Manche Jahre haben ihren eigenen unverwechselbaren Klang. Das Jahr 1966 singt in meiner Erinnerung mit den Stimmen von Frank Sinatra und Roy Black, Udo Jürgens, den Beatles und The Mamas and the Papas und ist untermalt von Liedern wie Strangers in the Night, Ganz in Weiß, Merci Cherie, Yellow Submarine und Monday, Monday. Kronprinzessin Beatrix der Niederlande heiratete Claus von Amsberg, ein Weißwal verirrte sich in den Rhein, Bundeskanzler Ludwig Erhard trat nach drei glücklosen Jahren von seinem Amt zurück, Tante Maria und Tante Katrinchen schafften endlich ihr Plumpsklo ab und bekamen ein richtiges Badezimmer, Tante Finchen gönnte sich einen neuen Fernsehapparat, und Winnie und ich wechselten pünktlich nach dem vierten Schuljahr von der Kattendonker Volksschule auf das katholische Mädchengymnasium in Niersbeck.
Es begann mit einem Schock. Gleich am ersten Tag wurden wir getrennt. Winnie protestierte, ich klammerte mich stumm an meine Schultasche, doch es half alles nichts. Die Ordensschwestern blieben hart. „Wir können hier keine Ausnahme machen, Mädchen, wo sollte das sonst hinführen!“ Niersbeck war eine beliebte Schule mit einem hervorragenden Ruf, sogar die Prügelstrafe war hier verboten, und es gab in diesem Jahr so viele Sextanerinnen, dass man sie auf drei Klassen verteilt und der Einfachheit halber nach Herkunftstort und Alphabet platziert hatte. Wir konnten von Glück sagen, dass wir noch in derselben Klasse waren und uns wenigstens aus der Ferne sehen konnten, auch wenn wir uns dabei fast den Hals verrenkten.
Nur in den Pausen konnten Winnie und ich zusammen sein und uns in die Tiefen des Parks zurückziehen. Doch selbst dort war man nicht ungestört, denn überall lauerten Ordensschwestern. In der ersten Zeit erstarrten wir jedes Mal vor Ehrfurcht, wenn wir ihnen begegneten. Sie erschienen uns mit Vorliebe zu zweit und verbargen sich hinter Bäumen und Büschen, um im geeigneten Moment unverhofft hervorzutreten, ein Phänomen, das mir nur noch einmal im Leben begegnete: bei der Highway Patrol in der Wüstenlandschaft des Mormonenstaats Utah, wo buchstäblich hinter jedem Kaktus ein perfekt getarnter Streifenwagen lauerte.
Zur Verwirrung der Sextanerinnen sahen die Ordensschwestern zunächst alle gleich aus. Doch schon nach wenigen Wochen hatten sich unsere Augen an sie gewöhnt, und bald konnten wir sie mühelos unterscheiden, denn sie schritten, niesten, lachten, kicherten und hüstelten höchst individuell. Mit der Zeit schafften wir es sogar, sie am leisen Wuuusch ihrer jeweiligen Gewänder zu identifizieren, wenn sie um die Ecke bogen. Während unserer ersten Schuljahre trugen sie noch eine schwarze Ordenstracht mit langem Schleier, der an einem hufeisenförmigen weißen Rahmen befestigt war. Vor ihrem Bauch baumelte ein großes silbernes Kreuz, und ihre Füße steckten je nach Witterung in altmodischen, aber sicher überaus praktischen Schuhen oder Sandalen. Novizinnen erkannte man an ihrer Jugend und der reinweißen Tracht. Sie blieben leider nie lange, schwebten wie exotische Vögel durch den Park und entschwanden meist irgendwann nach Afrika in die Mission. (Aus: „Mit Winnie in Niersbeck“)
Der alte Park mit den riesigen Bäumen, der zu meiner „richtigen“ Schule gehört, hat sich im Laufe der Zeit tatsächlich stark verändert. Wie sehr, stellte ich fest, als ich beim Schreiben im Internet nach alten Postkarten suchte. Auf einigen war sogar noch zu sehen, wie die Anlage zur Zeit der Jahrhundertwende aussah. In den ersten Jahren floss die Niers übrigens noch durch den Park, wurde jedoch 1927 auf Wunsch der Ordensschwestern umgeleitet, möglicherweise fühlten sie sich gestört, da Fremde auf dem Wasserweg ungehindert mit ihren Booten in das Schulgelände gelangen konnten. Auch meine eigenen Fotos vom Klassentreffen Ende der achtziger Jahren sind inzwischen schon ein echtes Zeitzeugnis.