Die Black Lives Matter-Bewegung, die nach dem gewaltsamen Tod von George Floyd in den USA sehr an Fahrt aufgenommen hat, konnte schon einiges bewirken, unter anderem auch ein vermehrtes Nachdenken über alte Klischees und eingefahrene (meist negative, kolonialistische, sexistische, patriarchalische) Denkmuster. Dies betrifft nicht nur Persons of Color, sondern alle „ethnic minorities“, also auch die amerikanischen Ureinwohner, die American Indians bzw. Native Americans. Heute bezeichnet man sie wohl politically correct als indigene Völker. Seit ihrer „Entdeckung“ durch Kolumbus, der sie „los Indios“ nannte, wurden sie umgebracht, vertrieben, ausgebeutet, gedemütigt und diskriminiert. Sie waren die Wilden, die Heiden, die Fremden. Doch sie wurden auch zur perfekten Verkörperung weißer Wunschvorstellungen, standen für Würde und Tapferkeit, für Schönheit, Stolz und Naturnähe. Beim Überdenken meiner eigenen (sehr deutschen) Denkmuster und Vorurteile gerate ich in emotionale Verwirrung.
In Wildwestfilmen wurden „Rothäute“ oft als blutrünstige Wilde dargestellt, die schreiend im Kreis reiten, Tomahawks schwingen, mit Pfeil und Bogen waghalsig an Pferden hängen und sich dabei von gut verschanzten und hervorragend bewaffneten Cowboys reihenweise abknallen lassen. Sie überfallen Siedlungen, setzen sie in Brand (gern auch die Lager von feindlichen Stämmen), skalpieren und massakrieren ihre Feinde, binden Bleichgesichter und andere Gegner an Marterpfähle und lassen sie in der Sonne schmoren, schänden oder entführen Frauen, stehlen Pferde und torkeln nach dem Genuss von Feuerwasser, das sie ganz schlecht vertragen, besoffen durch die Gegend. Das sind die „bösen Indianer“, hinterlistig und gemein, brutal und gewalttätig oder schwach und feige. Sogar Mark Twains Injan Joe ein unangenehmer Typ, für den man auch nach seinem Ende in der Höhle wenig Mitleid verspürt. Das sind die „bösen Indianer“.
Wie anders ist der deutsche Blick auf die Native Americans. Bis heute sind viele von uns geprägt von Winnetou und Nscho-tschi, also eigentlich von Karl May, der den edlen Häuptling um 1875 erfunden hat. Zuerst hieß der tapfere Apatsche noch Inn-nu-woh. Die Jüngeren kennen inzwischen auch die „Indianerprinzessin“ Pocahontas, allerdings vor allem in der Disney-Version mit Romanze, Waschbär und Kolobri. Bei Pocahontas bin ich übrigens selbst vor einiger Zeit schwach geworden und habe mich sehr über die Pocahontas-Barbie gefreut, die mir unsere Enkel geschenkt haben. „Die Oma steht voll auf Pocahontas!“ Stimmt, und dafür hat sie sogar persönliche Gründe, von denen die Enkel nichts ahnen. In den Winnetou-Filmen gibt es übrigens auch viele „böse Wilde“, die den grausamen Rothäuten in den amerikanischen Wildwestfilmen in nichts nachstehen, vor allem wenn sie zu den Stämmen der Sioux, Oglala oder Komantschen gehören.
Indianer sind in Deutschland extrem positiv „besetzt“, werden seit langem romantisiert, verklärt und bewundert. Bei uns herrscht ein ausgeprägter „Indianerenthusiasmus“. Während die Ureinwohner in den USA diskriminiert und fast ausgerottet wurden, wurden sie hier schon früh als „edle Wilde“ verehrt, nicht zuletzt durch die Völkerschauen von Buffallo Bill, der mit seiner Indianertruppe viele deutsche Städte besuchte. Und dann kam auch noch Winnetou! Ich muss gestehen, dass er auch zu meinen Kindheitshelden gehörte. Gemeinsam mit Odysseus und dem „Mann ohne Colt“ aus der gleichnamigen Fernsehserie. Das war der Zeitungsverleger Adam MacLean, gespielt von Rex Reason, von dem ich sogar ein Autogramm besitze, genau wie von Pierre Brice (als Indianer). Adam MacLean kämpfte mit Worten statt mit Kugeln. Das gefiel mir, für Waffen hatte ich noch nie viel übrig. Meine Kinderfreundin Kornelia und ich träumten davon, in die USA auszuwandern und Wolfsforscherin (und Tierärztin) zu werden. Vor allem aber wollten wir bei und mit den Indianern leben. Egal wo, auch im Reservat. Was Rollenverteilung und Heiraten betraf, machten wir uns keine Gedanken. Wenn es denn unbedingt sein musste, konnten wir uns den Mann teilen und zu dritt leben. So lange er unsere Wölfe akzeptierte.
