Musterschülerinnen
Gemessen an heutigen Verhältnissen waren wir wahre Musterschülerinnen. Wir beteten andächtig vor und nach dem Unterricht, begaben uns einmal die Woche geschlossen in die Kapelle zur heiligen Messe, waren ordentlich, fleißig, leicht lenkbar, trugen keinerlei Waffen, gaben fast nie Widerworte und schminkten uns gar nicht oder nur so dezent, dass man es kaum bemerkte. Wer mit Make-up erwischt wurde, musste auf der Stelle seine Sachen packen, den Klassenraum verlassen oder wurde gar mit Schimpf und Schande vorzeitig nach Hause geschickt. Die Internen, die weit renitenter und mutiger waren als wir Externen, wohl weil sie eine Art Gruppenschutz genossen, konnten schlecht heimgeschickt werden, denn sie kamen ja von weither. Bei ihnen legte Schwester Engeltrudis daher selbst Hand an und übernahm höchstpersönlich die Entfärbung. Lidschatten und Lippenstift galten als „unanständig“ und „unkeusch“. Dabei gab es damals so gut wie keine männlichen Wesen innerhalb der Klostermauern, die man durch seine Schminkkunst beeindrucken konnte, wenn man von einem schusseligen Lehrer mittleren Alters, dem betagten Herrn Prälat und dem äußerst beleibten Religionslehrer, den wir Bubi nannten, einmal absah. In der Mittel- und Oberstufe verstörten wir den armen Mann nachhaltig, als wir detailliert und gnadenlos nachfragten, wie genau man knutschen dürfe, ohne eine absolute Todsünde zu begehen, und welche Zungenkussvarianten möglicherweise noch erlaubt seien, welche grenzwertig und welche eindeutig verdammungswürdig. Auch die präzise Abgrenzung von Petting, Knutschen und Fummeln konnte er uns nicht überzeugend erklären. Am Ende des jeweiligen Verhörs stand der Ärmste kurz vor dem Herzinfarkt und tat zumindest mir entsetzlich leid.
Heimatgefühle
Bis heute habe ich eine Schwäche für Klöster und bekomme dort sofort Heimatgefühle. An unserer Schule liebte ich die stillen langen Korridore mit den geschwungenen Bögen, die weiß getünchten Wände mit den hohen schmalen Fenstern und die schöne große Kapelle mit dem geschnitzten Altaraufsatz. Sie war unser Refugium, das wir aufsuchten, wenn wir eine Auszeit brauchten oder Dringendes zu beflüstern hatten. Hier roch es angenehm nach kühlen Wänden, poliertem Holz, Bohnerwachs, Kerzen, Weihrauch und nach Garten, denn die Schwestern legten großen Wert auf frischen Blumenschmuck. Vor der Marienstatue stand ein Tisch mit einem weißen Deckchen, auf dem im Frühling Hyazinthen und Maiglöckchen, im Sommer Flieder und langstielige Lilien, im Herbst Dahlien und Chrysanthemen und im Winter Waldsträuße mit Ilexzweigen und Christrosen standen.
Päpstliche Sondergenehmigung
Niersbeck war damals einer der wenigen Orte, an denen Mädchen Messdiener sein durften, was vor allem daran lag, dass es an unserer Schule keinen einzigen Jungen gab. Da ein Gottesdienst ohne Schellengeläut während der Wandlung unvorstellbar war, hatten wir offenbar eine päpstliche Sondergenehmigung. Wir waren uns dieser Ehre sehr wohl bewusst, wenn wir erhobenen Hauptes zu zweit vor dem Geistlichen durch den Mittelgang schritten und während der Wandlung die goldenen Schellenringe schüttelten. Wir durften sogar Brot und Wein zum Altar tragen und dem Priester die Schale für die Händewaschung reichen. Nur die rotweiße liturgische Kleidung der echten Ministranten blieb uns versagt, daher waren wir auch nicht wirklich gleichberechtigt, doch wir fühlten uns trotzdem revolutionär und sehr modern.
(aus „Mit Winnie in Niersbeck“)