Nach fast zwei Jahren war ich wieder zu einer Lesung aus meinen Büchern „Mit Winnie in Kattendonk“ und „Mit Winnie in Niersbeck“ an meiner alten Schule, diesmal las ich allerdings vor Schülern und Schülerinnen. Für mich eine echte Premiere und entsprechend spannend. Normalerweise kann ich davon ausgehen, dass mein Publikum sich an zahlreiche Personen, Orte, Lieder und Gegenstände in meinen Büchern erinnert, was bei dieser sehr jungen Generation natürlich nicht der Fall war. Daher hatte ich vorgesorgt und eine kleine Powerpoint-Präsentation vorbereitet. Es funktionierte. Die Kinder waren wunderbar, sie staunten, amüsierten sich, gingen mit, stellten kluge und interessierte Fragen, brachten auch ihre eigenen Erfahrungen und Ideen ein und überraschten mich immer wieder. Die Doppelstunde verging wie im Flug. Wie bei meiner ersten Lesung saßen wir in der alten Bibliothek mit den langen Fenstern, die immer noch einen Hauch von Hogwarts ausstrahlt, vor allem, wenn man noch weiß, wie es hier früher aussah. Bloß der Literaturgeruch ist inzwischen ein anderer, und der Raum wirkt jetzt auch viel heller und großzügiger. Trotzdem!
Und so begaben wir uns gemeinsam auf eine kleine Zeitreise in die 1960er Jahre, nach „Niersbeck“ und „Kattendonk“, damals ein großes Dorf, mitten hinein in das verschlungene Gässchen-Labyrinth mit den gepachteten Kirchgärten hinter hohen Heckenwänden, morschen Holztüren und rostigen „Törchen“, krochen durch das Loch in der Eibenhecke auf den verfallenen, längst eingeebneten alten Friedhof, von dem nur noch wenige Reste übrig sind (wohl aber der Straßenname „Am alten Friedhof“), saßen in den warmen, dunklen Wohnzimmern meiner Großtanten, betraten die ehrwürdigen alten Schulgebäude und schlenderten durch den riesigen wilden Park der Klosterschule, den es bis auf einige der alten Bäume heute nicht mehr gibt.
Dass uns die strengen und damals noch schwarz-gewandeten Ordensschwestern mit ihren wehenden Schleiern stark an die Lehrerschaft von Harry Potter erinnerten (sie konnten eindeutig auch apparieren und disapparieren, also sich auf magische Weise in Luft auflösen und an anderen Stellen plötzlich wieder auftauchen), konnten die Kinder wahrscheinlich kaum nachvollziehen, denn die Atmosphäre der alten und neuen Gebäude ist heute so gänzlich anders. Alles ist bunt, modern, offen, entspannt und quicklebendig, und die Kinder wirken sehr viel selbstsicherer und redegewandter als wir damals. Niemals hätten wir in kleinen Gruppen so munter im Flur „herumlungern“ dürfen, wurden wir doch am Anfang meiner Schulzeit sogar noch von einer gewissen Ordensschwester wie eine kichernde Gänseschar unter lautem Händeklatschen aus dem Park in die Aula getrieben und dort eingeschlossen, sobald sich zwischen den Bäumen Handwerker oder Gärtner zeigten. Die Gärtner und Handwerker hatten übrigens vor der gewissen Schwester einen Heidenrespekt. („Und getzt sofort rein, Mädchen! Es sind Männer im Park! Augen geradeaus!“)
Zu meiner Schulzeit gab es nicht mal Jungen an der Schule, und bis 1969 durften wir Mädchen keine langen Hosen tragen. Höchstens die blöden häßlichen Lastexhosen mit Reißverschluß an der Seite, unbedingt! Die Kinder staunten nicht schlecht. Und wir trugen sie auch nur auf dem Schulweg, wenn es richtig kalt war im Winter, und zwar ausschließlich unter dem Rock, was zu unschönen und überaus lästigen Stoffwülsten im Taillenbereich führte. Nicht mal Mittelscheitel und offenes Haar waren erlaubt! Als es dann endlich so weit war, erschienen wir am nächsten Tag natürlich alle in Jeans. Eine Erinnerung, bei der mir bis heute das Herz weit wird. Was für ein Tag! Endlich befreit!
Nach der Lesung machte ich auch diesmal eine kleine Tour durch die Flure, auf der Suche nach neuen und vertrauten Ecken. Dabei konnte ich gleich auch die ehemalige Josefshalle im neuem Gewand bestaunen. Früher standen hier Vitrinen mit ausgestopften Tieren und „eingemachten“ Schlangen und Fröschen, es roch intensiv nach Klosterschule und Bohnerwachs, und mit leisen und sehr unterschiedliche Wuuuschs bogen die sonst katzenleisen Schwestern um die Ecke. Die kleinen und großen KünstlerInnen, die jetzt überall die Wände gestalten dürfen, kann ich wirklich nur beneiden. Das hätte mir als Schülerin auch Riesenfreude gemacht (würde es sogar heute noch!). Immerhin war Kunst mein Lieblingsfach und der Zeichensaal für mich der schönste Raum in der gesamten Schule. Unser Paradies war natürlich der Park. Auch meine ehemalige Kunstlehrerin Frau Vogt wäre sicher von den Wandgemälden beeindruckt gewesen. Für die Kinder hatte ich einige der Bilder mitgebracht, die wir damals gemalt haben. Merkwürdige Themen fielen Frau Vogt ein, etwa „Verbrecherjagd im Treppenhaus“. Bis heute finde ich Stufen und Treppen äußerst schwer zu malen. Als Kind war es eine richtige Qual. Mein Treppen sahen leider eher aus wie Leitern. Natürlich war während der Lesung auch die ganze Zeit meine Freundin Winnie an meiner Seite. Die Kinder fragten nach ihr. Fünf Jahre ist sie nun schon tot, aber in Niersbeck kann man ihr immer noch im Park und auf den Fluren begegnen. Genau wie meinen anderen Freundinnen, die im Buch nicht vorkommen, sehr wohl aber in meinem Leben und in meinen Erinnerungen.
Bevor mein Mann und ich uns auf die Heimfahrt machten, hatte ich Gelegenheit, auch die Kapelle wiederzusehen, die sich ebenfalls stark verändert hatte. Kühl und weiß war sie immer noch, der helle Bogengang sah aus wie früher, auch die schönen Fenster, die warm in der Nachmittagssonne leuchteten, aber in der Kapelle sind Altar und Bänke jetzt anders arrangiert.
In der Nähe von Maria dufteten aber immer noch ganz vertraut die Lilien. In Gedanken spürte ich den harten Zeigefinger von Schwester Maria „Theosopha“ (sie hieß in Wirklichkeit anders) im Rücken. Sie mochte es gar nicht, wenn wir in der Kapelle flüsterten (schwätzten), husteten oder uns auch nur bewegten (zappelten), taten wir es doch, bohrte sie uns unbarmherzig ihren rechten Zeigefinger zwischen die Schulterblätter, wenn man das Pech hatten, genau vor ihr zu sitzen. Das versuchten wir daher auch tunlichst zu vermeiden.
Wie gut, dass die Schulen in NRW erst ab morgen geschlossen sein werden und meine Lesung gerade noch stattfinden konnte. Mit vielen frischen Eindrücken und noch mehr Erinnerungen kehrte ich zurück nach Köln.