In der Fantasie sahen wir uns auf sattellosen Pferden am Rand tiefer Canyons und über endlose Plains preschen. Frauen und Männer waren in unserer Vorstellung schon früh gleichberechtigt, denn wir hatten beide starke Mütter und Großmütter. Kornelia wollte vor allem Schamane werden. Nicht Schamanin, sondern Schamane. Sogar ihre schwere Krankheit hat sie später in diesem Sinne angenommen. Als schmerzhafte, unausweichliche, tödliche Initiation. Ein Schamane muss sterben, bevor er wiedergeboren wird und mit der Welt der Ahnen und Götter in Kontakt treten kann. Ich hoffe inständig, dass sie es geschafft hat. Vielleicht ist sie jetzt wirklich Schamane. Oder streift mit den Wölfen durch die Wälder oder gleitet mit den Adlern über die Schluchten. Das stelle ich mir gern vor und finde die Vorstellung tröstlich. Wenn sie mir in meinen Träumen begegnet, geht es ihr gut. Sie kann wieder lachen und sprechen, rennen, springen und tanzen, sie kann sich mühelos bewegen und wundert sich sehr, dass mich das verwundert.
In Berlin war sie während des Studiums mit Indianern befreundet und hat von ihnen viel über das Räuchern und über alte Mythen gelernt. Über ihrem Bett hing ein Traumfänger (über meinem auch). Sie las alles über Indianer, was sie finden konnte, auch den Riesenband „5.000 Nations“. Sie kannte die eindrucksvollen Portraits vom Ende des 19. Jahrhunderts, ihre Lieblingsfilme waren „Zwei Cheyenne auf dem Highway“ und „Little Big Man“, sie kannte die komplizierten Namen von Häuptlingen und Medizinmännern und gab ihren Katzen indianische Namen. Besonders die Lakota Sioux hatten es ihr angetan. Sie las Krimis und Kinderbücher, die von Indianern geschrieben waren. Am liebsten von Lakota-Frauen. Dass ihr indianisches Totemtier der Biber war, wussten wir schon als Kinder. Als sie älter wurde, sah sie immer mehr wie eine Lakota aus. War oder ist das jetzt alles rassistisch? Die unrechtmäßige Aneignung einer fremden Kultur? Heute sieht man das wahrscheinlich so.
Ich gerate tatsächlich in innere Konflikte, wenn es um Native Americans geht. Vielleicht sind meine Gefühle nur Projektionen, Idealisierungen und Romantisierungen, eine merkwürdige Mischung aus Trauer, Mitgefühl, Sehnsucht, Bewunderung und Faszination. Alte Kindergefühle. Ich kenne keinen Indianer persönlich, aber ich habe Indianer in den Reservaten gesehen und auch das Elend, in dem sie lebten. Ich habe so viele innere und äußere Bilder – aus Büchern, Filmen, aus Erinnerungen an die USA. Ich reagiere wohl immer noch „deutsch“, wenn es um Indianer geht, auch wenn ich Karl May nie gern gelesen habe. Ich fand seinen Stil schwülstig und Winnetous Ende richtig schlimm: „Winnetou stirbt als Christ.“
Als ich in den USA Indianern begegnete, konnte ich sie nicht fotografieren, nicht mal, wenn sie es darauf anlegten und für Fotos posierten. Bei meinem Besuch im Monument Valley stand hoch oben auf einem Felsen ein Indianer und winkte, er sah aus wie ein Scherenschnitt vor der untergehenden Sonne, aber auch ihn konnte ich nicht fotografieren. Es kam mir vor wie ein Sakrileg. „Wenn ihr uns fotografiert, raubt ihr uns unsere Seele“, höre ich Winnie-Kornelia sagen. Das hatte sie irgendwo gelesen und ich habe es nicht vergessen. Indianer darf man nicht fotografieren! Die Portraits, die wir von ihnen kannten, sahen ernst und würdevoll aus. Und irgendwie traurig. Das Wort, das meinem Gefühl am nächsten kommt, ist Ehrfurcht. Fotografiert habe ich nur Indianer aus Holz. Aber ich fotografiere ohnehin nicht gern Menschen, es sei denn, sie erlauben es mir oder, noch besser, bitten mich darum. In den Trading Points hätte ich so gern die wunderbaren Kunstwerke der Native Americans erstanden, aber ich hatte nicht genug Geld für die Decken, den schönen Silberschmuck, die Sandbilder und kostbaren Kachinas. Meinen ersten Amerika-Trip hatte ich bei einer Verlosung gewonnen, sonst hätte ich mir die teure Reise nie leisten können. Kornelia war nur einmal in den USA, sie hat sich wahnsinnig darauf gefreut („Das wird mein Leben ändern!