig zurück. Es ist unsere letzte gemeinsame Zeit, bald werden wir unterschiedliche Lebenswege gehen, und ich möchte unsere Stunden auf keinen Fall verschwenden. Irmi wird weit weg in Hannover leben, ich weiß jetzt schon, dass sie mir fehlen wird, seit Jahren sitzen wir jeden Tag im Unterricht nebeneinander und sind auch außerhalb der Schule viel zusammen. Während Irmi schläft, vibriere ich vor Wörtern und Bildern, Wände und Fußboden scheinen sich sacht zu bewegen, und natürlich kann ich nicht schlafen.

Irgendwann stehe ich leise auf, gehe auf den Balkon, schaue hinab in die Tiefe und stelle mir vor, ich wäre ein Vogel, würde abheben, fliegen und langsam über der pulsierenden Stadt kreisen. Ich bleibe lange draußen. Die Luft wird kühler, die Geräusche bleiben beunruhigend und fremd. Als ich mich wieder neben Irmi ins Bett lege, kann ich immer noch nicht schlafen, wälze mich unruhig hin und her, vorsichtig darauf bedacht, sie nicht zu stören. In der Nacht wird sie von Mücken geplagt, die mich verschonen, doch ich höre sie überlaut surren, ein Geräusch, das ich hasse und das mich zusätzlich am Einschlafen hindert.

Am nächsten Morgen bin ich früh wach, Irmi schläft noch und macht ab und zu leise Geräusche wie ein Kind, das sich wundert, was mich rührt. Als um halb acht das Telefon schrillt, schnellt sie mit entsetztem Gesicht hoch, und wir müssen beide lachen. Das Frühstück ist enttäuschend, zwei Croissants für jeden, ohne Teller liegen sie krümelig auf der Tischdecke, dazu starker Kaffee mit Milch, nicht in einer Tasse, sondern in einer Schüssel, die boi heißt. Der Kaffee schmeckt bitter und macht Herzklopfen, aber ich trinke ihn trotzdem und tunke mein Croissant hinein, traue mich nicht, nach Tee zu fragen. Ich bin so aufgeregt, dass ich nur ein Croissant schaffe, Irmi muss das andere essen.

Die Reisegruppe hat für heute eine Stadtrundfahrt gebucht, doch der Busfahrer kommt spät, so dass wir eine gefühlte Ewigkeit warten. Der Kegelklub dröhnt. Unsere Stadtführerin heißt Bernadette, hat im linken Strumpf eine Laufmasche, trägt ein blaues Kleid und hochhackige blaue Schuhe und ist très charmante. Sie spricht ziemlich gut Deutsch und scheint ihre Stadt zu lieben. Wir fahren zum Montmartre, bestaunen winklige Gässchen mit interessanten Geschäften, es wimmelt vor Touristen und Straßenhändlern. Dabei hat Bernadette gerade behauptet „Montmartre ist im August so leer wie die Wüste“. Wir besichtigen Sacré-Cœur und flirten selbst dort in einem fort, ich fühle mich wie in einem fremden bunten Film. Sogar Männer, die eine Freundin am Arm haben, schauen einen intensiv an, die Freundin schaut auch, aber in eine andere Richtung. Paris wirkt übermütig und verspielt.

Künstler auf Bürgersteigen malen für 50 Francs geschönte Portraits, eine Weile stehe ich hinter einem schwarzgelockten Jungen, der eine arg in die Jahre gekommene Amerikanerin so hinreißend aufs Blatt zaubert, als wäre sie die schönste Frau der Welt. Sie fällt ihm begeistert um den Hals und küsst ihn heftig ab, er wehrt sich lachend und freut sich über das üppige Trinkgeld, während sie stolz mit dem Bild von dannen trabt. Paris ist ein wogendes Meer, dessen Wellen mich hochreißen, eine Weile mit sich tragen und dann urplötzlich über mir zusammenschlagen und mir die Luft rauben. Hier kann man unmöglich einsam sein, und doch fühle ich mich einsam wie nie.

