Freitag morgen waren wir auf dem Clarenhof, um den ersten frischen Spargel zu kaufen. Dass dort so viele Kunden sein würden, hatte ich gar nicht erwartet. Im großen Feld an der Straße blühen wie immer um diese Jahreszeit üppig die Tulpen und Narzissen (man kann sie auch selbst pflücken), und vor dem Laden sah es schon richtig österlich aus. Wenn die großen runden Abstandskreise und die Pfeile überall nicht gewesen wären, hätte man meinen können, die Welt sei noch in Ordnung. Ist sie aber nicht.
Draußen auf den Tischen standen nicht nur Hasen in allen Farben, sondern auch kleine und große Töpfe mit Blumen, und ich konnte nicht widerstehen und kaufte mir als Frühlingstrost zwei Märzenbecher. Meine hier im Garten haben offenbar die Wühlmäuse gefressen, und die neuen habe ich eben eingepflanzt. Mögen sie noch lange blühen und nächstes Jahr wiederkommen.
Drinnen im Laden gibt es übrigens ein Produkt, das ich persönlich schon seit zig Jahren bevorrate: Schwarzbrot der Bäckerei Zimmermann, meiner Lieblingsbäckerei noch aus der Zeit im Belgischen Viertel. Ein gutes Gefühl, jetzt wieder zwei Pakete mehr zu haben.
Im Clarenhof wird sorgsam auf Sicherheit geachtet, draußen gibt es Markierungen, und es sind immer nur ganz wenige Kunden gleichzeitig im Laden. Es tat mir gut, die vielen frischen Lebensmittel zu sehen. Produktmäßig sah alles ganz „normal“ aus, genau wie immer. Aber was mir auffiel: Inzwischen tragen immer mehr Menschen Mundschutz. Und immer mehr Menschen blicken ernst und schweigen. Nur wenige lächeln. Keiner lacht. Und ich sehe weniger Kinder. Wenn man sich in den Gängen oder an den Türen begegnet, dreht man einander den Rücken zu. Das ist richtig, rücksichtsvoll und notwendig in diesen Tagen, doch es fühlt sich nicht gut an. Mein Gefühl dabei: Ich stelle eine potentielle Gefahr für die anderen dar, und die anderen sind eine potentielle Gefahr für mich. Ich fühle mich bedroht. Von allen Seiten bedroht. Von Menschen und Viren. Sogar von der Luft und vom Spargel!
Und draußen lacht die Sonne und leuchten die Tulpen und Narzissen. Was für ein Kontrast! „Wir haben auch sonntags auf“, sagte die Frau an der Kasse. „Von 10 bis 18 Uhr.“ Für Menschen mit Hüttenkoller hier in Weiden, die ein bisschen Osterstimmung dringend nötig haben, ist der Hofladen vielleicht einen kleinen Ausflug wert? Aber das Wetter soll ja schlechter werden. Schneeregen ist angesagt.
Der Spargel vom Clarenhof schmeckt übrigens gut, wir haben ihn gestern schon gegessen. Spargel erinnert mich an meine Kindheit, denn ich komme ja vom Niederrhein. Meine Oma hatte ein großes Spargelbeet im Garten, der Boden in Herongen ist sehr sandig, und mein Vater fuhr während der Spargelsaison fast jede Woche nach Walbeck, um Nachschub für unsere Familie zu holen. Besonders meine Mutter war ziemlich spargelsüchtig. Spargel bedeutet für mich Vertrautheit, Elternhaus, Niederrhein, im besten Sinne. Im Auto habe ich mir die Hände desinfiziert. Hoffentlich werde ich nicht paranoid. Oder ist das nur vernünftig und realistisch?
Vor dem großen Rewe in Lövenich stand bereits eine erstaunlich lange Schlange, und auch hier herrschte auffällige Stille, kaum ein Lächeln, nur von den Angestellten, und der gebotene Sicherheitsabstand zwischen den Kunden war oft noch viel größer als 1,5 Meter. An der Ausgabe der Einkaufswagen stand eine freundliche Angestellte mit Handschuhen und schob den Kunden vorsorglich den Wagen hin, natürlich mit frisch desinfiziertem Griff. Auch hier fiel mir auf: Immer mehr Menschen tragen Mundschutz. Es sind alle Varianten vertreten von selbstgenäht und bunt bis weiß und „medizinisch“ oder richtig professionell und „krankenhausartig“. Ein Kunde, wahrscheinlich jung, aber genau weiß ich es nicht, denn man sah von seinem Gesicht nichts, trug eine Totenkopfmaske. In seinen Ohren steckten kleine Headphones, und alle, die alle vor und hinter ihm standen, durften mithören.
Auch im Laden selbst hielten die stillen Kunden großzügige Sicherheitsabstände ein. Sie warteten geduldig in den Gängen, bis die anderen fertig waren, und drehten einander den Rücken zu, wenn der Abstand aus Platzmangel zufällig unterschritten wurde. Der weiträumige Laden war wie immer gut bestückt, wirkte aber zumindest während unseres Besuchs kundenleer.