“), aber nichts wurde so, wie sie es sich vorgestellt hatte. Sie konnte durch ihre Krankheit schon nicht mehr allein reisen, saß die meiste Zeit in einem Ort fest und traf keinen einzigen Indianer. Sie wollte so schnell wie möglich zurück ins Land unserer Träume, aber es war bereits zu spät. Aber einmal ist sie mit dem Flugzeug über die Canyon geflogen. „Ich hab mich jefühlt wie ’n Adler!“
Karl May hat die deutsche Wahrnehmung durch seine Bücher (und die Verfilmungen) nachhaltig vernebelt, aber die Vorliebe für Indianer gab es schon im deutschen Kaiserreich. Später, in der DDR, gab es nicht nur die Villa Bärenfett und das Indianermuseum in Radebeul (irgendwo müssen auch meine analogen Fotos sein, aber wo?), sondern auch die „Indianistik“, das Reenactment von „Indianerleben“ (oder dem, was man darunter verstand). Es gab Indianer-Clubs, Indianerkommunen, Indianerfreunde, eine Art ökoromantische Gegenbewegung zum herrschenden Sozialismus. Auch hier waren Indianer vor allem weise Schamanen, Heiler und Naturburschen, sie waren freie Menschen und schützten und liebten die Natur. Der verklärende deutsche Blick war tief in die Vergangenheit gerichtet, speiste sich aus der Fantasie eines Schriftstellers und idealisierte Indianer als edle Wilde. Aber auch in der Wahrnehmung anderer Länder sahen alle Indianer aus wie „Plains Indians“, denn von ihnen gibt es die meisten historischen Darstellungen.
In den 1970er und 80er Jahren wurde die (angebliche) Rede von Häuptling Seattle (nach dem die Stadt benannt ist) sogar zum Lieblingstext der deutschen Ökologiebewegung, obwohl sie so sicher nie gehalten wurde. Jeder und jede hatte das kleine Buch damals irgendwo im Regal. Immerhin hat es Seattle wirklich gegeben, und eine Rede hat er auch gehalten, aber den Text gab es zu keinem Zeitpunkt schriftlich, und Seattle hielt die Rede zudem in seiner Muttersprache. Ich weiß sogar noch ein paar Sätze daraus: „Meine Worte sind wie Sterne, sie gehen nicht unter.“ „Was immer den Tieren geschieht, geschieht auch bald den Menschen.“ „Wie kann man den Himmel kaufen oder verkaufen. Oder die Wärme der Erde?“ Wir fanden die Sätze schön und treffend. Mit Indianern verbinden wir durch Karl May „echte“ (kitschige?) Männerfreundschaften, Blutsbrüder (Kornelia und ich waren natürlich auch Blutsschwestern), Gewänder, Tipis, Stoffmuster und Perlenschnüre, Mokassins und Leggings, Friedenspfeifen, Federhauben, Trommeln und Adlerfedern. (Kornelia und ich hatten auch eine und hüteten sie wie einen Schatz. Ich habe sie immer noch.) Den Häuptlingskopfschmuck (Federhaube) fanden wir nicht erstrebenswert. Da waren wir minimalistisch. Uns genügte unsere Feder.
Merkwürdigerweise waren wir schon als Jugendliche ziemlich kritisch, wussten vom Elend in den Reservaten, vom „Trail of Tears“ und Custers (wohlverdientem!) Ende bei der Schlacht am Little Big Horn. Wir wussten natürlich auch, dass der schöne Winnetou, der die Bravo-Cover zierte (wir hatten ihn beide als Star-Schnitt), in Wirklichkeit Bretone war und kein Indianer, aber er war so schön, dass es uns nicht störte. Winnetou war eine fiktive Figur war, die nie gelebt hatte – im Gegensatz zu Sitting Bull, Crazy Horse, Geronimo, Red Cloud oder Powhatan. Kornelia, die sich so leicht in Winnie verwandelte, dass wir bald selbst nicht mehr wussten, was Fantasie und was Erinnerung war, kannte schon früh die Namen und Sitten verschiedener Stämme, und das ist nicht erfunden.
