Als Kinder gingen wir am Niederrhein an Fasteloavend immer die „Vuu jaare“. Dazu zogen wir kostümiert von Haus zu Haus, sangen ein altes plattdeutsches Lied und sammelten so viele Süßigkeiten, wie wir nur tragen konnten. Wer trotz intensiver Beschallung die Tür nicht öffnete, wurde als „Jitshols“ beschimpft.
„Wän et Fasteloavend es, dann jaare we di Vuu! Aier Aier in dä Koref, Leäwerwuersch detuu! Lot dat Mätske sengke, duer de vätte Schengke, Abrams Käthe, der Moon es duet, di Vrau es duet, Jef die Vrau jet vöer di Schnuut!“
Wir hatten sogar beim Heischegang mit schwerwiegenden Problemen zu kämpfen, denn unsere Mütter hatten bei der Kostümwahl leider das letzte Wort. Ich wäre liebend gern wenigstens ein Mal Cowboy gewesen, aber das schickte sich nicht für Mädchen. Auch Winnie durfte nicht Häuptling sein, aber immerhin Indianerin. Mit langen, blauschwarzen Zöpfen und rabenschwarzen Augenbrauen. Darauf hatte ihre Mutter bestanden. Sie trug ein sackartiges Gewand mit Fransen, braune Mokassins und ein gestreiftes Stirnband, das mit einer einzigen giftgrünen Feder geschmückt war.
„Schon wieder kein richtijer Kopfschmuck“, maulte sie. „Bloß die blöden Zöpfe und die ömmelige Feder. So’n Mist.“ Sie überlegte. „Machste mir die Zöpfe mal auf?“
Danach sah sie richtig wild aus. Ihre neuen Haare waren blauschwarz und wellig und reichten ihr fast bis auf die Brust. Die Feder saß jetzt nicht mehr ordentlich hinten am Kopf, sondern schön schief an der Seite. Winnie hatte noch mehr Federn mitgebracht, die wir zusätzlich in ihrer eindrucksvollen Mähne verteilten.
Mich hatte es diesmal wieder besonders schlimm erwischt. Mein Kostüm war bunt mit Rauten. Gelben, grünen, blauen, roten und weißen. Auch die roten und gelben Zacken mit den vielen Glöckchen an Ärmeln und Knöcheln gefielen mir gar nicht. Ich sah wirklich kein bisschen cowboymäßig aus. Notfalls wäre ich auch gern als Pirat gegangen. Mit Augenklappe und Säbel. Aber leider gehörte sich auch das nicht für Mädchen. Am schlimmsten war mein Narrenhut mit den beiden großen Glöckchen, die bei jeder Bewegung fröhlich bimmelten. Angeblich das Markenzeichen meiner Figur, aber leider viel zu eng und viel zu warm. Vorn sah die Schellenkappe aus wie Micky Maus, denn ich hatte ein schwarzes „V“ mitten auf der Stirn, das wie verrückt juckte.
„Schon wieder so wat Komisches!“ wunderte sich Winnie. „Wat biste denn diesmal?“ – „Till Eulenspiegel“, antwortete ich bedrückt. – „Kenn’ ich nich’“, sagte Winnie. – „Meine Mutter sagt, der is’ richtig berühmt“, verteidigte ich ihn. – „Kenn’ ich trotzdem nich’“, meinte Winnie. „Na ja, wenigstens haste Jlöckchen. Un’ zwar ziemlich viele.“ – „Aber die Hörner!“ – „Ja, die Hörner sind wirklich Scheiße!“, musste Winnie zustimmen.
Besonders scheußlich fanden wir unsere knallroten Lippen, auch eine Idee unserer Mütter, und den ekelhaften Schönheitsfleck, der mitten auf meiner rechten Wange prangte. Wieso hatte dieser Till Eulenspiegel eigentlich einen Schönheitsfleck? Er war doch ein Mann! Als ich versuchte, ihn abzuwischen, gab es eine Riesenschmiererei. Winnie griff tatkräftig ein. Mit einem nicht ganz sauberen Taschentuch und ziemlich viel Spucke. „Ich krieg’ dat auch nicht ab“, resignierte sie schließlich. „Jetzt siehste noch schlimmer aus als vorher. Die Backe is’ knallrot.“ – „So’n Mist“, maulte Till Eulenspiegel, während die Glöckchen lustig an seinen Knöcheln und seiner Schellenkappe bimmelten. „Dann bin ich ja total verschangeliert!“ – „Aber et passt jut zum Lippenstift“, tröstete mich Winnie. „Von der Farbe her, mein’ ich.“
Axel Brökskes von gegenüber durfte natürlich Häuptling sein und wusste sein Glück nicht mal zu würdigen. Er raste nur wild ballernd durch die Gegend, brüllte „A-a-a-a!“ und schlug sich dabei mit der Hand vor den Mund. Als er Winnie sah, grinste er blöd und sagte: „Huck! Da kommt ja meine Squaw!“
„Wenn de nich’ sofort die Schnauze hältst“, ranzte Winnie ihn an, „kriechste eins aufs Maul. Außerdem find’ ich deine Kriegsbemalung bescheuert.“
Axel zögerte. Die bunten Streifen auf seinem Gesicht begannen unsicher zu zucken. „Aber die Marlies, die sieht wirklich Scheiße aus!“, rief er schnell, schwang ein letztes Mal drohend sein Kriegsbeil und ritt auf seinem imaginären Hengst davon. Wir waren stinksauer. Warum ließen Eltern einen nicht mal an Karneval das sein, was man wirklich wollte? Dann hätten wir es dem blöden Axel zeigen und ihn kurz und klein hauen können. Oder ihn wenigstens an den Marterpfahl binden und um ihn herumtanzen können. „So schlimm siehste auch wieder nich’ aus“, tröstete mich Winnie. „Dat Kostüm is’ schon irjenswie interessant, find’ ich.“
Mit unseren Körben bewaffnet marschierten wir auch diesmal mutig von Haus zu Haus und sangen, was das Zeug hielt. Was der Liedtext bedeutete, wussten wir nicht. Es war eben echte Kattendonker Tradition und uralt. Das genügte. Das hatten schon unsere Großeltern gesungen.
„Dreeimol öm di Flööt, dreeimoel öm di Tööt, dreeimol öm dä Schtüüver Schtüüver, Moon lot ons net te lang waute , We mode noch en Hüske wier joan. Jäf mich en Ai, dann jon ich verbai . Jäf mich ene Tsänt, dann bin ich kontänt.“
(aus: „Mit Winnie in Kattendonk“)