Angsthase?
Als Kind schämte ich mich, weil ich so schüchtern, ängstlich und sensibel war. Ich wollte kein Angsthase, kein Hasenherz, kein Hasenfuß, kein Feigling, kein Sensibelchen und keine Mimose sein. (Nicht von ungefähr habe ich sowohl das Hasenherz als auch die Mimose in die Titel meiner Bücher aufgenommen). Es gab und gibt viele abfällige, spöttische Bezeichnungen für ängstliche Menschen mit dünner Haut.
Merkwürdigerweise spielt der Hase dabei eine besonders wichtige Rolle. Aber warum? Der Ruf „Angsthase, Pfeffernase, morgen kommt der Osterhase!“ (mit gleich zwei Hasen in einem Satz!) hallte mir vor allem in der Volksschule oft hinterher. Und er war alles andere als freundlich gemeint. „Mach dir nix draus!“ sagte meine Freundin Winnie dann tröstend, aber weh getan hat es trotzdem. Nicht die Wörter, sondern der Spott und die Verachtung, die darin deutlich mitschwangen. Ich wurde von den anderen negativ bewertet. Es bedeutete schließlich, dass ich mich wieder mal nicht getraut hatte. Dass ich allzu zögerlich und vorsichtig gewesen war. Dass ich eine alte Spielverderberin war. Als Übersetzerin und Sprachwissenschaftlerin bin ich dem „Kinderreim“, der mir früher so viel Kummer gemacht hat, einmal genauer nachgegangen.
Feige?
Hasen sind bemerkenswerte Tiere. Ich habe nie verstanden, warum ausgerechnet sie im Deutschen auf so negative Weise bewertet werden. Hasen sind alles andere als „schwach“ und „feige“. Genau wie menschliche „Angsthasen“. Wie viel Kraft brauchen Menschen mit Angst oft schon, nur um einen für andere ganz normalen Tag durchzustehen. Das „Hasenherz“, das in ihnen schlägt, ist stark und mutig. Denn nur wer Angst hat und sich bedroht fühlt, kann mutig sein. Der Jäger, der mit geladenem Gewehr dasteht, braucht keinen Mut. Der Jagdhund auch nicht. Der Hase schon. Die kräftigen Hasenfüße, auf denen der Feldhase notfalls das Weite sucht, sind schnell und geschickt. „Hasenfuß“? Hier ist es die Flucht, die als „Feigheit“ ausgelegt wird. Aber was ist die Alternative? Soll der Hase sich etwa entspannt hinsetzen und erschießen lassen? Wäre das mutig? Waren die Soldaten, die als Hasenfüße galten, weil sie nicht sterben wollten, feige?
In anderen Kulturen werden Hasen als weise verehrt, als Vermittler zwischen den Welten, zwischen Diesseits und Jenseits, als Boten der Anderswelt. Sie sind die Begleiter der Großen Göttin, haben eine besondere Beziehung zum Mond, der in den meisten anderen Sprachen weiblich ist. Beim Übersetzen hat es mir gelegentlich zu schaffen gemacht, denn all die schönen Personifizierungen der Mondin als silbern schimmernde fremdartige Frau funktionieren im Deutschen nicht. Schade, dass es bei uns nicht auch „die Mond“ und „der Sonne“ heißt. Das englische „hare“ ist geschlechtsneutral, und oft ist damit die Häsin gemeint. (Die Künstlerin Wendy Andrew hat ihr sogar ein Buch gewidmet: „Luna Moon Hare“.)
Auch die Verbindung zum Mond fehlt bei uns. Wir haben zwar den „Mann im Mond“, aber im asiatischen Raum sind es das „Kaninchen im Mond“ und der „Hase im Mond“. Im chinesischen Zodiac gibt es sogar das Sternzeichen „Hase“. Auch in der keltischen Tradition kennt man ihn gut, den „lunar hare“, den Mondhasen, und den „celestial hare“, den Himmelshasen. Hasen galten früher sogar als Zauberwesen, als magische Tiere, und genau wie Katzen als Hexenbegleiter, als Freund weiser, zauberkundiger Frauen. Man glaubte sogar, sie könnten ihre Gestalt wechseln. Auch Hexen konnten sich angeblich in Hasen verwandeln und wurden mancherorts daher als Hasenfrauen bezeichnet. Auch hier wurden die Hasen eher mit dem weiblichen Prinzip verbunden. Tief berührt haben mich die Bilder von der träumenden Göttin mit ihrem Hasen. Ja, so sehe ich die beiden auch.
