Die Spuren meines Schwiegervaters findet man überall in unserem Kölner Haus, obwohl er noch nie hier gewesen ist. Seine Bilder hängen an unseren Wänden, seine Bücher stehen in unseren Regalen. In den tiefen Schubladen seines alten Schreibtischs, der natürlich wie jeder richtige alte Schreibtisch ein Geheimfach besitzt, das zu öffnen nur unter Lebensgefahr möglich ist, nisten jetzt meine Buchkinder, Farben und Kreiden. In unserem Eisenbahnkeller schlummert in riesigen hölzernen Brandkisten geduldig sein umfangreiches „Archiv“, das vor allem aus vergessenen vergilbten Zeitungsausschnitten besteht, mit denen außer ihm sicher kein Mensch etwas anfangen kann.
Im Arbeitszimmer meines Mannes haust der bizarre Mr Grips. Ein erschreckendes Wesen, erschaffen von Hans-Joachim Leidel, aus einer krummen, scharfspitzigen Gartenhäckchenklaue und einem aufgespießten unförmigen Kopfklumpen aus dunkelgrauem Typenreiniger. Jeden, der ihm zu nahe kommt, starrt er bedrohlich aus trüben Augen an. Ich finde, der Kopf von Mr Grips riecht nach uralter Knete. Als Kind hätte ich Angst vor diesem schwarzen kleinen Alptraumteufel gehabt.
Leider habe ich Hans-Joachim, den ich heimlich Jachym nenne, weil ich Menschen, die ich mag, gern meinen ganz persönlichen Namen gebe, nie kennengelernt. Er starb allzu früh mit nur sechsundvierzig Jahren, und ich war in seinem Todesjahr erst sieben. Heute, am 28. Oktober, ist sein Geburtstag. Heute vor hundertdrei Jahren wurde er in Angermünde in der Uckermark geboren. Trotzdem ist Jachym für mich kein Fremder, denn sein Sohn hat mir viel über ihn erzählt. Jachyms Gedichte habe ich unzählige Male gelesen, die Lieblingsstellen fest im Gedächtnis verankert. Und immer rauscht das Meer in meinen kleinen Muscheln; die Keilschrift ziehender Vögel bedeckt mich ganz. Holunderburg, mein Fernwehheim.
Sein Gesicht ist mir von den kleinen Fotos vertraut, die ich im Lauf der Jahre in Schubladen, Alben und Kartons gefunden habe. Die meisten sind unscharf, und ich habe sie gescannt, bearbeitet und genau betrachtet. Ich kenne sein unbeholfenes Jungengesicht, sein erschöpftes Soldatengesicht, sein glückliches Vater- und Gattengesicht, sein müdes Arztgesicht, sein nachdenkliches Dichtergesicht. Ich weiß sogar, wie er ging. Sehr aufrecht, den Kopf in den Nacken gelegt, den Blick nach oben gerichtet. So sehe ich ihn unter der Linde den Nahrungsberg hinab in die Stadt gehen. Jachym Guck-in-die-Luft. Gassenhans, Spelunkenwurm, wandert durch die Stadt. Geht das letzte Haus kaputt, Königskerze auf dem Schutt beugt sich tief im Sturm.
Er war sehr kurzsichtig, hatte blondes Haar, liebte es, sich beim Barbier rasieren zu lassen, auch wenn er sich das so gar nicht leisten konnte. Nur bei seiner Augenfarbe bin ich mir nicht ganz sicher. Vermutlich waren seine Augen blau. Er besaß einen grünen Lieblingsmantel und eine schwarze Baskenmütze, die immer noch irgendwo hier im Haus ist. Schlenderhannes, Hundertfuß, springt im ersten Tau. Dieser Schwalbe meine Hand, jeder Rose Kuß und Band, wie der Fuchs so schlau.
Bei der Gartenarbeit trug er eine zerbeulte alte Hose, die nicht etwa mit einem Gürtel, sondern mit einem zerfaserten Strick zusammengehalten wurde. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich ihn in seinem Gießener Garten auf der alten Bank sitzen, zwischen den großen duftenden Rosenbüschen, tief unter dem dichten Blätterdach und den Schneekaskaden des Holunders, in seinem Fernwehheim, über das er auch ein Gedicht geschrieben hat. Dieser Anfang! Schneckenstille. Unbewegte Luft – Über niederem Dach die Holunderburg – Aber wir sehen hinaus: Ach, die schönen Stürme dort, die Jagden, Falkenflüge, la rive gauche. Paris. Dort wär er gern gewesen. Schneckenstille könnte die Mittagsstille neben ihm auf der Bank sein, kurz bevor der erschreckende Pan erscheint. Schneckenstille. Unbewegte Luft. Im Herbst ging er in den Botanischen Garten in Gießen und sammelte Samen von interessanten Pflanzen. In leeren Ephedrin-Röhrchen. Das Medikament brauchte er für sein quälendes Asthma. Und er brauchte es auch, um durch die Tage und Nächte zu kommen. Seine besonderen Lieblinge waren die Schachbrettblumen. Sie wachsen auch bei uns im Garten.
