Am letzten Wochenende war ich zum dritten Mal mit meinen Winnie-Romanen zu Gast in Kevelaer, wieder anläßlich der traditionellen „Landpartie am Niederrhein“. Und wieder fielen mir die alten Kindheitserinnerungen ein, als ich nach meiner Lesung durch das verschlafen wirkende „heilige“ Städtchen ging. Kevelaer räkelte sich trotz brütender Mittagshitze beneidenswert entspannt unter duftenden Linden. Ganz im Gegensatz zu mir. Ich hasse Hitze. Auf dem ungewohntem Parkplatz wußte ich plötzlich nicht, ob es zur Basilika nach links oder rechts ging, und fragte ein älteres Ehepaar nach dem Weg. Der Mann warf einen prüfenden Blick auf unser Auto und meinte: „Wat wollt ihr denn in der Basilika? Ihr habt doch den Dom!“ Darauf fiel mir dummerweise nichts Passendes ein. Winnie wäre das nicht passiert. Sie hätte bestimmt gekontert: „Aber ihr habt Maria! Wir ham bloß die Knochen von den Heiligen drei Könijen!“
Die Kattendonker fuhren früher (vielleicht auch heute noch?) mehrmals im Jahr mit Rädern oder Autos gen Kevelear, doch die große Wallfahrt (zu Fuß) fand im Sommer statt. Nur ein einziges Mal bin ich mitgegangen. Ich erinnere mich noch gut an die dicken Blasen und an meine erschöpften Waden. Die Madonna hat mir offenbar längst verziehen, dass ich damals nicht aus religiösen Gründen pilgerte, sondern nur, weil ich unsterblich in den schönsten Vorbeter von Kattendonk verliebt war, sonst hätte sie meine Lesungswege nicht zum dritten Mal zurück in ihren Ort gelenkt.
Im zweiten Winnie-Buch kommt der Vorbeter höchstpersönlich vor und heißt Gabriel. Das ist zwar ein erfundener Name, aber er paßt perfekt. Bei dem beschwerlichen Pilgermarsch im Jahre 1970 (an dem auch meine Freundin Winnie teilnahm) tat er zu meinem großen Kummer die ganze Zeit so, als wäre ich komplett unsichtbar, und ich war immer wieder den Tränen nah. Die Madonna muss Mitleid mit mir gehabt haben, denn sie hat mir meinen Herzenswunsch kurze Zeit später tatsächlich erfüllt. Doch wie das so ist mit Herzenswünschen. Man sollte sich immer gut überlegen, was man sich wünscht. Nach einigen Jahren war alles vorbei, wir gingen getrennte Wege und haben uns seit vierzig Jahre nicht gesehen. Ob wir uns überhaupt noch erkennen würden? Besser gar nicht daran denken!
Die Kevelaer Kirchenluft war auch diesmal auf vertraute Weise weihrauchgeschwängert, aber das gehört ja unbedingt dazu. Angeregt durch die erfreuliche Maria 2.0-Aktion der katholischen Frauen im Mai, hatte ich an dem Morgen fast alle meine Marienkapitel gelesen. Erst das lustige mit Tante Pias stets tonlos heruntergeleierter Lieblingsgeschichte vom Kaufmann Henrik Busmann, dem in Kevelaer „vor langer, langer Zeit“ Maria erschien. Die Gottesmutter sprach dabei lupenreines Kevelaer Platt, was wir äußerst erheiternd fanden. Wir erprobten dann immer unsere boshafte „Großtanten-Tirriterung“: Wir störten sie so lange mit dummen Fragen, bis ihr der Kragen platzte. Und natürlich las ich auch wieder „Maria und der Heilige Geist“. Schließlich war ich in ihrer Stadt!
Aus heutiger Sicht würde unsere kindliche feministische Revolte eindeutig in die Kategorie Maria 1.5 fallen, wenn nicht sogar bereits in die Kategorie Maria 2.0, doch außer für Winnie und mich blieb sie leider völlig ohne Resonanz. Den Frauen war es offenbar egal, wie man sie behandelte. Und auch, dass man ihre Große Göttin so schmählich ausklammerte, obwohl sie am Niederrhein doch omnipräsent war. Aber was können zwei ketzerische kleine Mädchen schon ausrichten gegen die geballte männliche Religionsmacht der Welt? Das Weibliche, Mütterliche hat uns damals gefehlt, und zudem waren wir felsenfest davon überzeugt, dass nicht der Heilige Geist, sondern Maria in die Dreifaltigkeit gehöre. Oder dass es zumindest eine Vierfaltigkeit (mit Maria) geben müsse.