Wie konnte aus der bewunderten magischen Gestaltenwandlerin ein Wesen werden, das man als feige und ängstlich verachtet? Vielleicht liegt es nur an einem Missverständnis? An einer Beobachtung in der Natur, aus der man die falschen Schlüsse zog? Hasen stellen sich bei Gefahr scheinbar tot und drücken sich mit weit geöffneten Augen eng an den Boden. Weit aufgerissene Augen sind auch ein Symptom von Angst. Verharren und Erstarren ebenso. Man kann vor Angst tatsächlich wie gelähmt sein, unfähig sich zu regen. Allerdings trifft dies auf den Hasen nicht zu. Er ist vielmehr aufs Äußerste gespannt, bereit, jeden Moment zu flüchten und „todesmutig“ um sein Leben zu rennen. Wenn das Totstellen und Verstecken nicht mehr funktioniert, gibt er „Fersengeld“, so schnell er nur kann. Dann sieht man irgendwann nur noch seine langen kräftigen Hinterläufe, die „Hasenfüße“. Still am Boden zu verharren, wenn einem Jagdhunde und Jäger an den Pelz wollen, hat sicher schon viele Hasenleben gerettet. (In manchen übermächtigen Angstsituationen habe ich das auch schon gemacht.) Die Tiere sind dabei hellwach, mit allen Sinnen. Sicher haben sie dabei Angst und ein heftig klopfendes Hasenherz, aber das ist in dieser Situation der höchsten Bedrohung ja wohl verständlich. Durch ihre Tarnfarbe scheinen sie beim „Stillhalten“ mit ihrer Umgebung zu verschmelzen, und oft genug gelingt es ihnen auch, unentdeckt zu bleiben. Was soll daran verwerflich sein?
Hasen sind keine aggressiven Angreifer. Sie sind Fluchttiere. Sie haben keine Waffen. Sie können sich nicht verteidigen, genauso wenig wie viele ängstliche Hochsensible. Hasen können nur versuchen, sich zu verbergen, oder hakenschlagend flüchten. Beides tun sie mit großem Geschick. Wir können nur von ihnen lernen. Ein rennender Hase kann einen tierischen Verfolger beneidenswert gut abschütteln und verdutzt ins Leere rennen lassen, aber gegen eine Truppe Jäger, die ihn mit geladenen Gewehren einkreisen, ist er natürlich machtlos. Ich weiß, wovon ich spreche. Ich komme aus einer Familie von Jägern und habe die Hasenhatz und die Jagd insgesamt immer gehaßt. Nie würde ich einen Hasen oder ein Kaninchen essen, und oft genug habe ich den „Balg“ eines totgeschossenen Hasen oder Kaninchens mitleidig gestreichelt, leise nach innen geweint und dem toten Tier in Gedanken Abbitte geleistet. „Es tut mir so leid! So unendlich leid!“
Es ist mir eine Ehre, mit Hasen in Verbindung gebracht zu werden, egal ob in Angst-, Fuß oder Herzform. Sie sind schon seit langem meine Seelentiere. Vielleicht schon seit meiner Geburt. Mein Lieblingsspielzeug war ein ziemlich hässlicher großer Stoffhase namens Hupp. Ohne Hupp ging gar nichts. Als Kind hatte ich immer Kaninchen. Stundenlang saß oder lag ich bei ihnen. Sie schliefen auf meinem Schoß oder neben mir im Stroh, sie bekamen ihre Babys in meine Hände. Ich habe auf den Feldern Klee und Löwenzahn für sie gesammelt und habe sie versorgt, wenn sie krank waren. Ich brauche mich heute nur vor einen Kaninchenstall zu stellen, und schon kommen mir bei dem vertrauten Heuduft und dem Anblick der kleinen Wackelnasen die Tränen.
Pfeffernase?
Angsthase, Pfeffernase, morgen kommt der Osterhase! Angeblich ist es nur die erste Zeile eines „lustigen“ Abzählreims (Lustig? So steht es jedenfalls überall im Netz), aber soweit ich mich erinnern kann, wurde er nie zum Abzählen benutzt, sondern ausschließlich als Beleidigung. Meist begleitet von lautem, spöttischen Lachen oder verächtlichen Grinsen. Verletzt hat mich nur der Spott, nie der Vergleich, denn ich habe Hasen und Kaninchen schließlich aus ganzem Kinderherzen geliebt. Auch die Pfeffernase war mit egal, schließlich wußte sowieso keiner, was damit gemeint war. Daran hat sich bis heute wenig geändert. Ich habe lange vergeblich nach dem Ausdruck gesucht, in unseren vielen Regalen und in den Tiefen des Internets, nicht mal Google und die Brüder Grimm kannten ihn.
