Karfreitag – mit den Augen eines hochsensiblen Kindes
„Oma und ich waren unzertrennlich, vor allem in religiösen Dingen. Zusammen gingen wir auf den Friedhof und brachten den Verstorbenen frische Blumen, machten in der Kapelle Kerzen an und bestaunten in der Weihnachtszeit die Krippe. Im Frühling besuchten wir die Maiandachten. Ich mochte die schönen Lieder und den Duft der Lilien und Maiglöckchen, zu Hause hatte ich einen kleinen Marienaltar mit Gartenblumen. Doch es gibt auch düstere Erinnerungen. Eine ist besonders unangenehm.
Als ich fünf war, besuchte ich zum ersten Mal mit Oma die Karfreitagsandacht, nachdem sie mich zur Vorbereitung mehrfach zur Kreuzwegandacht mitgenommen hatte. Ich hatte brav in der Bank gesessen und Heiligenbildchen angeschaut. »Heute ist Karfreitag, der Sterbetag des Herrn«, teilte sie mir mit. Sterbetag? Das klang bedrohlich. Es wurde in der Tat ein einschneidendes Erlebnis, denn an diesem Nachmittag verspürte ich zum ersten Mal das Gefühl grenzenloser Schwäche und Hilflosigkeit. Schon beim Betreten der Kirche fing das Elend an. Traurig, düster und schwer wirkte alles. Ich bekam kaum Luft, obwohl es so kühl war. Tabernakel, Statuen und Kreuz waren mit dunkelvioletten Stoffen verhangen. Es herrschte gespenstische Stille, die Menschen waren angezogen wie bei einer Beerdigung und sahen verschlossen und fremd aus. Ich hörte gedämpftes Husten, Räuspern, Flüstern und leises Fußscharren. Die Atmosphäre war bedrückend. Ich fühlte mich noch kleiner als sonst und griff Hilfe suchend nach Omas Hand. Oma lächelte mir kurz zu, dann wurde ihr Gesicht sofort wieder ernst.
Das Unfassbare passierte, als Finsternis im ganzen Land herrschte und Jesus am Kreuz starb. Mir war gar nicht gut. In der Kirche war es so still, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können. Nur in meinen Ohren dröhnte es. Ich sackte zusammen und musste von Oma und einer fremden Frau aus der Kirche gebracht werden. Folter und Kreuzestod waren zu viel für mich. Schon beim Kreuztragen und Geißeln hatte mein Unbehagen angefangen, und als Jesus seinen Geist aushauchte, brach mir der Schweiß aus, schwarze Punkte tanzten vor meinen Augen, mir wurde eiskalt und das Blut strömte aus meinem Kopf. Draußen vor der Kirche kam ich wieder zu mir. Oma war schrecklich aufgeregt, ich hätte am liebsten geweint. Die Geschichte meines Zusammenbruchs machte im Dorf die Runde, die Erwachsenen hielten mich für überdreht, schüttelten verständnislos die Köpfe, und ich schämte mich in Grund und Boden. Wir waren eine große Gemeinde, und ich war die Einzige, die umfiel. Wie ertrugen die anderen Gläubigen die Kreuzigungsgeschichte bloß?
Im folgenden Jahr wagte Oma einen weiteren Karfreitagsversuch. Diesmal kam erschwerend hinzu, dass ich mich an mein letztes »Missgeschick« peinlich gut erinnerte und Oma schon im Vorfeld nervös war. Vorsichtshalber setzten wir uns in die Nähe des Ausgangs. Ansonsten war alles wie beim ersten Mal. Wieder war es düster und erstickend. Wieder ertönte die tiefe Stimme des Pastors im dramatischen Wechsel mit den Stimmen der Gläubigen. Wieder sah ich die dunklen Menschen, folgte Jesus zur Schädelstätte, fühlte mit ihm die Dornen, die sich in seinen Kopf bohrten, den grausamen Lanzenstich, den quälenden Durst, den beißenden Essigschwamm und die langen Nägel in Händen und Füßen. Als er starb, wurde die Welt um mich herum schwarz. »Das Kind steigert sich in alles hinein«, jammerte meine Mutter. »Das ist doch nicht normal! Was ist bloß los mit dem Mädchen?« Ich konnte nichts daran ändern. Mein Körper führte ein Eigenleben, und genau das machte mir schreckliche Angst. Ich erlebte die Kreuzigungsszene hautnah mit. Ich ertrug es nicht, dass Jesus gequält und umgebracht wurde. Auch wenn es so in der Bibel stand. Grausamkeit fand ich zutiefst abstoßend.
Als Schulkind wurde ich in der Kirche glücklicherweise nicht mehr ohnmächtig. Wahrscheinlich lag es daran, dass ich zwischen den anderen Kindern saß und mich dadurch nicht ganz so klein und eingeschüchtert fühlte. Die Kinder waren weniger trübsinnig als die schwarz gewandeten Erwachsenen. Außerdem hampelte meine Freundin Winnie ständig herum, was meine Andacht angenehm störte, auch wenn wir damit mehrfach gegen das erste und zweite Gebot gleichzeitig verstießen.“
(aus: „Von wegen Mimose“)