Viele schöne Wörter hat mir mein Schwiegervater geschenkt. Nicht nur das Fernwehheim, die Schneckenstille, die Keilschrift der Vögel und die Holunderburg. Auch den witzigen „Früchtekorb Gellert“ (benannt nach dem Dichter Fürchtegott Gellert), die Alfanzereien, den Hundewein (Holunderwein), das Schmäuzchen (Haferflocken mit Milch und Zucker) und das „arme“ und das „alte“ Wasser. Was für eine geniale Idee, im Badezimmer einfach die ersten Buchstaben am Wasserhahn abzukratzen. Wie nur zwei Buchstaben die Welt verändern können! Eine besonders lästige Stubenfliege, die ihn ständig umbrummte und sich vorwiegend von gekochten Nudeln ernährte, taufte er Mr Pollock und berichtete über deren Befindlichkeit sogar in seinen Briefen. Mr Pollock ist wohl auch der Grund, warum hier im Haus die Fliegen mit Respekt behandelt und vorsichtig nach draußen getragen werden, auch wenn sie noch so nerven. Wie schade, dass ich Jachyms Stimme nicht kenne. Sie war tief und wohltönend, und wenn er seine vielen Geschichten erzählte oder aus seinen Gedichten las, klang es, als würde er singen. Das letzte Wort hätte er übrigens beim Rezitieren sin-g-en ausgesprochen.
Er liebte Frankreich. Bestimmt konnten die Franzosen seine Vornamen nicht richtig aussprechen. Hans-Joachim. Hans. Joachim. Jochen. Lange suchte ich nach meinem Namen für den Menschen, der mir aus der Ferne wohl vertraut ist, obwohl ich ihn nie getroffen habe. Doch das stimmt nicht ganz. Einmal sah ich ihn. Nur wenige Sekunden lang, unverhofft und unvergessen. Auf dem Gießener Friedhof, an dem herbstlichen Nebeltag, als mein Mann mich zum ersten Mal mitnahm zum Grab seiner Eltern. Ich war sehr aufgeregt, denn es fühlte sich an, als würde er mich tatsächlich zu ihnen bringen, um mich ihnen vorzustellen. Als wir das Grab erreichten, sah ich die beiden. Sie erwarteten uns bereits. Sie standen nebeneinander, lächelten und nickten. Jachym hatte den rechten Arm um seine Frau Hilde gelegt. Fast sah es aus, als stünden sie vor ihrer Haustür am Nahrungsberg und würden mich freundlich willkommen heißen. Die Begegnung ist nun schon zwanzig Jahre her und war durchaus verstörend. Nicht nur für mich. Ich hätte wohl nie gewagt, darüber zu sprechen oder zu schreiben, wenn mein Mann seine Eltern nicht genauso klar und deutlich gesehen hätte. Im selben Moment, wie er mir später gestand. Er neigt so gar nicht zu Visionen, aber an diesem Nachmittag sah er dasselbe wie ich. Sein Vater stand neben seiner Mutter und hatte den Arm um sie gelegt. Sie lächelten und nickten uns zu. Wir hatten das Glück, uns sehr nah zu sein an jenem Nebeltag. Aber der Herbst ist ja die Zeit, wenn der Vorhang zwischen den Welten durchlässig wird und sich gelegentlich sogar kurz öffnet. Leise, wie im Käfig unterm Tuch.
Mein Schwiegervater hatte viele Namen und spielte gern mit Pseudonymen. Manchmal hieß er Bé Auf Der Stejne, Jehan Bronx oder einfach nur Bronx. Jachym ist die tschechische Form seines Vornamens. Ja, so hätte ich ihn wohl genannt, wenn ihm mein Name auch gefallen hätte, und so wird er auf jeden Fall heißen, sollte er eines Tages in meinen Büchern erscheinen. Apropos Bücher: Vielen in unserem Haus sieht man sofort an, dass sie einst Jachym gehörten. Er hatte seine ureigene und reichlich gewöhnungsbedürftige Art, sie zu „reparieren“, wenn sie auseinanderzufallen drohten. Er verarztete sie einfach notfallmäßig mit hässlichem rotem Gewebeklebeband. Er muss Unmengen davon gehabt haben. Ab und zu versuchen wir halbherzig, unsere riesige Bibliothek aufzuräumen und uns wenigstens von den ältesten vergilbten oder zerlesenen Ausgaben zu trennen. Doch Bücher, an denen rotes Klebeband glüht, sind tabu. Sie sind verzaubert und dürfen bleiben. Unantastbar sind auch die nicht glühenden, wenn vorn in fester schräger Schrift sein Name steht. Fast immer findet man darunter auch das Datum, an dem er das Buch kaufte oder geschenkt bekam.
