Die stille Zeit ist vorüber. Schon Februar! Den Christbaum habe ich wie immer am Dreikönigstag entschmückt, ein paar Tage später mit leichtem Bedauern die Adventskalender abgehängt und sämtliche Weihnachtskarten bis auf eine (der Hase ist einfach zu schön!) aus dem echt britischen Kartenhalter gepflückt und im Kartenkarton verstaut. Unsere provenzalische Krippe habe ich erst letzte Woche abgebaut. Die kleinen Tonfiguren stehen jetzt wieder in ihrer Vitrine, wo sie (zumindest für mich) das ganze Jahr über sichtbar sind. Im Laufe der Zeit sind es immer mehr geworden. Ungefähr siebzig müssen es schon sein, Tiere mitgerechnet. Häuser, Bäume und Laternchen liegen jetzt in der Krippenkiste und müssen im Dunkeln auf den nächsten Jahresauftritt warten. Alles hat seine Zeit.
Schmücken und Abschmücken (genau wie Weihnachten und Silvester) machen mich immer irgendwie traurig. Wohl weil ich mir dabei zu viele Gedanken mache. Über die Vergänglichkeit. Über die Vergangenheit. Die Zeit im Allgemeinen. Tempus fugit. Die Zeit rast! Im Sauseschritt! Schon wieder Weihnachten! War das nicht grad erst? Schon wieder abschmücken! Ich hab den Baum doch gestern erst geschmückt! Schon 2019! Ist es wirklich schon ein halbes Jahrhundert her, dass ich zum letzten Mal mit meinem Vater Moos für die Krippe gesammelt habe? Schon zwanzig Jahre, dass meine Mutter an Heiligabend ihren speziellen Heringssalat gemacht hat? Ist sie wirklich schon seit acht Jahren tot? Und mein Vater seit sechs Jahren? Ist es wahr, dass alle unsere Enkel schon zur Schule gehen? Dass von meinen Katzen nur noch eine lebt? Wo ist die Zeit geblieben? Time is a jetplane! Möglicherweise ein ganz normales Gefühl, wenn man älter wird. Die Zeit wird immer kostbarer, aber leider auch immer knapper. Man darf sie nicht verschwenden, nicht vertrödeln, nicht verlieren und ihr nicht hinterherhinken. Festhalten kann man sie wohl nur mit der Kamera oder vielleicht mit dem Füller oder der Computertastatur. Wenn man Glück hat. Kontrollieren kann man sie leider auch nicht. Zurückdrehen oder anhalten schon gar nicht. Das kann sie nur selbst. Und hadern sollte man besser auch nicht mit ihr. Oder ständig über sie jammern. Das mag sie nämlich nicht, wie ich seit kurzem weiß.
Weihnachten war diesmal ein echter Reinfall. Die Nordmanntanne war eindeutig von einem potenten Kater besprüht worden, was zum Glück nur meine (hochsensible) Nase (leider ziemlich massiv) störte, und ausgerechnet an Heiligabend setzte mich eine Lebensmittelvergiftung schachmatt. Der Ziegenkäse hatte zwar seine Mindesthaltbarkeitszeit noch lange nicht erreicht, schmeckte aber irgendwie komisch, was mir meine (hochsensiblen) Geschmacksknospen deutlich signalisierten. Hätte ich doch nur auf sie gehört! Aber ich war nun mal mitten beim Baumschmücken und Zeithadern und voll im Stress. Immer dieser Zeitdruck! In der folgenden Nacht ging es los, und danach war ich so krank, dass wir die Feiertage und das Familienessen „verschieben“ mussten. Ich lag flach, konnte weder essen noch trinken und war sogar zu krank zum Lesen und Fernsehen. Was bei mir extrem selten vorkommt. Diese Übelkeit! Wie bei einem akuten Anfall von Seekrankheit wünschte ich mir nur noch, mein Bett möge bitte sofort und auf der Stelle mit mir untergehen. Die stechenden Kopfschmerzen bitte gleich mit!
