Oktoberland

Den Herbst mit seinen kräftigen, glühenden Farben habe ich schon als Kind geliebt. Es war die Zeit  der geheimnisvollen Nebel, der taubedeckten Spinnennetze, der fern am Himmel dahinziehenden Zugvögel, der knallbunten Dahlien, zarten Astern und saftigen Chrysanthemen. Ganze Arme voller Herbstblumen brachte mein Vater aus seinem Nutzgarten mit nach Hause. Sie standen wochenlang in den Vasen und erfreuten uns. Zum Schluss bekamen sie sogar noch zarte weiße Wurzeln und wurden vorsichtig wieder ausgepflanzt, auf dass im nächsten Jahr noch ein Busch mehr in unserem alten Kirchhofsgarten stand. Ich mochte die kleinblütigen lilafarbenen Astern ganz besonders. Seit einigen Jahren wachsen sie endlich auch hier in meinem Kölner Garten. Allerdings wage ich nie sie abzuschneiden. Zu schön sehen sie aus als letzter großer Farbfleck im Beet. Um diese Zeit begann mein Vater, noch mehr Vogelfutter als sonst ins Futterhäuschen zu streuen, damit die Vögel auch genau wussten, wo man in der kalten Zeit für sie sorgte. Bald fanden sich auch seltenere Besucher wie der Specht ein. Er bekam sein Futter an einer besonderen Stelle, denn er fraß weder im Futterhaus noch auf dem Boden. Er hängte sich lieber an die großen Meisenknödel, die in der Birke baumelten. Einmal kam sogar ein Käuzchen in unseren Garten und erschreckte mich fast zu Tode, als ich abends aus meinem Kinderzimmerfenster genau in seine runden leuchtenden Augen sah. Vielleicht war es ja auch gar kein Käuzchen, sondern ein echter Vampir?

Herbstblumen verströmen einen ganz eigenen Duft, genau wie das Laub, das den Boden wie ein weicher Teppich bedeckt, und wie die Pilze, die plötzlich über Nacht unter den Bäumen und Büschen erscheinen. Der Busch an unserer Garage roch wie das feuchte Fell von Onkel Günters Schäferhund, das Holz vom Perückenstrauch duftete beim Abschneiden nach Gewürzen. Und sogar unser alter Efeu roch angenehm. Als Kind sah ich überall die Spuren von Zwergen und Hexen. Guck mal, da, hinter dem großen Baumstamm! Da war doch eine rote Mütze! Da vorn, neben dem grauen Stein, siehst du den kleinen Laurin nicht, Papa? Aber du musst ganz genau hinsehen! Mein Vater ließ mich erzählen. Er wußte, dass meine Geschichten nur für ihn bestimmt waren. Einmal fanden wir sogar den Fußabdruck eines Riesen hinten in den Feldern. Was er wohl am Niederrhein zu suchen hatte? Vielleicht die schöne Melisande? Ein anderes Mal flog ein Uhu direkt auf uns zu. Fast hätte uns sein rechter Flügel gestreift! An den Seen gab es plötzlich Enten und Gänse mit besonderen Namen, die ich mir alle merkte. Wir sammelten Eicheln und Kastanien, bunte Blätter, die wir auf dünne Schnüre zogen, und suchten nach giftigen Fliegenpilzen. Ich hatte meine Märchenwelt draußen im Wald hinter dem Dorf, und sie gehörte nur mir und meinem Vater. Und die kleinen Löcher in den Nüssen waren die Türen zu den Elfenwohnungen, da war ich mir ganz sicher.

Die Blätter des Essigbaums neben dem Haus standen in glühenden Flammen, und abends kamen die Igel in den Garten und machten sich über das Katzenfutter her. Wenn der Frost kam, zogen sie sich zum Winterschlaf unter den dicken Laubhaufen an der Garage zurück. Ihre Anwesenheit war nicht zu überhören, sie schmatzen und schnauften, „pufften“ einander laut an und saßen gelegentlich mitten im Teller statt ordentlich davor. Topsi die Katze bekam ihr Futter nun in der Küche, damit sie auch satt wurde. Eichhörnchen sausten durch die Bäume, und an den Krickenbecker Seen fielen immer mehr gefiederten Wintergäste ein. Nachts flogen Hexen auf ihren Besen über unser Haus. Ziemlich viele. Aber nur wenige Menschen konnten sie sehen. Auf jeden Fall flogen sie, wenn Vollmond war. Dann sah man sie auch am besten. Und dann verschwanden auch die Warzen auf den Fingern. Mann musste nur sanft darüber streichen und leise die Namen der Großen Göttin murmeln, die auch die Herrin des Mondes war. Oder die drei Niersmatronen zu Hilfe rufen. Dann ging es ganz leicht.

Oktober ist nicht nur ein Monat, er ist Lebensgefühl, Zauberreich, Vaterzeit. Im Herbst fühle ich mich am wohlsten und habe die meisten Ideen für meine Bücher. Es ist auch die Zeit, in der ich am traurigsten bin, aber in dieser Stimmung schreibt man ja bekanntlich am besten. Ich mag die Melancholie, die Magie, die Geheimnisse. Den trüben Altweibersommer. Die feuchten Spinnweben, die durch die Luft wehen wie weiche Feenfäden und kühl in den Wimpern hängen bleiben. Die schwarzweißen Kühe, die am Niederrhein morgens manchmal halb vom Nebel verschluckt werden und plötzlich keine Beine mehr haben und seltsam unwirklich in der Luft schweben.

Ich mag die Herbstgedichte, in denen Blätter wie von weit fallen, als welkten in den Himmeln ferne Gärten. Die Gedichte, in denen Wanderer einsam in Alleen wandern, den heiseren Schreien der Krähen und Raben lauschen und mit den Schuhspitzen raschelnde Blätter aufwirbeln. Ich mag die Laubfeuer in den Schrebergärten meiner Vergangenheit, den Rauch der Kartoffelfeuer auf den Stoppelfeldern, die Papierdrachen mit den langen Schweifen, den Geruch zarter Fäulnis und kommender Vergänglichkeit, die leise Melancholie, die überall zu spüren ist. Es ist sicher kein Zufall, das mein nächstes Buch eine Liebeserklärung an den Herbst ist. Es spielt hier in Köln, und die Geschichte beginnt an Halloween und endet an Halloween. Ein Fest nach meinem Geschmack, traurig, unheimlich, lebenssprühend und übermütig zugleich. Bunt wie die tanzenden Blätter, gelborange wie Ringelblumen und reife Kürbisse, rotgrün wie die letzten Äpfel, dunkel wie die Nacht und die Anderswelt, weiß wie die Geister und Gespenster, ausgelassen wie die Kinder in ihren gruseligen und lustigen Kostümen. Es riecht nach Pumpkin Pie und Karamell, nach ausgehöhlten Kürbissen und knusprigen Keksen. Und nach heißer Schokolade.

Halloween bekommt in den nächsten Tagen noch eine eigene Liebeserklärung. Genau wie Ray Bradbury, one of my favourites. In seinen Büchern ist immer Halloween und forever October Country.

Die Bilder in diesem Beitrag stammen von SIMONE GARLAND, die das Glück hat, in Kanada zu leben, wo man meine liebste Jahreszeit richtig genießen kann: als wunderbar leuchtenden Indian Summer.

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