Dass der Virologe und SARS-Experte Prof. Christian Drosten gerade allen Ernstes erwägen muss, sich aus der Öffentlichkeit zurückzuziehen, weil er angefeindet wird, als Karikaturfigur verunglimpft und dazu auch noch für den Tod des hessischen Finanzministers verantwortlich gemacht wird, kann ich nicht fassen. Diese ruhige Stimme der Wissenschaft und Vernunft, die uns seit einigen Wochen täglich so viele wertvolle, aktuelle und angstfreie Informationen gibt, halte ich für unverzichtbar. Für mich ist er jedenfalls von montags bis freitags das Highlight des Tages. Heute (Mittwoch, 1. April) konnte er leider nicht sprechen, weil er erkältet ist. Eine Nachricht, die mich jetzt richtig erschreckt. Ich hoffe inständig, dass er bald wieder ganz gesund ist! Dass es nichts Schlimmes ist! Und dass er weitermacht! Für mich ist dies der beste Podcast, den ich je gehört habe. 20 Millionen Abrufe verzeichnet die Sendung inzwischen, man hört sie in vielen Ländern, und es gibt auch schon Bitten, die Beiträge übersetzen zu lassen. Doch wie schwierig das ist, kann ich mir als Übersetzerin lebhaft vorstellen.
Letzten Montag haben wir einen kurzen Spaziergang durch Weiden gemacht. Leider fing es plötzlich an, heftig zu hageln, so dass wir an der Kirche kehrt machen mussten. Auf unserem Weg fielen mir viele Veränderungen auf, etwa das große bunte Regenbogenbild am Zaun der Clarenhofschule, das mit Kreide geschriebene Bibelzitat auf dem Bürgersteig vor der Evangelischen Kirche und die Briefumschläge, die am Aushang hingen. „Experiment mit Gott“ stand darauf. (Die online-Beiträge in „Oasenworte in Wüstentagen“ auf der Homepage der Evangelischen Kirche werden übrigens von Tag zu Tag umfangreicher, so dass zumindest die Gläubigen mit Internetzugang dort Trost finden und vertraute Stimmen hören können.)
Die Natur im Kirchengarten blüht und sprießt natürlich unverdrossen weiter, und an den weiß gestrichenen Stämmen der kleinen Straßenbäume blühen rosa Blüten. Der Frühling läßt sich durch ein paar Hagelschauer und Nachtfröste nicht beirren. Der grimmige Mose rechts neben dem Kircheneingang schaut genauso unwirsch wie immer, aber weil er mir leid tat, wie er so ganz allein im Hagel stand und auf den leeren Säulengang starrte, habe ich ihm kurz meinen Schirm geliehen. Über der Eingangstür leuchtet jetzt übrigens wieder der große Herrnhuter Stern, der sonst nur in der Advents- und Weihnachtszeit aufgehängt wird. Das warme Gelb ist tröstlich. Unser eigener, viel kleinerer Stern hängt übrigens auch noch hier im Garten.
Mit Schrecken las ich gestern Abend einen Artikel über einen Chor in den USA, der Anfang März die letzte Chorprobe in einer Kirche abhielt. Alle freuten sich über das Treffen, alle fühlten sich gesund, keiner hatte Symptome. Alle Vorsichtsmaßnahmen wurden eingehalten, man wahrte genug Abstand, es wurden keine Hände geschüttelt, jeder hatte seine oder ihre eigenen Notenblätter mitgebracht. Dann sangen alle gemeinsam. Eine Stunde lang. Viele schöne Lieder. Die Chorprobe machte allen Anwesenden Freude, es tat gut, sich in diesen dunklen Tagen zu sehen und zusammen zu singen. Doch jetzt, drei Wochen später, sind 49 der 60 Chormitglieder an Covid19 erkrankt, mehrere liegen im Krankenhaus, und zwei sind bereits an der Krankheit verstorben.