Wir sehen die Église de la Madeleine, den Dôme des Invalides, in dem Napoleon liegt, besuchen den Arc de Triomphe de l‘Étoile, den Arc de Triompfe du Caroussel, die Champs Elysées, den Bahnhof D’Orsay, der mich an das Parfüm meiner Mutter erinnert. Eau d’Orsay im der blauen Flasche. Der Eiffelturm ist riesig, aber wir dürfen nicht hinauf, junge Männer gehen uns nach, sprechen uns an, der Kegelklub zerreißt sich schon das Maul, ich bin verlegen und stolz zugleich und weiß nicht, wie ich mich verhalten soll. Bernadette zeigt uns eine Prachtstraße, auf der viele Prominente Häuser und Wohnungen besitzen, Onassis, Grace Kelly, die Rothschilds. Moulin Rouge und Lido beeindrucken mich kein bisschen. Als wir Pause in einem Bistro machen, habe ich kaum Hunger, danach ist mir schlecht, weil ich aus Versehen einen Schluck Cidre getrunken habe, in dem Glauben, es wäre Apfelsaft, auch wenn mich der Geruch hätte warnen sollen. Irmi rettet mich und trinkt mein Glas aus. Sie verträgt alles, und ich beneide sie. Ich bestelle mir zwei Gläser Zitronenlimonade, weil ich schrecklichen Durst habe. Auf dem Weg nach Versailles sehen wir den Bois de Bologne, der genauso heißt wie mein Chypre-Duft. Ich habe Angst, meine Periode zu bekommen, Schmerztabletten habe ich natürlich dabei, vielleicht fühle ich mich auch deshalb so niedergeschlagen und unruhig. Bauchkrämpfe in Paris sind das Letzte, was ich jetzt brauche. Ich habe Glück, an diesem Tag passiert nichts. Der üppige Prunk von Versailles erschlägt mich, ich weiß gar nicht, wo ich meine Augen lassen soll, mir fällt auf, dass auf vielen Bildern an den Wänden nackte Frauen zu sehen sind, während die Männer an heiklen Stellen stets diskret mit Gewandzipfeln, Waffen oder gar Pferdebeinen versorgt sind, was ich lustig finde. Die Gärten wirken wie mit dem Lineal gezogen, überall schattige Plätze mit Liebespaaren und Marmorbecken mit Nixen, Faunen und Göttinnen.

Im Hotel angekommen sind alle hungrig. Bis auf mich, aber ich sage nichts, will nicht schon wieder „anders“ sein. Der Busfahrer lockt uns in ein überteuertes Restaurant, wir sind sauer, haben schließlich nur wenig Geld, allein ein kleines Eis kostet hier ein Vermögen. Immer noch schauen uns die jungen Männer an. Wir wollen noch mal ins Studentenviertel, verabschieden uns vorzeitig, fahren mit der Métro, in der es warm und eng ist. Als wir ans Tageslicht steigen, sagt Inge, dass sie keine Lust darauf hat, die ganze Zeit nur ziellos herumzutigern, sie wünscht ein Ziel, und die beiden anderen beginnen, aufgeregt auf sie einzureden. Die muntere Stimmung kippt, wird angespannt und gereizt, und ich stelle mich abseits, weil mich die Szene nur noch mehr deprimiert.

Menschen schieben sich an uns vorüber. Plötzlich bleibt ein junger Mann vor mir stehen und spricht mich leise an. Ich starre verlegen in die andere Richtung, tue, als ob ich ihn nicht höre. Er versucht es zuerst auf Französisch, dann auf Englisch, möchte angeblich nur ein bisschen mit mir spazieren gehen, weil er mich hübsch findet, ich riskiere einen schnellen Blick, er ist groß, sympathisch, sensibles schmales Gesicht, freundliche blaue Augen, kurzes dunkelblondes Haar, kariertes Hemd, Jeans. Jetzt verstehe ich natürlich auch kein Englisch mehr, zucke bedauernd die Schultern. Zu meinem Schrecken versucht er es sogar mit Deutsch, „Hast du ein bisschen Zeit?“, ob er ein Student ist und Sprachen studiert? Ich werde rot und sage: „Kannitverstaan“. Das klingt Niederländisch und hoffentlich abweisend genug. Er lächelt, murmelt leise etwas zärtlich Klingendes und sagt dann etwas, das wie „c’est vraimont dommage“ klingt, streicht mir sanft übers Haar, atmet tief ein und aus und geht. Dabei dreht er sich immer wieder um, hebt Brauen, Schultern und Hände und lächelt bedauernd. Ich lächele auch.

