Die Geister der vergangenen Winter (3)

Schneekätzchen (BFL)

Der schlimmste Winter von allen. Auch als mein Vater starb, lag Schnee. Ungewöhnlich viel Schnee, obwohl der Winter fast vorüber war, doch man konnte bereits die ersten Narzissen kaufen. Einen Strauß stellte ich ihm auf den Tisch in seinem neuen Zimmer. Vor die sonnengelben Vorhänge. Dass mein Vater nur so kurz dort bleiben würde, ahnte ich nicht. Mein Vater lächelte. „Guck mal, wie schön sie leuchten!“ Im Morgenlicht wirkten sie fast wie eine Lampe. Ich schenkte sie ihm wenige Tage, bevor sich unsere Wege trennten, genau wie er es in einem erschreckend lichten Moment vorhersagte. Ich wollte ihm nicht glauben. Das konnte unmöglich sein. Er hatte doch den schönen Wald, der das Heim umgab, noch gar nicht gesehen, auch die zahmen Rehe nicht, auch nicht die riesigen Haselbüsche unten am Weg, auf denen der Schnee lag. Im Frühling würden wir bestimmt gemeinsam die unzähligen Buschwindröschen bewundern, für die der Park so berühmt war.

Die ersten Narzissen (BFL)

Die ersten Narzissen (BFL)

Aber er blieb dabei. Er müsse jetzt gehen. „Glaub es mir, meine Kraft verläßt mich. Ich spüre es genau.“ „Wenn du wirklich gehen musst, kannst du mir dann irgendein Zeichen geben aus der anderen Welt, Papa?“ Er sah mich ernst an. „Ich werde es versuchen, Kind. Wenn es klappt, wirst du es bestimmt merken.“

Am selben Abend noch stürzte er. Doch nicht nur sein Körper stürzte, auch seine Seele stürzte, und drei Tage später war er ganz fort. Und dann stürzte auch ich. In eine bodenlose Stille und Leere. Es gab kein Zeichen. Bis auf den bunten Schmetterling am Morgen nach seinem Tod. Der konnte mich nicht trösten. Das war nur ein merkwürdiger Zufall. Ein flatterndes Tagpfauenauge im Winter. Mitten im Schnee. Es würde erfrieren. Sogar meinen Träumen blieb mein Vater lange fern. Das Band zwischen uns war zerrissen. Zum ersten Mal. Unwiderruflich.

Friedhofsengel (BFL)

Sieben Jahre ist das jetzt her. Sieben lange Jahre! Heute glaube ich oft, kleine Zeichen zu entdecken, doch ich bin mir immer noch nicht sicher. Wenn im Garten die unscheinbare Mönchsgrasmücke singt, und das tut sie zuverlässig, sobald sie mich bemerkt, sogar jetzt im Winter, stelle ich mir vor, mein Vater hätte sie geschickt. Meistens kann ich sie nur hören und nicht sehen, was sich ein klein wenig unheimlich anfühlt. Oder wenn das Rotkehlchen mich ganz nah an sich heranläßt und aus dunklen Augen ansieht. Amica animae meae. Vielleicht ist das alles nur Einbildung. Wunschdenken. Meine Hoffnung, dass es vielleicht doch noch eine Verbindung zwischen uns gibt. Dass es ein anderes Leben gibt, wie immer es auch aussehen mag. Richtig glauben kann ich es nicht.

Mein Robin (BFL)

Im letzten Dezember traf ich ihn unerwartet in einem meiner Träume. Ich stand unten in einem fremden alten Haus, ging zu ihm hinauf, er lebte im oberen Stockwerk, in einem dämmrigen Raum voller Bücherregale. Ich ging vorsichtig darin umher, wir redeten wie zwei, die lange getrennt waren, aber doch sehr vertraut sind, und ich stellte zu meiner Verwunderung fest, dass zwischen vielen der Bücher kleine und große Nester waren. Überall in seinem Zimmer wohnten Vögel, und sogar ein Käuzchen starrte gelb und verschlafen. „Ach“, sagte er. „Das hab ich noch gar nicht bemerkt. Was du alles siehst, Kind!“ Draußen im Garten waren zwei seiner drei Schwestern und kümmerten sich um die Tiere, die dort lebten, Kaninchen, Katzen, Hunde, und mein Vater sah mich an und sagte: „Hier fühl ich mich so wohl, hier könnte ich für immer bleiben.“

In fast all meinen Träumen von Verstorbenen sind die Toten nicht viel älter als 50 und wissen nicht, dass sie nicht mehr leben. So war es auch diesmal. Ich war älter als mein eigener Vater, aber es schien ihm nicht aufzufallen. „Ich atme den ganzen Tag die Natur ein“, sagte mein Vater. „Reine Natur. Klare Luft. Und weißt du was, ich möchte nirgendwo anders sein.“ Ich wollte ihn umarmen, doch gegen meinen Willen zog es mich in diesem Moment heraus aus dem Traum, langsam und unerbittlich wie an einem festen Seil, das um meinen Körper geschlungen war. Ich wollte mich irgendwo festklammern, aber es ging nicht.