Besser noch: Eine komplett weibliche Dreifaltigkeit. Wie die Niersmatronen. Oder Hekate mit den drei Köpfen. Oder die Dreiheit von Mother, Maiden und Crone bei den Kelten. Die kannten wir damals aber alle noch nicht. Leider. Denn damit hätten wir den Herrn Pastor todsicher beeindruckt. Unsere Überlegungen waren eindeutig schwere Gotteslästerung, wie uns die Großtanten entsetzt mitteilten. Tante Pia bekreuzigte sich sogar. Inzwischen weiß ich, dass „der“ Heilige Geist, der uns solche Probleme bereitete, im Hebräischen und Griechischen tatsächlich feminin ist. Jammerschade, dass diese wichtige Nuance bei der Übersetzung verloren ging. Doch das ist den Übersetzern bestimmt nicht aufgefallen. Und wenn, hat es sie nicht gestört. Außerdem ist auch „pneuma“ im Deutschen maskulin, denn es heißt dummerweise „der Atem“. Keine Chance für das weibliche Geschlecht. Nicht mal für das grammatikalische!
Draußen vor der Kapelle mit dem kleinen Gnadenbild versammelten sich unzählige Messdiener, die offenbar an einer Fahrradprozession teilgenommen hatten und direkt vom Zeltlager kamen. Sie stellten sich im Kreis auf, klingelten fröhlich mit ihren Fahrradklingeln und beteten dann wie aus einer Kehle „Gegrüßet seist du, Maria“. Untermalt von diversen Glocken. Erstaunlich wohltönenden übrigens.
Die Straßen waren wie üblich blaugelbweiß beflaggt (mit dem kiepentragenden Henrik Busmann aus Tante Pias Geschichte), die Menschen in Läden und Restaurants waren wie üblich gastfreundlich und gut gelaunt. Die unzähligen Kerzen vor den schwarzgerußten Wänden wirkten genau so unheimlich und andersweltlich wie früher, und auch die kleine Madonna in der Muschel war noch genau so weit weg und genau so schmerzerfüllt.
Ein Besuch im Andenkengeschäft musste diesmal sein, das war klar. Meinem Mann war die geballte katholische Devotionalienladung zu viel, so dass ich mich kurz darauf allein mit fünf Verkäuferinnen und ob der religiösen Wucht dann doch etwas überfordert in einem der großen Läden wiederfand.
Drei geräumige Abteilungen mit unzähligen Regalen und Schränken, prall gefüllt mit Madonnen, Heiligen, Engeln, Krippenfiguren, Gebetsbüchern, Amuletten, Medaillen, Rosenkränzen, Kruzufixen, Ikonen, Kästen voller Heiligen- und Andachtsbildchen und Weihwassertöpfchen. Und natürlich Kerzen in jeder Größe. Transparent verpackt. Und geschmückt mit Bildern vom Papst, von Maria oder Jesus.
Ich entschied mich spontan für einen winzigen Holzaltar mit aufklappbaren Flügeln. Die dunkelblauen Fähnchen mit dem Marienbild, die ich als Kind immer so stolz nach Hause trug, fand ich nicht, sonst hätte ich mir glatt eins gekauft. Ob es sie überhaupt noch gibt? Als Kind besaß ich eine stattliche Sammlung. Sie standen als starrer Strauß auf meinem Klappbett in einer Vase und verloren regelmäßig das Gleichgewicht, wenn ich mich zu heftig von einer Seite auf die andere drehte. Sie standen gleich neben der kitschigen Plastikgondel, die mir Papa aus Venedig mitgebracht hatte.
Übrigens im selben Jahr wie die Wallfahrt. Vor lauter Liebeskummer fuhr ich nämlich nicht wie sonst mit Papa in den Süden (meine Mutter verreiste grundsätzlich nie), sondern blieb zu Hause und hoffte auf ein Wunder. Das Wunder geschah. In Form eines hochromantischen Treffens unter drei alten krummen Sauerkirschbäumen. Danach nahm das Schicksal seinen Lauf. Papa hat mir das nie verziehen. Und ich war bis heute nicht in Venedig.
Wer Lust hat auf eine federleichte Sommerlektüre: die Geschichte mit dem schönsten Vorbeter von Kattendonk finden Sie in meinem zweiten Niederrheinbuch „Mit Winnie in Niersbeck“. Niersbeck ist mein Deckname für den Ort jenseits der Niers (von Kattendonk aus gesehen), in dem sich meine ehemalige Schule befindet. Damals war sie allerdings noch eine strenge Klosterschule, natürlich ausschließlich für Mädchen.