Ich warf einen interessierten Blick in das Regal, in dem Sie-wissen-schon-was hätte liegen sollen. Es war nicht leer, sondern mit anderen Produkten gefüllt, woraus ich schloss, dass der momentane Superstar aus Papier immer noch mit Abwesenheit glänzt. Durch den neuen Inhalt fiel es nur nicht mehr auf.
Meine Facebook-Freundin Anni aus Lübeck hat mir ein Bild geschenkt, das hoffnungsfroh stimmt, was die Klopapierzwangskäufe betrifft. Zumindest die Lübecker sind wohl zur Normalität zurückgekehrt, dort sind die Regale jedenfalls wieder voll. Vielleicht ist es hier ja auch bald soweit. Ich würde es mir wünschen. Dann könnte ich endlich aufhören, darüber zu schreiben. Aber in Lübeck gibt es gerade eine üble Sturmflut, und Teile der Stadt stehen unter Wasser. Ich mag Lübeck sehr, und Annis neue Bilder von überfluteten Straßen und wilden Wellen lassen Schlimmes ahnen. Auch das noch! Haben wir denn nicht schon genug Probleme? Wann hört das denn endlich auf?
Alle Personen, die im Rewe damit beschäftigt waren, die Regale aufzufüllen, trugen jetzt Visiere aus Kunststoff, und die KassiererInnen saßen gut geschützt hinter einer „Schutzwand“ aus Plexiglas, die mich spontan an die Bahnhöfe meiner Kindheit erinnerte. Vielleicht auch an die Post in unserem Dorf. Es gibt unten eine kleine viereckige Öffnung, durch die man sein Geld reichen kann. Aber wie beim letzten Besuch bezahlten die meisten mit Karte. Wie das so ist mit Zahlen, wenn man nicht wirklich entspannt ist, war die erste Pin-Eingabe falsch. Aber die Kassiererin blieb trotzdem ruhig und zugewandt. „Machen Sie sich keinen Stress!“ Das fällt mir immer wieder auf in dieser Rewe-Filiale: Alle, die dort arbeiten, sind äußerst freundlich und hilfsbereit. An der Kasse gab es ein Schüsselchen für Trinkgeld. Das war auch neu. Und auch diesmal habe ich mir im Auto die Hände desinfiziert. Überall können Viren lauern, langsam fange ich an zu spinnen. Schnell wieder zurück nach Hause! Die Straßen waren erstaunlich leer, sogar die Aachener.
Nach diesen beiden Einkaufserlebnissen sank meine Stimmung trotz Spargel, Schwarzbrot und Märzenbecher auf den Nullpunkt, und ich beschloss, uns jetzt endlich auch einen Mundschutz zu organisieren. Nicht weil ich daran glaube, dass sie uns schützen, eher weil wir offenbar langsam die einzigen sind, die noch „normal“ herumlaufen. Außerdem ist es eine Geste der Solidarität und signalisiert dem Ladenpersonal Rücksicht und Respekt. Hier in Weiden gibt es gleich mehrere Quellen, wie ich in der Facebook-Gruppe und bei nebenan.de lese. Etliche Frauen haben ihre Nähmaschinen hervorgeholt und nähen, was das Zeug hält. Man kann die fertigen Masken kontaktlos an einem Fenster abholen. Sogar die Wunschfarbe kann man angeben. Ich hätte am liebsten Blaugemustert. Nur nichts Rotes. Das erinnert mich leider sofort an Blut. Das will ich im Moment wirklich nicht vor dem Mund haben. Schon gar nicht auf meinem ersten Mundschutz.
Eine nette Mit-Weidenerin, die ich gerade erst bei Facebook kennengelernt habe, hat mir ein Foto geschenkt, das sie gestern morgen gemacht hat. Weidende Schafe in Weiden, völlig ohne Social Distancing. Die Glücklichen! Auch dieses Bild erinnert mich an meine Kindheit. Trotz der städtischen Strommasten. Wie oft habe ich mit meiner Freundin Winnie an der Niers gesessen, Bravos oder andere verbotene Hefte und Bücher gelesen und den Schafen zugeschaut. Den Rücken an einem Baumstamm oder bäuchlings auf dem Gras. Ich höre noch das Blöken der Schafe und wie sie gemütlich und friedlich kauen, und ich sehe die beiden schwarzen Hunde des Schäfers (der mit dem großen Hut) eifrig hin und her laufen. Ein vertrautes, beruhigendes Bild. Heute, am Sonntag, ist die Weidener Weide wieder leer. Schade. Die Schafe sind weiter gezogen. Sie haben es gut, sie können sich frei bewegen. Sogar in großen Gruppen. Gut behütet von ihrem Schäfer und seinen Hunden. Entspannt und sicher. Anders als wir Menschen.