„Ist das eigentlich immer noch so schlimm?“ frage ich die Verkäuferin, während ich einmal mehr die leeren Regale bestaune. Sie grinst. Wir sind uns einig. „Verstehen kann ich die Leute nicht“, meint sie. „Jeden Tag kommt Nachschub! Es ist wirklich genug von dem Zeug da.“ Ich verstehe es auch nicht, obwohl ich mir seit Wochen darüber den Kopf zerbreche. Vor allem nachts, wenn ich nicht schlafen kann, was im Moment ziemlich häufig vorkommt. Irgendwie brauche ich kaum noch Schlaf und lese lieber die halbe Nacht. Oder denke nach. Ist sowieso egal, denn ich kann ja bis in die Puppen liegen bleiben, ohne dass es jemanden stört. Höchstens die Katze, die pünktlich ihr Futter einzunehmen wünscht. Danach lege ich mich wieder hin. Damit ich im Dunkeln nicht in nutzloses Grübeln verfalle, picke ich mir gern gezielt ein Problem heraus, über das ich mir tiefschürfende Gedanken mache. Gelegentlich kommt es dabei durchaus zu Geistesblitzen. Doch diesmal hakt es. Dieses Phänomen kapier ich nicht.
Sie haben natürlich längst erraten, worum es geht. Das neue Gold, die weichen, begehrenswerten Papierrollen, die seit einiger Zeit in gigantischen Mengen bevorratet werden. Ganze Zimmer und Garagen müssen inzwischen bis zur Decke mit dem Zeug vollgestapelt sein. Wahrscheinlich hängen die Besitzer dieser Sammlungen den halben Tag zufrieden zwischen ihren Rollen ab. Ob der merkwürdige Sammeltrieb daher rührt, dass so oft „sanft und SICHER“ auf den Packungen steht? Fühlt man sich irgendwie sicherer mit diesem Produkt? Oder liegt es daran, dass die Rollen auch ohne Pandemie in Großpackungen gekauft werden, so dass man bei Virenbedrohung und Lockdown folglich dringend ganz, ganz viele Großpackungen einlagern will? Damit nichts passiert!
Hilft es dabei, die Angst vor Kontrollverlust und Hilflosigkeit zu bewältigen? Der „Feind“ ist unsichtbar, aber man muss ihm unbedingt etwas entgegensetzen, um nicht in Panik zu verfallen. Warum also nicht die preiswerte weiße „Geheimwaffe“, die alle anderen auch benutzen und für wirksam zu halten scheinen? Es ist ein Massenphänomen. Wie bei einer Stampede oder beim Run aufs Wasserloch. Und das erhebende Gefühl, gerade als letzter etwas ergattert zu haben, das so viele andere Menschen unbedingt auch haben wollen und jetzt nicht kriegen, führt möglicherweise vorübergehend zu Überlegenheitsgefühlen und Angstlinderung. Bei mir nicht. Leider. Ich wollte, es wäre so, dann würde ich sofort auch horten und stapeln, aber ich weiß nun mal, dass man sich auf dem Weg ganz bestimmt nicht ansteckt. Die Viren sind zwar bei manchen Menschen noch im Stuhl nachweisbar, aber nicht mehr infektiös. Adieu, weiche weiße Sicherheit! Das Klopapier schützt nicht unseren Körper, es schützt unsere Psyche. Komischerweise horten Menschen, die ihre Angst gut kennen, im Moment eher kein Klopapier. Sie versuchen, sich gut zu informieren, und sind jetzt zu ihrem eignen Erstaunen diejenigen, die andere beruhigen. Den Zustand, mit dem die Horter gerade so schlecht zurechtkommen, müssen sie nämlich jeden Tag bewältigen.
Trotzdem komisch, dass es in so vielen Ländern dieser Welt genau gleich abläuft – wenn man von den Regionen absieht, in denen die Menschen im täglichen Leben nicht mal Zugang zu sauberem Wasser haben und in denen Klopapier überhaupt keine Rolle spielt. Was dort zur Bewältigung der Angst dient, weiß ich nicht. Vielleicht bestimmte Nahrungsmittel oder Rituale. Auf jeden Fall kein Klopapier so wie hier bei uns. Im Netz werden tatsächlich jeden Morgen Tipps ausgetauscht, wo man das Zeug noch bekommt und wer grade wieder vier Packungen gehamstert hat. Und vor allem wird auf andere Hamsterer geschimpft und sich aufgeregt. Alles gut gegen Angst.