Überhaupt ist mir seine Handschrift fast noch vertrauter als sein Gesicht. In einer besonderen Schublade, die wie alle Schubladen in unserem Haus heftig klemmt und sich nur mit äußerster Anstrengung und einem komplizierten Schloss öffnen lässt, liegen seine Aufzeichnungen und viele seiner handgeschriebenen Gedichte. Auch die ganz frühen. Ach wie der Mond die Dinge traurig macht. Durchs Wiesenland sieht man die Weiden steigen. Zikaden sticken in den blauen Zweigen den lichten Saum an das Gewand der Nacht. Wir haben sogar noch das kleine Tagebuch aus seiner Schulzeit, allerdings ist die Schrift darin so winzig, dass man sie kaum entziffern kann. Und im Nachttisch meines Mannes befinden sich die Hefte, in denen Jachym die Gedichte anderer sammelte. Gelegentlich blättere ich darin. Es sind vor allem Herbst- und Wintergedichte. Etliche Autoren kenne ich nicht. Doch ich entdecke darin auch Werke von Ezra Pound, Rudolf Hagelstange und Georg Trakl. Und sogar alte Bekannte wie Ingeborg Bachmanns „Anrufung des Großen Bären“ (Großer Bär, komm herab, zottige Nacht, Wolkenpelztier mit den alten Augen), ausgeschnitten am 22. September 1956 aus der FAZ. Und „Die bösen Sieben“ von Christian Morgenstern (Im Nebelgeriesel, im tiefen Schnee, im wilden Wald, in der Winternacht), ausgeschnitten am 1.4.1953. Es gibt auch ein Buch, in dem Jachym verzeichnet hat, was er gerade gelesen hatte. Mich hat überrascht, dass er Ludwig Bemelmans kannte. Ihn würde wahrscheinlich überraschen, dass ich Ludwig Bemelmans kenne.
Verfall heißt dein Gesang. Tod heißt dein Lied. Jachym war überzeugter Kriegsgegner, doch das hat ihn nicht vor dem Krieg schützen können. Er wurde als Lazarettarzt in Frankreich und als Sanitätsarzt einer Panzerdivision an der Ostfront eingesetzt, Erfahrungen, die ihn nachhaltig prägten. Das Abzeichen der Internationale der Kriegsdienstgegner mit dem zerbrochenen Gewehr, broken rifle, Hände zerbrechen Gewehr, das er stets am Revers trug, hat er mit ins Grab genommen. Über den Krieg schrieb Jachym eindringliche Gedichte. Das Weiße im Auge des Gegner. Mondschein an der Front. Gegend der Trauer. Doch sie verdienen einen eigenen Beitrag. Später. Wenn es kälter wird. Im Winter. Bald.
(Die Zitate stammen aus seinen Gedichten „Mein Fernwehheim“, „Leise, wie im Käfig unterm Tuch“, „Schlenderhannes“, „Sommernacht“ und „Rondel“.)
Vielen Dank, sehr geehrte Frau Felten-Leidel, dass Sie diese veilfältigen Erinnerungen teilen!
Mir ist Hans-Joachim Leidels schmales Werk sehr lieb – seit langem. „Die drei Wespen des Sir James Jeans“ halte ich für einen Geniestreich. Ich denke, er ist ein veritabler Vorläufer Hans-Magnus Enzensbergers und wollte den schon lage mal fragen, ob er Hans-Joachim Leidels Werk eigentlich kennt. „Die drei Wespen des Sir James Jeans“ sicher. Das kannte damals vermute ich jeder, der sich für Dichtung interessiert hat.
Dass er Ephedrin nahm, ist mir neu, passt aber. – Oh – Nacht…Ekstasen…
Der Gartenheckengnom ist umwerfend.
Gerade habe ich meiner Frau, die mit Kindern arbeitet, Ihren Drachen gezeigt: Sie sagte: Super!
Fellt mir noch ein: Ich habe eine Weile eine Lyrik-Kolumne im Wochenendmagazin der Aargauer Zeitung versehen und da habe ich meine ich „Die Drei Wespen des Sir James Jeans“ hoch gepriesen, wie es sich geziemt, wenn mir jetzt die Erinnerung nicht einen Streich spielt.
Ich lobe auch anderswo Hans-Joachim Leidels Werk.
Eine meiner wiederkehrenden Fantasien ist, dass er Lou-Andreas Salomé in Gießen begegnet wäre. Naheliegend, eigentlich. – Aber ob es passsiert ist? – Das wäre ein top-Thema für einen Roman.
Vielen herzlichen Dank für Ihre aufschlussreichen Online-Notizen und viele Grüße!
Lieber Herr Kief,
dass heute noch jemand seine Werke kennt, hätte Hans-Joachim Leidel bestimmt sehr gefreut….und mich freut es natürlich auch! Hm…. Ich glaube nicht, dass er Lou-Andreas Salomé gekannt hat, denn das hätte er sicher seinem Sohn erzählt…. Aber es gab damals in Gießen einige Künstler, mit denen er regen Kontakt hatte, Maler*innen und auch andere Schriftsteller. Ich muss die Wespen unbedingt nochmal lesen, das Original ruht hier unten in einer Schrankschublade. Und auch „Seid gut zu Sarasins Elefanten“ (ich hoffe, ich erinnere den Titel richtig)… Auf jeden Fall schicke ich Ihnen jetzt erst einmal viele sommerliche Grüße und gute Gedanken. Vielleicht schreibe ich ja bald noch etwas über Jachym. Hier ist er oft „zu Gast“, in den vielen Erinnerungen seines Sohnes.