Wie gut, denke ich erleichtert, dass der Abendgottesdienst am 15. März nicht stattgefunden hat. Mein Mann hatte an diesem Abend Küsterdienst, alles war vorbereitet, und die ersten drei Reihen auf beiden Seiten waren für unsere Kantorei abgetrennt. Dahinter wären mehrere Reihen frei geblieben. Ein guter Freund von mir ist Mitglied der Kantorei, auch er wäre dort gewesen, und ich hatte mich schon darauf gefreut, ihn zu sehen. Es hätte zwar genug Abstand zwischen den Stuhlreihen gegeben, doch die Sänger und Sängerinnen wären sehr wahrscheinlich trotzdem nicht gut genug geschützt gewesen. Wenn man laut und kräftig singt, ist die Luft um einen herum voller Aerosole, und die Umstehenden atmen diese verwirbelte Luft ein. Es reicht offenbar, wenn nur eine Person infiziert ist, auch wenn sie selbst nichts davon spürt und völlig symptomfrei ist. Wie gut, dass der Gottesdienst so kurzfristig abgesagt wurde, auch wenn es sich damals so falsch anfühlte. Und wie grausam, dass etwas so Schönes und Kostbares wie gemeinsames Singen und Umarmen im Moment lebensgefährlich ist. Dieses Virus ist überall, macht keinen Unterschied, behandelt alle gleich. Ganz egal, wo wir leben, ganz egal, wer wir sind. Es überwindet alle Grenzen, dringt durch alle Ritzen und verbreitet sich in Windeseile um den Erdball. Es zwingt uns, alles zu stoppen, im Guten wie im Schlechten. Wir sind gezwungen, unser Leben auf Null herunterzufahren und zu warten, bis der böse Spuk vorbei ist. Und das kann dauern. Die Zahlen der Infizierten steigen. Die Zahlen der Verstorbenen auch. Heute liegen wir in Deutschland schon bei über 73.000 Infizierten (ohne Dunkelziffer), über 800 Toten und über 19.000 Genesenen (Quelle: nov2019.live). Und Trump hat es tatsächlich geschafft. In allen drei Sparten. America first. Jetzt stimmt es wirklich. Ein bitterer Triumph. Sogar für jemanden wie Trump.
Was mir auffällt: Ich sehe noch mehr Menschen mit Mundschutz auf den Straßen, lese noch mehr über die Vorteile dieser Vorsorge (für andere), habe mich mit einem Freund in Japan ausgetauscht, wo man an Atemschutzmasken gewöhnt ist. Langsam verändert sich meine Wahrnehmung. Einmal habe ich schon so einen Mundschutz getragen. Es war gar nicht so einfach. Das Atmen gegen Widerstand fiel mir nach einer halben Stunde schwer, unter dem Stoff war es warm und ungemütlich. Und dann wurde das Material langsam feucht. Schön war das nicht. Vor ein paar Tagen habe ich ernsthaft angefangen, für uns einen kleinen Vorrat zusammenzutragen. Aus unterschiedlichen Quellen. Hier in Weiden gibt es gleich mehrere Frauen, die solche Masken nähen, einige sind großzügig und verschenken sie, andere verkaufen sie. Zu sehr unterschiedlichen Preisen. Ich weiß, dass es viel Arbeit macht, so eine Maske zu nähen, und wie schon so oft bedauere ich, dass mir dazu das Talent fehlt, obwohl ich mütterlicherweits aus einer Schneiderfamilie komme. Schade, dass ich das Schneidergen so gar nicht geerbt habe. Ins Center sind wir bei unserem letzten kleinen Ausflug nicht gegangen, nur in die Apotheke. Mich deprimieren die leeren Gänge und verschlossenen Läden. Alles wirkt so ausgestorben. Auch die Bahn war wieder menschenleer.