Die drei haben aufgehört zu zanken, Inge hat jetzt doch wieder Lust auf Herumtigern, kommt zu mir herüber und sagt: „Du lässt dich aber auch echt von jedem anquatschen.“ Der Satz verletzt mich so, dass ich am liebsten weinen würde. Wir laufen ein bisschen herum, setzen uns vor ein Café, essen noch ein Eis, diesmal ein großes, schlendern weiter umher, gehen zur Métro, fahren zurück zum Gare de l‘Est. Ich bin still, mir ist nicht gut. Vor dem Hotel beschließen die drei, dass sie keine Lust auf die stickigen Zimmer haben und lieber noch in ein anderes Café wollen. Irmi sagt: „Komm doch auch mit!“, aber ich möchte allein sein oder zu Hause bei meinen Tieren.

Im Hotelzimmer gehe ich gleich auf den Balkon, lehne mich in die warme französische Nacht. Ich überlege jetzt ernsthaft, ob ich springen soll, einfach so, weil es sich gerade richtig anfühlt, aus Weltschmerz, aus Sehnsucht, weil ich die große Traurigkeit in mir nicht mehr ertrage. Ich bin über den Gedanken selbst erschrocken und spüre, dass mich nicht viel abhält in diesem Moment. Der Tod ist verführerisch nah und macht mir ausnahmsweise keine Angst. Hoch genug ist der Balkon, den Sturz würde ich sicher nicht überleben, tief unten sehe ich schon mein verkrümmtes junges Leben liegen. Wie tragisch, kann nur ein Unfall gewesen sein, hat sich bestimmt nur zu weit nach vorn gelehnt, das Gleichgewicht verloren, gab doch gar keinen Grund, gerade erst Abitur gemacht, intaktes Elternhaus, kurz vor dem Studium, das Leben noch vor sich. Ich bin unendlich müdselig, sehne mich so nach Zärtlichkeit, nach einem Menschen, der mich liebt und hält, an den ich mich jetzt, in diesem Moment, lehnen kann. Ich habe seit Jahren einen festen Freund, doch unsere Liebe war von Anfang an anstrengend, heftig, problembeladen und fordernd, nie sanft und romantisch. Während ich hinüber zum Bahnhof schaue, hoffe ich, dass es irgendwo auf der Welt jemanden gibt, der eines Tages zu mir gehört, der mich so lieben kann, wie ich bin, mich nicht dauernd ändern will, kritisiert, missversteht oder bedrängt. Und dass wir uns finden. Irgendwann. Aber vielleicht ist es genau dieser Fremde gewesen und jetzt habe ich ihn verloren. Eine flüchtige, sanfte Berührung hat mich an diesem Abend beinahe das Leben gekostet. Über den Moment so gefährlich nah am Sprung kann ich erst Jahre später sprechen, die Aufzeichnungen dazu zerreiße ich noch im Hotelzimmer.

Mit einem Mal habe ich das Gefühl, nicht mehr allein zu sein, meine, jemanden hinter mir zu spüren, was mir sehr unheimlich vorkommt. Vielleicht ist Irmi zurückgekommen? Mehrmals schaue ich mich um, niemand zu sehen, werfe einen letzten bedauernden Blick in die Tiefe, gehe zurück ins Zimmer, lebe weiter, schreibe, zerreiße, lege mich ins Bett und warte auf Irmi.

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