Mein Vater liebte den Sommer. Hitze und Sonne taten ihm gut, während sie mich sofort außer Gefecht setzen. Im Gegensatz zu mir mochte er auch keinen Regen. An nasskalten Tagen, an denen ich es mir an meinem Schreibtisch mit einer Tasse Tee richtig gemütlich mache und meiner Fantasie freien Lauf lasse, wurde er richtig depressiv, weil er sich nicht in seinem geliebten Garten zurückziehen konnte. Doch an klaren Herbsttagen genoß auch er die bunten Wälder und zeigte mir, selbst als ich schon lange in Köln wohnte, bei meinen Besuchen am Wochenende seine Lieblingsplätze rund um unser Dorf. „Bring am besten den Fotoapparat mit, Kind. Damit du das alles bewahren kannst.“ Meine Eltern fotografierten so gut wie nie und hatten eine tiefe Abneigung gegen alles „Technische“. Sie bekamen schon Panik, wenn sie nur einen neuen Film in ihren uralten Agfa Fotoapparat einlegen mussten. Die Abneigung hatte ich zunächst auch, aber mein Bedürfnis, Eindrücke einzufangen und festzuhalten, waren viel, viel stärker. Unter den staunenden Blicken meiner Eltern wechselte ich mühelos Objektive und Filmspulen und holte mit meinem Zoom sogar weit entfernte Motive ganz nah heran. Einen Fotoapparat hatte ich mir schon als Kind sehnlichst gewünscht und immer bedauert, dass es von mir und meiner Schwester so gut wie keine Kinderfotos gibt. Von meinem ersten Honorar als Übersetzerin kaufte ich mir daher sofort eine Spiegelreflexkamera, und von da an war ich nicht mehr zu stoppen.
Leider sind meine Fotos aus dieser Zeit fast ausnahmslos Dias, weil ich damals fand, dass die Farben in dieser Form am schönsten strahlten. Ich konnte ja nicht ahnen, dass es eines Tages digitale Bilder geben würde, die man selbst bearbeiten und ausdrucken kann. Auch meine Aufnahmen von den Laternenumzügen und Martinsfeuern in meinem Heimatort stecken in grauen Dia-Kästchen oben im Schrank, weil ich bisher noch keine Möglichkeit gefunden habe, sie in ihrer ganzen Strahlkraft auf den Computer zu holen. Doch glücklicherweise hat meine Freundin Ulla Genzel einen Riesenschatz von Niederrhein-Herbstbildern, die ich mir ausleihen darf.
In den Wäldern rund ums Dorf zeigte mir mein Vater, wo bei Dämmerung die Rehe ästen, wo die Füchse am liebsten schnürten, wo die Eulen nisteten und wo man am besten die Eichhörnchen beobachten konnte. Die Luft war schwer vom intensiven Waldgeruch. Damals wußte ich noch nicht, dass ich „hochsensibel“ bin (ich mag das Wort immer noch nicht), aber mir war durchaus bewußt, dass meine Sinne sich „beim Wahrnehmen“ häufig geradezu überschlugen. Meist blieb ich bei unseren Spaziergängen irgendwann einfach stehen, überwältigt vor Farbrausch, Herbstduft und Glück, und konnte gar nicht tief genug einatmen, um alles in mich aufzunehmen. Die Ehrfurcht vor der Natur hat mein Vater wohl genauso gespürt, denn oft genug nahm er genau im richtigen Moment wortlos meine Hand. Der sinnliche Gefühlsüberschwang war etwas, das nur uns beiden gehörte.
Meine herbstlichen Kindheitserinnerungen duften bis heute intensiv nach feuchtem Laub, rauchigen Kartoffelfeuern und gerösteten Kastanien, nach rotem Hagebuttentee, heißer Schokolade, Bratäpfeln und rosinengespickten Krapfen, die bei uns Püfferkes hießen, nach Vanillekipferln und kleinen ovalen Mutzemandeln, die mit Zimt und Rum gebacken und noch warm in Puderzucker gewälzt wurden. Sie schmecken nach würzigem Pflaumenmus, süßem gelbem und rosa Apfelkompott, nach Schwarzbrot mit klebrigdunklem Rübenkraut, nach mit Zucker bestreuten Butterbroten, rotem und schwarzem Johannisbeergelee und goldgelbem, dickflüssigem Eierlikör, den wir als Kinder an besonderen Feiertagen aus flachen kleinen Gläsern lecken durften. Sie schmecken nach frischem, ofenwarmen Weißbrot mit Knusperkruste, nach luftigem Rosinenbrot, dicken Eintöpfen, Hühnersuppe mit Eierstich oder Griesknödeln, nach Kohlrouladen und Reibekuchen. Manchmal gab es Weihnachtsplätzchen bei uns schon im Herbst, daher schmecken manche Novembererinnerungen auch schon nach Spritzgebäck und Heidesand.
Eins von Ullas Herbstbildern weckt ganz besondere Erinnerungen in mir. Es ist „Das Tor in meine Welt“. Ein ganz ähnliches Tor führte in mein erstes verlorenes Paradies, den alten verfallenen Friedhof, auf dem ich mit meiner Freundin Winnie so oft war und die wilden Katzen fütterte. Riesige Kastanien wachten an beiden Seiten. Das rostige Tor war mit einer dicken Kette verschlossen, aber wir kannten einen Geheimeingang. In der Eibenhecke, die unseren Kirchhofgarten umgab, war nämlich ein Loch, das mit einem dicken Brett verschlossen war. Es war groß genug für Kinder, aber viel zu klein für Erwachsene. Durch unser Heckenloch schlängelten wir uns auf den abgesperrten verfallenen Friedhof. Hier gab es nur uns, die steinernen Engel, viele Vögel und Kaninchen und die wilden Katzen.
Wie schön, liebe Beate, da möchte ich sofort an den Schrank stürzen und mir ein Brot mit Rübenkraut machen – das habe ich tatsächlich aus meiner Kindheit herübergerettet 🙂 Liebe Grüße, Monika