Beim Gang durch die schlafende Schule fielen mir sofort die vielen richtig guten Bilder auf. Überall, sogar hoch oben unter den Decken, haben Schüler und Schülerinnen ihre bunten und fantasievollen Kunstspuren hinterlassen. Ganze Wände haben sie gestaltet, mit Tieren, Nero Corleone und einem Bahnhof mit Maria, zu dem es sicher eine Geschichte gibt, die ich aber nicht kenne. Vielleicht erfahre ich die bei meinem nächsten Besuch, oder jemand, der diesen Beitrag liest, erzählt sie mir? Mit den tollen Wandbildern könnte ich gleich mehrere Beiträge füllen. Meine besonderen Lieblinge finden Sie in der folgenden kleinen Galerie als Vorschaubilder. Beim Anklicken werden sie größer und entfalten etwas mehr von ihrer Farbenpracht. Dass sich zu meiner Zeit die ganze Schule in der Marienhalle versammelt hat, kann man heute kaum glauben. Sie wirkt einfach winzig! Dort wachsen jetzt die bunten Hundertwasser-Gebäude auf dem Bild ganz rechts. Genau dahinter stand früher unsere gestrenge Direktorin Schwester Maria Bernardo mit ihrer Glocke und las uns ziemlich laut die Leviten.
Große Wände zu gestalten hätte mir als Kind auch total gut gefallen, denn Kunst war mein Lieblingsfach. Zwischendurch habe ich sogar kurz erwogen, freie Künstlerin zu werden wie meine Lehrerin, aber das haben mir meine Eltern schnell ausgeredet. Von mir gibt es an den Schulwänden leider so gar keine Spuren, aber dafür stehen jetzt in der Bibliothek zwei (oder vielleicht sogar drei?) meiner Bücher. Überhaupt scheint Kunst in der Liebfrauenschule ein richtiger Schwerpunkt geworden zu sein, denn es gibt inzwischen gleich mehrere Kunsträume, wie ich zu meinem Erstaunen erfuhr. In einem entdeckte ich das kleine grimmig blickende Monsterchen mit den vielen spitzen Zähnen, das möglicherweise einen Schatz bewacht und mich irgendwie an Paul Klees Bilder erinnert. Was mag in den Kästchen dahinter verborgen sein? Oder geht da wieder mein Schriftstellerhirn mit mir durch?
Das Licht war zwar nicht gerade perfekt für meine Zwecke, aber ein paar gute Aufnahmen sind mir zum Glück gelungen. Die fröhliche Schweinefamilie fand ich auf Anhieb sympatisch. Besonders den kecken kleinen Kerl rechts. Den hätte ich am liebsten gleich mitgenommen. So große Objekte haben wir nie gemacht. Leider! „Eule aus Atadose“ (aus ganz, ganz vielen Zeitungsschichten und ganz, ganz viel Kleister auf leerer Reinigerdose, die beim Schütteln leise klackerte) war unser einziges Tierprojekt. Eine Weile wachte meine Eulalia noch in einer Ecke neben dem Herd bei meiner Mutter in der Küche, aber irgendwann landete sie dann wohl im Atadosen-Eulen-Himmel. Überlebt hat mein kleiner Specksteinkopf, der bis vor fünf Jahren bei meinem Vater im Zimmer stand und heute hier im Garten unter dem Haselbusch seinen Posten bezogen hat. Ich habe tatsächlich noch sämtliche Bilder, die ich in Mülhausen gemalt, gedruckt, geschnitzt, geklebt und gezeichnet habe, unter anderem „Biene im Ameisenhaufen“, „Adler über Gebirge“ und „Verbrecherjagd im Treppenhaus“. Frau Vogt hatte etwas merkwürdige Vorgaben, aber es war immer interessant.
Emotional war für mich die Rückkehr in den großen Zeichensaal, aber das hatte ich auch nicht anders erwartet. Hier war das Refugium, in dem ich als Kind (fast) immer glücklich und zufrieden war – so lange ich nicht zur Bildbetrachtung nach vorn gerufen wurde (unsere Kunstlehrerin stand auf Expressionismus und Kubismus, was die Beschreibung nicht leichter machte) oder blöde Nägel in harte Bretter klopfen musste. Eins unserer Werke hieß „Kornfeld im Wind“, und da mein Holz völlig ungeeignet und steinhart war, fielen die Nägel der Reihe nach wieder heraus, bis schließlich nur noch das nackte Holz mit den häßlichen Löchern übrig war. Ich war total verzweifelt, und Frau Vogt war geradezu entsetzt. Durch das vermaledeite Kornfeld und meine (auf tragische Weise beim Brennen geplatzte und danach echt schreckliche) Vase stürzte meine Kunstnote in dem Halbjahr voll in den Keller. Mein Selbstbewusstsein gleich mit, denn Kunst war doch mein Lieblingsfach! Und das einzige, in dem ich sonst immer zuverlässig eine Eins hatte!
Ich male und zeichne übrigens bis heute, und immer noch besonders gern mit Tusche. Das war schon in der Schule „mein“ Medium. Das leise Kratzen der Federn im stillen winterlichen Zeichensaal habe ich noch deutlich im Ohr. Seit ich auch beim Porzellanmalen meine Motive mit der Feder vormale, macht es nochmal so viel Spaß. Irgendwann muss ich mal einen Beitrag über Frau Vogt machen, über die es in meinem Niersbeck-Buch ein langes Kapitel gibt, auch wenn sie da einen anderen Namen hat.
Im herbstdunklen Zeichensaal begab ich mich gleich an die Stelle, an der ich als Schülerin immer gesessen habe. Ziemlich weit vorn, zweite Reihe, linke Ecke. Da wir am letzten Freitag außerhalb der Schulzeiten dort waren, standen die Stühle oben auf den Tischen, was meine Wiedererkennungs-Grundstimmung leicht dämpfte. Die Tische sind heute natürlich anders gruppiert, aber ich fand meinen alten Platz trotzdem mühelos.
Der Zeichensaal ist immer noch so groß wie in meiner Erinnerung, und der Raum dahinter, in dem Frau Vogt ihre persönlichen Sachen aufbewahrte, kam mir diesmal sogar noch größer vor. Es war ihr „Allerheiligstes“, aber mich hat sie oft mit hinein genommen und mir dort auch ihre Arbeiten gezeigt. Einige hängen noch in den Fluren, wie ich erfreut feststellte. Die hohen dunkelbraunen Schränke in Frau Vogts „Allerheiligstem“ kenne ich auch noch. Sogar die kleinen Holzmännchen mit den beweglichen Armen und Beinen.
Gefehlt hat mir in allen Klassenräumen der Geruch von Kreide, nassem Schwamm und feuchtem Tafellappen. Komisch, dass einem ausgerechnet so was fehlen kann. Aber zu meiner Schulzeit gehört dieser nicht mal besonders angenehme Geruch einfach dazu. Überhaupt riecht die Schule komplett anders, jedenfalls für meine Nase. Der vertraute und sehr angenehme Klosterschulenduft ist verschwunden. Jammerschade. Vielleicht gibt es ihn noch in der Kapelle, aber die konnte ich diesmal nicht besuchen, weil dort gerade eine Messe gefeiert wurde.