Aber dann entdeckte mein Mann ihn doch. In dem alten Buch „Wörterschatz der deutschen Sprache Livlands“, herausgegeben von Woldemar von Gutzeit im Jahre 1887. Dort steht es: „PFEFFERNASE, DIE, wer sich über Kleinigkeiten ärgert oder erzürnt“. Livland gibt es längst nicht mehr, früher bezeichnete man damit eine Region im Baltikum, ungefähr dort, wo sich heute Estland und Lettland befinden. Als „Pfeffernasen“ wurden dort früher offenbar Personen bezeichnet, die besonders „empfindlich“ reagierten. Könnte es sich dabei vielleicht um eine alte herabsetzende Bezeichnung für hochsensible Menschen handeln? Bedeutet „sich ärgern“ vielleicht einfach nur „sich verletzt fühlen“? Und „erzürnt“ wäre dann „sich aufregen“? Ja, eine Pfeffernase war ich dann wohl wirklich. Und bin es auch noch, denn ich liebe Pfeffer (mal abgesehen von Szechuanpfeffer, aber das ist ja auch kein richtiger Pfeffer) und ich rege mich leicht auf (allerdings meist nur ganz im Stillen) und bin schnell verletzt. Oft sogar tief, auch wenn ich es nicht zeige.
Osterhase?
Und was hat der Osterhase in dem Reim zu suchen? Vielleicht bedeutet er so etwas wie: „Der kann man aber auch alles weis machen! Die glaubt wohl noch an den Osterhasen!“ Oder ans Christkind. Oder an Feen und Elfen. Oder an Kobolde. Oder an Träume. Oder an die Liebe. Oder an Wunder. Stimmt, das tut sie, und es macht ihr immer noch einen Heidenspaß. Anfang März stelle ich mir lauter Hasen auf die Fensterbänke.
„Morgen kommt der Osterhase!“ Morgen noch nicht, aber bald! Er bringt neues Leben, er bringt den Frühling, sprudelnde Lebenslust, frischen Wind, einen neuen Anfang. Zum Glück ist sie immer noch da, meine überschäumende Fantasie, die überall in der Natur und im täglichen Leben kleine Kostbarkeiten entdeckt, bunte Steinchen, winzige Blüten, Gesichter in Baumstämmen, Bilder auf Tapeten, Schattengestalten an den Wänden, aber natürlich auch bedrohliche Monster unter dem Bett. Ach ja, ich habe einen großen (Klappmaul)Hasen, der sprechen kann, äußerst keck und frech ist und Cäsar heißt. Er wird von meinen Enkeln sehr geliebt. Sie haben gerade angefangen, ein Buch über ihn zu schreiben. Mit Illustrationen. Aber das ist eine ganz andere Geschichte.
„Angsthase, Pfeffernase, morgen kommt der Osterhase!“ Drei Beleidigungen in nur einem Satz. Zwei Hasen und eine Mimose in nur einem Satz. Drei Riesenkomplimente in nur einem Satz. Ja, so war ich und so bin ich. Ängstlich, verletzlich, fantasievoll. Wenn ich meine Angst personifiziere, ist sie ein kleines Mädchen, das ein Kaninchen auf dem Arm hält. Die beiden gehören zusammen. Das Mädchen und das Kaninchen. Die Frau und die Häsin. Hasen sind Seelentiere, Krafttiere, Begleiter der Großen Göttin und der Mondin. Voller Übermut und Lebenskraft. Sie bedeuten Wiedergeburt, Lebensfreude und Glück. Jedenfalls für mich.
Die beiden britischen Künstlerinnen Wendy Andrew und Kay Leverton werde ich hier in Kürze noch genauer vorstellen. Heute möchte ich ihnen einfach nur danken für Ihre Bilder, die so perfekt ausdrücken, was ich für Hasen empfinde.
Ach, was für ein wunder-, wunderschöner Artikel, liebe Beate. Ab sofort mache ich die Häsin auch zu meinem Lieblingstier :-))
Liebe Grüße,
Monika
Danke, Monika. Dann sind wir ja schon zwei…..
Wie schön! …und die Bilder, einfach wunderbar! Angst kenne ich auch zur Genüge. Ich hatte als Kind vor allem soziale Angst, war extrem schüchtern und konnte sehr schwer Kontakte knüpfen, da ich mir nichts sagen traute. ..also auch ein Angsthase, der sich tot stellte, wenn die Menschen um mich herum zuviel, zu fremd, zu laut und zu „dominant“ wurden.
Liebe Grüße
Andrea
Ja, liebe Andrea, die sozialen Ängste hatte ich auch ganz extrem (hab sie zum Teil immer noch, aber jetzt hab ich mich mit ihnen angefreundet). Ich konnte als Kind vor lauter Schüchternheit keinem in die Augen sehen und sprach so leise, dass ich immer alles mehrfach wiederholen musste, was den Stress immens verstärkte. Und rot wurde ich auch bei jeder Gelegenheit. Beteiligung am Unterricht in der Schule? Undenkbar. Im Zeugnis stand immer: „Beate ist zu still“. Es war ein ständiger Kampf gegen mich selbst. Und schlimm war das Gefühl, dass mir keiner helfen konnte.
Herzliche Grüße an dich!
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