Das Weinlaub färbt sich langsam rot und wird von meinen Nachbarn wie jedes Jahr genau im Moment vor der Verzauberung einfach abgeschnitten. Komischerweise haben es die Nachbarn davor ganz genau so gemacht. Die wenigsten Leute mögen Kletterpflanzen, weil sie viel zu „wild“ sind und sich nicht an Grundstücksgrenzen halten, aber mein Wein und Efeu wächst zum Glück auch in anderen Gartenecken. Hier darf er sogar aufs Garagendach und wird erst geschnitten, wenn er seine prächtigen Blätter selbst verschenkt hat. Auf der Terrasse erfreut mich noch eine späte Clematis in verschiedenen Lilatönen, und merkwürdigerweise blühen seit ein paar Tagen sogar zwei Frühlingsprimeln.
Jeden Abend scheint es die Dunkelheit ein wenig eiliger zu haben. Endlich sind sie da, die ersten kühlen Nächte. Das erste wohlig leichte Frösteln, die ersten Pullover- und Strickjacken-Stunden mit Büchern, Decke und Gewürztee, meine heitere Septemberstimmung nach der langen inneren Sommerlähmung. Jetzt kommt die Zeit der Pilze und Nüsse, der Plätzchen und Schokolade, der Äpfel und Birnen. Die Zeit der vielen Gerüche und Düfte. Die Zeit der Gedichte, Ideen und neuen Bilder.
Vorige Woche habe ich meinen ersten Zierkürbis erstanden. Im Blumenladen im Belgischen Viertel, wie jedes Jahr. Ein Ritual, das ich immer wieder genieße. Meine produktivste Schriftstellerzeit kann beginnen. Der Ahorn am Teich macht sich bereit für seine wundersamen Metamorphose. Das ganze Jahr über ist er unauffällig grün, im Herbst fängt er Feuer. Auch die Perückensträuche werden bald leuchten und glühen, aber das ahnt man nur. Immer mehr zartlila Asternknospen öffnen sich. Die dicken Chrysanthemenbüsche explodieren, und morgens glitzern die Spinnweben. Bald schwelgt die Natur wieder in Orange, Rot und Gelb. Normalerweise sind das gar nicht meine Farben, aber im Herbst liebe und bewundere ich sie.
Selten habe ich meine liebste Jahreszeit so herbeigesehnt wie in diesem Jahr. Es war ein harter, heißer Sommer. Für Menschen, Pflanzen und Tiere. Besonders übel für Personen mit empfindlicher Haut und Sonnenunverträglichkeit. Nur 2003 war es noch heißer. An den Sommer erinnere ich mich sehr genau, denn in dem Jahr spielt mein nächstes Buch. Meine Romankinder haben ihr eigenes Wort für die Hitze: Kamelwüstenwetter. Die Luft war aufgeladen, die Tageshitze kaum zum Aushalten, die Nächte waren tropisch. In den Pflegeheimen starben damals viele Senioren, weil sie zu wenig tranken. Ganz Europa ächzte in der Glut. Mein Mann und ich flohen schließlich zusammen mit meiner Buchfamilie in ein einsames Haus in die Bretagne, versteckt zwischen Hortensien und Rosmarinsträuchern, und dort saß ich abends an einem langen Tisch bei Kerzenschein zusammen mit Marigard, meinem Buchmädchen, während draußen das Käuzchen schrie. Marigard diktierte, ich schrieb. Einmal hat uns sogar eine Schleiereule erschreckt.
Der letzte Sommer war leider sehr viel trockener als der Sommer 2003. Ich habe noch nie so viel Wasser in unseren Garten gepumpt. Eibe und Kirschlorbeer, sonst überaus genügsam, brauchten Sonderrationen, Lebewesen, die man sonst kaum bemerkt, benötigten dringend Hilfe. Dehydrierte Eichhörnchen, Mäuse, Vögel, sogar Insekten. Bei jedem Gießen umschwirrten mich gierige Wespen, die vor Durst ganz wild waren und sich sofort auf den nassen Blättern niederließen. Ich habe ihnen täglich kleine Wasserschalen hingestellt. Trotzdem hat mich eine von ihnen übel erwischt. Dank meiner hochsensiblen Haut habe ich zwei Wochen lang intensiv an die blöde Wespe gedacht. Aber wo bleiben dieses Jahr bloß meine Stachelfreunde?
Die vier Igel, ganz unterschiedlich groß und alt, die sich im letzten Herbst und im Frühjahr bei uns jeden Abend satt gefuttert haben, sind immer noch verschwunden. Vor allem die niedliche Igeline, die immer pünktlich kurz vor der Dämmerung eintraf und sogar zutraulich über unsere Schuhe lief, fehlt mir. Ich hoffe, sie leben noch und haben die Hitze gut überstanden. Aber wo mögen sie sein? Unser Haus liegt leider an einer der meistbefahrenen Straßen Kölns. Hat sie jemand überfahren? Sind sie verdurstet? Ob die Igeline überhaupt noch mal wiederkommt?
Die vier Igelhäuser stehen bezugsbereit, und jeden Abend stelle ich kleine Testmengen Futter nach draußen. Für alle Fälle. Bisher blieben die Tellerchen unberührt. So lange haben die Stachelritter noch nie auf sich warten lassen, und ich mache mir Sorgen. Warum sind sie nicht hier in meinem Garten geblieben? Ich hätte ihnen so gern durch die brütende Hitze geholfen. Und Wasser gab es bei uns wirklich mehr als genug.