Ich hätte die Zeit liebend gern totgeschlagen, ich wusste nur nicht, wie. Sie muss es gespürt haben, denn zu meiner großen Verblüffung trat sie plötzlich neben mein Bett. Und stand wahrhaftig still! „Ich kann auch anders!“, sagte sie leise. „Merk es dir gut, bevor du wieder anfängst zu jammern, weil ich angeblich zu schnell bin!“ Daraufhin wechselte sie vor meinen Augen in den niedrigsten Schneckentempo-Gang, den man sich vorstellen kann. Und verschwand. Vier Tage und vier Nächte lang ließ sie mich völlig links liegen. Erst als ich anfing, mich wieder etwas besser zu fühlen, lächelte sie, startete durch und beschleunigte auf Normaltempo.
Seitdem rast sie in alter Frische. Mit einer kurzen Unterbrechung. Das war Mitte Januar. Ich hatte mal wieder den halben Tag mit ihr gehadert und vor lauter Zeitdruck meine guten Vorsätze vergessen. Alte Gewohnheiten wird man nun mal nicht so leicht los. Es begann hoffnungsvoll. Ich hatte keine Lebensmittelvergiftung, und wir konnten die geladenen Gäste empfangen und bewirten. Alles war bestens vorbereitet. Bloß die Quiche Lorraine musste noch aus dem Ofen geholt werden. Dummerweise löste sich beim Heben der Metallring vom Inneneinsatz und rutschte mir auf den (unbedeckten und überaus hochsensiblen) Unterarm. Es tat so höllisch weh, dass ich die Quiche sofort fallen ließ. Spontanreflex. Glucksend kippte sie kopfüber zurück in die offen stehende Backofentür und zerbarst in unzählige zitternde Stücke. Irgendwie schaffte ich es, die Wabbelteile schnell in eine Schüssel zu schaufeln, bevor ich das Coolpad (man sollte wirklich stets so einen Gel-Eisbeutel parat haben) aus dem Kühlschrank riss und auf den flammenden Arm presste. Das Malheur tat so weh, dass ich am liebsten geheult hätte.
Die bemerkenswert stoischen Gäste verzehrten mit Todesverachtung den größten Teil der Unglücksquiche, die alle Anwesenden stark an Kaiserschmarren erinnerte. Sie schmeckte gar nicht mal schlecht. So lange man sie beim Essen nicht ansah. Ich selbst konnte weder die Schmarren-Quiche noch das perfekte Parfait genießen und rannte immer wieder in die Küche, um meinen schwer entflammten Arm unter eiskaltes Wasser zu halten. Die Stelle, an der mir die Käse-Ei-Füllung auf die Haut geblubbert war, machte Anstalten, sich in eine riesige Blase zu verwandeln, und die Stelle, an der mich das Metall getroffen hatte, mutierte zu einer langen feuerroten Linie.
Wieder zeigte mir Frau Zeit eindrucksvoll, wie endlos langsam ihr Zeitlupengang sein kann. Nach etwa fünf Stunden Ewigkeit hörte mein Arm schlagartig auf zu schmerzen, was mich sehr verwunderte und mit tiefer Dankbarkeit erfüllte. Er sah zwar immer noch nicht schön aus (das tut er auch jetzt noch nicht), aber er tat wenigstens nicht mehr weh. Und es gab auch keinen Rückfall. Vielleicht lag es am Coolpad und an den vielen Eisklümpchen, die ich dauernd auf mir schmelzen ließ. Aber vielleicht hatte Frau Zeit diesmal tatsächlich etwas schneller Erbarmen mit mir, weil sie sah, dass ich ihre Message nachhaltig kapiert hatte. Jedenfalls schaltete sie wieder zurück auf „normal“. Wie beruhigend. Ich lasse sie jetzt in Ruhe rasen, arbeite fleißig an meiner Stressresistenz und werde mich in Zukunft zurückhalten mit zeitkritischen Äußerungen. Sie wird schon wissen, was sie tut.