Als Kind hoffte ich inständig, Maria in Kevelaer irgendwann selbst einmal anzutreffen, denn sie wußte ja todsicher, wie wichtig sie für meine Freundin und mich war. Sie war unsere Große Göttin.
Vierfaltigkeit
Ihretwegen waren wir kurz vor der Firmung sogar beim Herrn Pastor, um ihn darüber aufzuklären, dass wir nicht an den Heiligen Geist glauben konnten, weil wir ihn uns nicht mal vorstellen konnten, und machten den irritierten Geistlichen mit kindlicher Begeisterung darauf aufmerksam, dass man Maria bei der Dreifaltigkeit tragischerweise jahrhundertelang vergessen hatte. Vor uns war das offenbar noch nie jemandem aufgefallen! Ein wirklich fataler Fehler, die ganze Christenheit war Opfer eines schrecklichen Irrtums! In Wirklichkeit gab es nämlich eine Vierfaltigkeit (MIT Maria) oder zumindest eine richtige Dreifaltigkeit (MIT Maria, aber OHNE den Heiligen Geist, denn der war sozusagen ein Fremdkörper). So war es dann auch eine richtige Familie: Vater, MUTTER, Kind. Was der Heilige Geist in der Dreieinigkeit zu suchen hatte, verstanden wir überhaupt nicht, und keiner konnte es uns überzeugend erklären. Nicht mal Tante Pia, Tante Finchen und Oma Südstraße. Für meine Verwandten waren unsere tief empfundenen Zweifel bereits ketzerisch. „Maaseskenger nää, dat is ja Jodeslästerung!“ Wir befanden uns im Zustand der Todsünde, und das unmittelbar vor der Heiligen Firmung!
Für den Herrn Pastor waren wir weniger ketzerisch als irritierend, und er versuchte sein Bestes, um uns vom Gegenteil zu überzeugen, aber er schaffte es trotzdem nicht, unsere Zweifel auch nur annähernd auszuräumen. Als wir ihn zutiefst frustriert verließen, war Winnie stinksauer. Auf die konkrete Frage „Wenn dat keine Familie is‘ un‘ Maria nich‘ unsere Mutter is‘, wer ist dat denn dann?“ hatte er lediglich ausweichend „Die heilige Kirche“ geantwortet. Uns war klar, warum. Er war schließlich auch nur ein Mann, und das alles war ein uraltes männliches Komplott gegen die große Mutter und Göttin. Ärgerlich, dass sich nicht mal die Frauen dagegen wehrten. Wir waren nur Kinder, wir hatten keine Chance, keiner nahm uns ernst. Ketzerinnen sind wir geblieben.
Natürlich habe ich vorige Woche aus meinem neuen Buch genau dieses Kapitel mit der peinlichen Pastorenbefragung („Maria und der Heilige Geist“) in Kevelaer vorgelesen. Wenn nicht hier, wo sonst? Irgendwie war sie bei der Lesung tatsächlich fühlbar präsent, schließlich las ich draußen in einem Garten zwischen ihren Bäumen und ihren Blumen. Und ich meine sogar gespürt zu haben, wie sie mir aus dem Baumschatten bei einer ganz bestimmten Textstelle freundlich zulächelte.
Anna Selbdritt
Besonders gefreut hat mich die Entdeckung eines mir bis dahin unbekannten Kunstwerks, ausgerechnet in der Kevelaer Basilika, hinten links neben dem Altarraum.
Winnie und Marlies hätten laut gejubelt: Es ist eine Dreifaltigkeit der ganz besonderen Art: Mutter, Tochter und Enkelsohn. Eine späte Genugtuung für die kleinen Ketzerinnen. Auch die Erkenntnis, dass es in vielen Religionen und auch im Christentum etliche rein weibliche Dreiheiten und vor allem Göttinnen gibt, hat nicht nur Winnie und Marlies richtig beglückt. Da wären die drei Parzen, die drei Bethen, die drei Moiren, die drei Nornen, die drei Matronen ….. es gab sogar echte Niersmatronen, die ganz in der Nähe meines Heimatortes einen Tempel hatten.
Niersmatronen
Ich habe eine phantastische Erzählung über sie geschrieben („Nebel über der Niers“). Warum wußte das mit den Göttinnen bloß außer Opa Südstraße kein Mensch? Der Matronenstein am Niederrhein hatte leider keine figürliche Darstellung der drei Göttinnen, aber die drei Nettersheimer Matronen stehen heute in meinem Arbeitszimmer.
Wallfahrten
Gläubige aus unserem Dorf machten einmal im Jahr eine kräftezehrende Fußprozession nach Kevelaer, dazu trafen sie sich in aller Herrgottsfrühe an der Kirche und liefen sich danach stundenlang Blasen unter die Füße (das weiß ich aus leidvoller Erfahrung, aber meine Motivation war hoch, denn der attraktive Vorbeter, an den ich damals mein Herz verloren hatte, pilgerte auch mit), und die meisten fuhren außerdem mehrfach im Jahr mit dem Auto oder Fahrrad dorthin, zum Beichten, zum Beten, zum Flanieren, zum Besuch der Messe. Interessante Geschäfte gibt es dort, voller kitschiger Kerzen, Figuren, Fähnchen, Bildchen und Bücher. Dicke Weihrauchschwaden hingen auch diesmal wie Nebel in der Kerzenkapelle und in der Basilika, als ich sie am vorigen Wochenende nach meiner Lesung aus „Mit Winnie in Niersbeck“ besuchte. Ich konnte nicht genug davon bekommen. Es duftete so vertraut, auch wenn ich es ewig nicht mehr gerochen hatte, es klang so vertraut (ein Kinderchor übte gerade mit hellen Stimmen ein Marienlied), und wie immer sahen die abgebrannten Kerzen draußen äußerst gruselig aus.