Nach wie vor wird hier in Weiden abends um 21:00 Uhr ein Lied gesungen, über das im Laufe des Tages abgestimmt wird. In den großen Wohnblöcken singen viele Menschen mit, doch hier bin ich meist mit dem DJ unten im Schulhof allein. Einmal blieb es ganz still, da gab es gar keine Musik, nur der Mond stand fern und schmal am schwarzen Himmel. Ab und zu zeigen sich auch die Bewohner eines Hauses ganz weit weg rechts von mir. Zum Beispiel letzten Sonntag, als das bekannte Lied „Heimweh nach Köln“ von Willi Ostermanns gespielt wurde. Die inoffizielle Hymne dieser Stadt. Für mich hatte die Szene etwas Unheimliches, denn ich hatte plötzlich das starke Gefühl, dass mein Vater anwesend war. Fast auf den Tag genau sieben Jahre ist er jetzt tot. Er starb am 2. April 2013. Und doch stand er jetzt neben mir. Er kannte dieses Lied nur zu gut. Aus dem Krieg. „Das haben die Soldaten aus Köln immer gesungen. Sogar in den Schützengräben, mitten im Kugelhagel. Und nachts, wenn sie Heimweh hatten. Und auch in Gefangenschaft. Und dabei haben sie geweint.“ Willi Ostermann schrieb das Lied 1936, also noch vor dem Krieg, und verwendete dabei die Melodie einer früheren Komposition „Sehnsucht nach dem Rhein“. Es entstand kurz vor seinem Tod, als er nach einer schweren Operation in einem Kölner Krankenhaus lag und wußte, dass er nicht mehr nach Hause kommen würde. Zum ersten Mal gesungen wurde es an seinem Grab. Allein oben auf meinem Balkon stand ich neben meinem unsichtbaren Vater, den ich genau spürte, und versuchte mitzusingen. Bei der berühmten Zeile „Ich mööch zo Foß noh Kölle gon“ (Ich möchte zu Fuß nach Köln gehen) versagte mir die Stimme. Ich hörte die anderen klar und sicher mitsingen, während bei mir nur noch die Tränen liefen.
Guten Abend Frau Felten-Leidel,
ich habe mit großem Interesse Ihre Schilderungen zum Corona (heute 1.4.) gelesen. Das mit Herrn Drosten macht mich betroffen. Ich hoffe, er findet die Kraft und Gelassenheit, damit umzugehen.
Wie bin ich auf Sie aufmerksam geworden? Durch Hans Joachim Leidel, dessen Gedicht „die drei Wespen des Sir James Jeans“ mich seit 40 Jahren begleitet. Ich habe es über meinen Exmann kennengelernt und mir damals sofort notiert. Wir waren in Gießen um Gedichte meines Exmannes in Veröffentlichungen (per Micro-Fiche) zu suchen und fanden auch die von Herrn Leidel (z.B. Rondel). Mein Mann war Klaus Böcker, der eine längere Zeit mit Herrn Leidel befreundet war. Leider weiß ich nicht mehr, ob diese Freundschaft bis zum Tode von Herrn Leidel gehalten hat. Diese Details habe ich mir nicht gemerkt. Klaus Böcker wohnte seiner Zeit auch in Gießen.
Er ist 1927 geboren und verstarb hochdement am 8.12.2019. Nach seinem Tod suchte ich nach dem kleinen Gedichtband von Klaus „Bestandsaufnahmen“ und fand ein paar Exemplare antiquarisch. Und dann suchte ich auch nach einem Buch von Herrn Leidel und hatte das Glück zwei Stück erwerben zu können. Berührt hat mich, dass beide Bände unabhängig voneinander im Jahre 1986 erschienen sind. Mit großer Freude lese ich die Gedichte von Herrn Leidel. Wie er hat auch mein Exmann viele Gedichte in Erinnerung an die Kriegsjahre (er war noch mit 17 für Hilter im Krieg) geschrieben. Das wollte in den Anfangsjahren nicht jeder lesen oder hören. Heute erlebe ich hier eine größere Offenheit.
Jetzt habe ich so viel geschrieben, obwohl wir uns gar nicht kennen. Ich wünsche Ihnen alles Gute und bleiben Sie beschützt.
Mit einem Gruß
Karla Meyer, Freiburg i.Br.
Liebe Frau Meyer,
wie schön, dass Sie mich über meinen Schwiegervater gefunden haben, der bei uns sehr präsent ist, auch wenn er das Haus in der Realität nie betreten hat. Haben Sie meine Beiträge zu ihm hier auf der Homepage gefunden? Mein Mann hat Ihren Ex-Mann übrigens schon öfters erwähnt, so dass mir der Name durchaus ein Begriff ist. Ich glaube, wir haben sogar den ein oder anderen Brief von ihm, aber ich bin mir da nicht sicher. Die Korrespondenz von Jachym (wie ich ihn nenne) füllt mehrere große Kisten und Schubladen.
Vielen Dank für Ihre lieben Zeilen – und bleiben auch sie gesund und behütet.
Herzliche Grüße
Beate Felten-Leidel