Noch in der Nacht schrieb ich den Traum auf, und die Szene ging mir lange nicht aus dem Kopf. Das Glücksgefühl begleitete mich tagelang. Mein geträumtes Trostbild. Ich kann es den verzweifelten Krankenhausszenen, dem kalten Friedhof entgegensetzen. Mein Vater füttert auch in der anderen Welt noch seine Vögel. Sie haben ihn nicht verlassen. Sie sind jetzt so zahm, dass sie sogar in seinem Zimmer zwischen den Büchern nisten. Selbst das Käuzchen. Es geht ihm gut. Er möchte nirgendwo anders sein. Und mit etwas Glück kann ich ihn vielleicht irgendwann wieder besuchen. Ich muss nur das fremde alte Haus wiederfinden.

Käuzchen (ArtTower/pixabay)

Es ist bitterfalsch, dass die Erinnerungen das einzige Paradies sind, aus dem wir nicht vertrieben werden können. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie schnell die Vertreibung gehen kann. Erinnerungen versinken von heute auf morgen, verschwinden, versacken, werden bis zur Unkenntlichkeit verzerrt und in Fetzen gerissen, lösen sich im Nebel in Nichts auf, verbrennen, verkohlen, verwehen als Rauch im Dunkel. Noch schlimmer ist es, wenn alle rettenden, tröstenden, guten Erinnerungen verloren gehen und am Ende nur die schrecklichen, bösen übrig bleiben. Dann stirbt man als alter Mann mitten im Krieg, der längst vorbei ist, umgeben von mörderischen Feinden und Partisanen, die in Wirklichkeit nur Ärzte, Krankenschwestern und die eigene Tochter sind.

Seine müden Hände (BFL)

Meine eigenen tröstenden Erinnerungen sind zum Glück klar und gegenwärtig. Unvergessen sind unsere langen Spaziergänge, wie oft denke ich daran, besonders im Winter, und wie oft habe ich schon darüber geschrieben. Wir gingen zusammen ins Eulenwäldchen oder hinten in die Felder, und hinter jedem Stamm und jedem Stein warteten geheimnisvolle Wesen und öffneten sich geheimnisvolle Türen und Fenster. All die Geschichten, die ich nur ihm erzählt habe! „Woher nimmt das Kind bloß diese Fantasie?“ Er hörte mir zu. Er ließ mich reden. Er staunte. Er war stolz auf mich. Und die Sätze sprudelten nur so aus mir heraus, auch wenn ich sonst so still war, dass man mich nicht nur überhörte, sondern auch übersah. Draußen in der Natur, zusammen mit ihm, hatte ich keine Angst vor meiner ausufernden Fantasie, die mich so oft um den Schlaf und um meine Ruhe brachte, wenn ich allein war. Allein in der Dunkelheit der Nacht.

Dad (BFL)

Er nahm mich ernst, war mein erster Zuhörer und später meist auch mein erster Leser. Sogar bei den meisten meiner Übersetzungen. Vor seinem Urteil brauchte ich mich nicht zu fürchten. Es fiel stets milde und bewundernd aus. Wenn er an meinen Büchern Kritik übte, dann nur höchst behutsam. Wie vorsichtig er mein Manuskript oder das fertige Buch in die Hand nahm, nach seiner Brille griff und sich dann zurückzog an seinen Tisch, während ich aufgeregt wartete, was er wohl sagen würde. Als seine Gedanken noch klar waren, damals in seinem letzten Dezember, las er im Krankenhaus eine meiner Geschichten. Schon einen Monat später hätte er das nicht mehr gekonnt. Fehldiagnosen und falsche Medikamente schickten ihn geradewegs in die Hölle, an die Front, in die Kesselschlacht, in den Krieg.

Als er fort war, suchte ich nicht nur in meinen Träumen lindernde und tröstende innere Bilder für uns. Ich fand den ewigen Garten mit der Bank unter den Rosen, die kleine Kapelle mit den langen farbigen Fenstern, das Meer mit den Lichtwesen, die ihn sanft mit sich forttrugen, Aber das schönste, das ich finden konnte, ist die gemeinsame Betrachtung des Wintermonds. Vater und Tochter. Hand in Hand. Weit in der Ferne. Wahrscheinlich hätte er sich aus all den vielen Bilder auch genau dieses ausgesucht. Wir hatten verblüffend ähnliche innere Bilder.

„Guck mal, Papa, das da hinten unter dem Baum, das sind wir.“ „Und der Mond ist genauso riesig wie damals in Arizona“, hätte er gesagt und meine Hand gedrückt.  Ich hatte den Mond in der Wüste ja auch gesehen. Er war wirklich riesig! Mein Vater liebte den Mond. Im Prisoner of War Camp in Arizona war der Mond sein großer Trost. Eine Taube hatte er sich dort gezähmt. Sie konnte weg fliegen. Er selbst war gefangen. Hinter Stacheldraht. Bei Vollmond denke ich an ihn. Ich stelle mir vor, wie er am Fenster in seinem Zimmer in dem fremden alten Haus steht und ebenfalls hinaus schaut. Auf denselben Mond wie ich. Er steht in seinem Zimmer voller Bücher. Und auf seiner Schulter sitzt ein Käuzchen mit wachen gelben Augen.

Vollmond (cocoparisienne/pixabay)

 

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