Maialtar und Abiturwunder
Der linke Niederrhein ist Marienkernland. Im Mai hatten wir als Kinder einen hübsch geschmückten Maialtar mit Marias Bild, jeden Morgen und Abend wurde davor gebetet, jeden Tag das Blumenwasser gegen frisches ausgetauscht, wunderbar duftete das Kinderzimmer abwechselnd oder auch als kräftige Melange nach Flieder und Maiglöckchen, nach Rosen und Nelken. Bei Problemen riefen alle Familienmitglieder IMMER Maria an, und selbst wenn man erstaunt oder geschockt war, fehlte sie nicht. „Jesus, Maria und Josef!“ murmelten meine Großtanten und auch meine Oma in diesen Situationen. Nicht von ungefähr waren die Ordensschwestern an unserer Klosterschule „Schwestern unserer Lieben Frau“. Nicht von ungefähr hieß meine Oma Maria und meine Mutter Anna. In unserer Kindheit war Maria omnipräsent. Ihr Bild lag sogar bei Mathematikarbeiten unter meinem Heft, damit sie mir helfend beistehen konnte. Ohne sie wäre ich sicher noch schlechter gewesen. Im Abitur hat sie das absolute Wunder geschafft, dass ich mit meiner Dyskalkulie im Zeugnis ein „gut“ stehen habe, was keiner so richtig begreifen konnte. Ich schon! Es war Maria!
In unserem Wohnzimmer hing sie zierlich und schlank, eins der wenigen echten Kunstwerke, die sich meine Eltern geleistet haben, liebevoll handgeschnitzt von einem Holzschnitzer in den Dolomiten. Heute hängt sie hier bei uns, und es stört mich gar nicht, dass sie in den letzten Jahren mehrfach unfachmännisch geklebt wurde, weil sie meinen betagten Eltern beim Abstauben aus den Händen glitt. Mein Vater hat sie mir geschenkt, als er merkte, dass ihn seine Kräfte verließen. „Nimm sie mit, Kind, bei dir ist sie gut aufgehoben. Und sie war dir doch immer so wichtig.“ Sie lächelt tatsächlich heute noch genau so lieblich wie damals.
Sprachgenie
In „Mit Winnie in Kattendonk“ gibt es ein Kapitel, in dem Tante Pia den beiden Mädchen in der für sie typischen Ausführlichkeit mit frommer Stimme die Legende von Kevelaer erzählt. Sie war Spezialistin für Heilige und Kevelaer. Auch für schlimme Krankheiten und grausame Todesfälle, aber das ist eine andere Geschichte. Die beiden konnten sie bei diesen Monologen immer hervorragend auf die Palme bringen, indem sie den Redefluß dauernd mit naiven Zwischenfragen unterbrachen. „Wat is‘ denn eijentlich ’n Hagelkreuz?“; „Warum hat der Busmann dat Bild denn nich‘ sofort jekauft?“ und vor allem als letzten Trumpf: „Warum hat die Maria denn Platt jesprochen?“ Spätestens dann verlor selbst die redselige Tante Pia die Geduld, rief verärgert „Ach, lott joan!“ und presste die schmalen Lippen zusammen, während die Mädchen entzückt kicherten und Onkel Hermann amüsiert wieder hinter seiner Zeitung auftauchte. Tatsächlich hat uns nie eingeleuchtet, dass Maria jedes Mal breites Kavelaer Platt sprach, wenn sie dem Kaufmann Henrik Busmann anno dazumal an dem Platz erschien, wo heute die Gnadenkapelle mit dem kleinen Bildchen steht. Wir erklärten es uns schließlich so: Wahrscheinlich beherrschte sie alle Sprachen und Dialekte der Welt, und da Herr Busmann leider bloß Platt verstand, blieb ihr bei den Begegnungen mit ihm einfach keine andere Wahl. Kattendonker Platt konnte sie bestimmt auch, aber leider, leider ist sie uns nie erschienen.
Umso schöner war es, meine erste öffentliche Lesung aus dem neuen Buch ausgerechnet in Kevelaer haben zu dürfen. Der Großen Göttin sei Dank.
Liebe Beate,
schön, wenn sich so ein Kreis schließt …
So hätte ich eigentlich auch aufwachsen sollen, wäre es nach dem Willen der Mutter meines Vaters gegangen …
In Kevelaer war ich noch nie, aber an den Matronen von Nettersheim bin ich tatsächlich im letzten Sommer vorbeigekommen;-)
Liebe Grüße, Monika
Liebe Monika,
stimmt, da hat sich nicht nur für die Kinder im Buch tatsächlich ein Kreis geschlossen. Die schönsten Matronen, die ich kenne, stehen übrigens im Museum in Bonn.
Herzliche Grüße, Beate