Im Herbst geschahen am Niederrhein lauter kleine Wunder. Die Vogelscheuchen sahen plötzlich aus wie Spukgestalten, ihre Kleider hingen in Fetzen von ihren Holzgerippen, und auf den Feldern tummelten sich heiser krächzende Saatkrähen, riesige glänzende Kolkraben und flinke grauschwarze Dohlen mit hellen Augen. Sie schienen aus einer anderen Welt zu kommen. Abends flogen sie lärmend zu ihren Schlafbäumen und Sammelplätzen. Manchmal hörte man merkwürdig traurige Schreie in der Luft, wenn die Wildgänse und Kraniche in großen Schwärmen in ihre Winterquartiere zogen, und am Krickenbecker See trafen die ersten gefiederten Wintergäste ein.
Wenn der Nebel richtig dick war und wie eine riesige weiße Wattekatze über die Flüsse strich, konnte man draußen auf den Weiden ein merkwürdiges Schauspiel beobachten. Zuerst nahm mein Vater uns mit und ließ uns staunen, später gingen Winnie und ich allein in die Felder und konnten uns nicht satt sehen.
Die schwarzweißen Kühe hatten plötzlich keine Beine mehr. Der untere Teil ihres Körpers wurde vom Nebel verschluckt, nur Kopf und Rücken ragten noch aus dem dicken Weiß. Die Luft war feucht, unsere Wimpern waren nass, und überall flogen feine, mit Tröpfchen besetzte Fäden
„Diese Jahreszeit nennt man Altweibersommer“, erklärte mein Vater. „Warum dat denn?“ fragten wir. „Vielleicht, weil die Fäden so grau und weiß sind und wie die Haare von alten Frauen aussehen“, meinte mein Vater. Das leuchtete uns sofort ein. Die halben Kühe schienen sich auch ohne Beine wohl zu fühlen, fast hätte man glauben können, sie wären verzaubert.
(aus: „Mit Winnie in Kattendonk“)
Meine Freundin Ulla Genzel und ihre Bilder habe ich bereits im März in einem eigenen Blogbeitrag vorgestellt. Da der Herbst auch ihre Lieblingsjahreszeit ist, freue ich mich sehr, dass ich auch Texte aus meinen beiden Winnie-Bänden mit ihren stimmungsvollen Niederrheinbildern untermalen darf .