Ich habe mich umgehört und im Internet recherchiert. In den USA, in Australien, Kanada, Großbritannien, Frankreich (da flaut es allerdings grade ab, sagt meine französische Freundin) oder hier: alle haben dasselbe Lieblingsobjekt. Ein weißes Papiergespenst spukt durch unser Leben. Morgen für Morgen stürmen hoffnungsvolle Kunden die Läden (hier in Weiden wartet täglich eine Riesenschlange schon vor Ladenöffnung vor dem DM, hoffentlich mit genügend Sicherheitsabstand) und schon werden wieder die Rollen und Pakete aus den Regalen gerissen. Kurz darauf ist alles vorbei. Ausverkauft! Gähnende Leere, und schon wächst sie wieder, die nagende Klopapier-Mangel-Panik. Bis es einfach nicht mehr auszuhalten ist und unbedingt neuer Nachschub her muss. Dabei kann es zu bemerkenswerten Eskalationen kommen.
Ein facebook-Freund wurde vor wenigen Tagen Zeuge, wie eine Frau mittleren Alters im Supermarkt (nicht hier in Weiden!) kreischte: „Ich laß mir doch von Ihnen nicht vorschreiben, wie ich mein Leben rette!“, als man sie bat, doch bitte nur eine Riesenpackung des ersehnten Papierpodukts zu kaufen und nicht zwei Riesenpackungen. Sie wedelte wild mit den papierbewehrten Armen wie eine Windmühle und ging sogar die Kassiererin an, bis schließlich der Geschäftsführer einschritt und die Dame ohne Beute des Ladens verwies. Hallo? Seit wann rettet Klopapier unser Leben? Ich schätze Klopapier durchaus, aber so wichtig ist es nun auch wieder nicht. Wasser, Seife und Handtücher sind viel wichtiger.
Hier in Weiden entdeckte ich heute morgen zu meiner Verwunderung ein mir bisher unbekanntes Nischenprodukt, das bei mir und einer anderen Kundin (mit gebührendem Sicherheitsabstand) zu echter Erheiterung führte. Die Po-Dusche! Sie „reduziert den Papierbedarf um mindestens 50%“ (äußerst praktisch beim gegenwärtigen Rollenschwund) und wird nicht nur „von 9 von 10 Personen“, sondern auch „von Gesundheitsexperten“ (?) empfohlen. Klingt doch hervorragend! Aber warum stand sie noch da? Hatte man sie bei der Stampede übersehen? War sie gerade erst eingeräumt worden? Auf den ersten Blick sieht die Po-Dusche aus wie eine elektrische Zahnbürste, ein Fieberthermometer oder eine Art „Einlaufhilfe“, aber vielleicht macht sie ja im Laufe des heutigen Tages noch einen Kunden glücklich und gibt ihm das gute Gefühl, mit genau diesem Kauf sein Leben gerettet zu haben. Ich wollte sie jedenfalls nicht, und die andere Dame auch nicht. Stattdessen habe ich mir ein weiteres Stück Seife gegönnt, an dem ich mich freuen kann. Mein Seifenvorrat ist schön anzusehen und wohlduftend. Die meisten Mint in Box (originalverpackt), wie man unter Sammlern sagt. Ein Vorrat eben. Seife ist ja lange haltbar. Legt man sie in die Schubladen, riecht es da auch gut.
Seife, man kann es gar nicht oft genug sagen, ist zur Zeit wirklich lebensrettend, weil sie die Virenhüllen zerstört, und trotzdem ist überall noch genug davon da. Sogar die transparente Flüssigseife mit den schwimmenden Fischen drin. Die horte ich auch. Kurzzeitig war sie ausverkauft, und das hat dann mich echt in Panik versetzt, aber jetzt ist alles wieder gut. Dass den Drogeriemärkten die Kondome ausgehen, wie man neuerdings dauernd munkeln hört, kann ich für Weiden nicht bestätigen. Das Regal war bestens bestückt, mit Exemplaren in allen Farben und Größen, davon habe ich mich auf diskrete Weise selbst überzeugt. Für den Rest von Köln und Deutschland kann das natürlich völlig anders aussehen. Auch egal.
Wenn ich lese, dass die US-Bürger (nur die Männer oder auch die Frauen?) als spontane Vorbereitung auf die anstehende Pandemie (noch vor dem Run auf die Klopapierrollen!) in Horden die Waffenläden stürmten, um sich ordentlich mit Munition und diversen Schusswaffen einzudecken, finde ich auch irgendwie befremdlich. Aber es paßt. Der Griff zu den Waffen ist kulturell erlernt und gut erprobt im Umgang mit „Feinden“, von denen man sich bedroht fühlt. Aber Viren kann man nun mal nicht einfach abknallen. Höchstens mit einer Spritze, die mit genau dem richtigen Impfstoff geladen ist. Aber das gehört in den Bereich der sogenannten „Schulmedizin“. Und da die wissenschaftlich fundiert und evidenzbasiert ist, kann das mit dem echten Schutz und dem lebensrettenden Schuss leider noch etwas dauern.
Ein sehr schöner Beitrag, Beate!!
Danke dir, liebe französische Freundin! Alles Liebe – und bleib gesund!