An Karneval wollten wir als Kinder natürlich beide Indianer sein. Nicht, weil wir uns über sie lustig machten, sondern weil wir sie liebten und bewunderten – oder das, was wir uns unter ihnen vorstellten. Indianer, wohlgemerkt. Nicht Indianerin! Wir hatten eindeutig eine Art Gender-Problem. Natürlich durften wir nicht. Das „gehörte sich nicht“ für Mädchen. Höchstens „Squaw“ (abwertend und sexistisch) war irgendwann möglich. Dazu gab es blauschwarze Zopfperücken, die wie verrückt juckten und unmöglich aussahen, wenn man sie entflocht. Winnie-Kornelias Mähne war ideal für Indianer. Meine feinen Haare nicht.
Es war eine unerfüllte, sehnsuchtsvolle Liebe, und ein bisschen spüre ich sie immer noch. Von Nscho-tschi (Marie Versini, auch aus Frankreich, genau wie ihr Filmbruder) träumten damals viele Jungs. Wir fanden sie schön, aber ihr Ende machte uns wütend. Dass die zierliche Nscho-tschi nur sterben musste, damit sie den Männern aus dem Weg war und nur ja keinen „Weißen“ heiraten und Kinder mit ihm bekommen konnte, mutmaßten wir schon damals misstrauisch. Wir waren schon früh Frauenrechtlerinnen. „Die stirbt nur, weil die ne Frau is!“ „Jenau!“ Im Film wird sie von Santer alias Mario Adorf erschossen, was viele Deutsche ihm nie verziehen haben. Bei Karl May liebt Old Shatterhand sie nicht mal richtig, wenn ich mich recht erinnere!
Überhaupt gab es damals kaum tolle Frauen in den Büchern und Filmen. Schon gar keine starken, gleichberechtigten oder überlegenen. Entscheidungen trafen immer nur die Männer. Die Heldinnen, mit denen wir uns identifizieren oder die wir verehren konnten, waren dünn gesät und irgendwie verkannt: Maria, die nicht mal zur Dreifaltigkeit gehört, Hildegard von Bingen, die bärenstarke, aber gleich von zwei Männern durch eine gemeine List betrogene Brunhild (Krimhild, verachteten wir aus tiefstem Herzen, sie war eine totale Katastrophe, weil sie den Mund nicht halten konnte!), Athene, die in voller Rüstung aus dem Kopf ihres Vaters sprang und völlig ohne Männer lebte, Audrey Hepburn, weil sie so wunderschön war, und Pocahontas, weil sie so mutig war. Möglicherweise war das alles aus heutiger Sicht auch bloß wieder nur eine Mischung aus Sexismus, Rassismus und Kolonialismus, denn sie riskierte ihr Leben, um John Smith, einen weißen Mann zu retten, mit dem sie nicht mal eine Romanze verband wie in der Disney-Version. Die echte Pocahontas hat einen Mann namens John Rolfe geheiratet und wurde (freiwillig oder unter Druck) zum Christentum bekehrt. Irgendwer lockte sie auf ein Schiff, wenn ich mich recht erinnere. Nach der Taufe gab man ihr den Namen Rebecca. Aufsässige und autarke Mädchen waren in Kinderbüchern und Kinderfilmen rar gesät. Sogar der wilde „Trotzkopf“ wurde leider gebrochen. Die Pippi Langstrumpf-Bände kamen zu spät in mein Kinderleben, aber diese Zopfgestalt gehört ohnehin in eine andere Kategorie. Hoffentlich fühlen sich Rothaarige nicht durch sie diskriminiert. Schade, dass sie so oft rassistische Begriffe benutzte. Aus der N….Prinzessin ist inzwischen allerdings längst eine Südseeprinzessin geworden.
Wir lasen schon früh James Fenimore Cooper („Der letzte Mohikaner“, „Lederstrumpf“), die Bücher gab es in einer vereinfachten Jugendfassung in der Leihbibliothek, und später im Studium habe ich mich ausgiebig mit der amerikanischen Literatur aus der Zeit des „Wilden Westens“ beschäftigt. Da begegnete ich auch wieder Chingachgook (was für ein Name!) und Unkas. Als ich als Studentin nach England zog, traf ich gleich in der ersten Woche auf Pocahontas, denn ich lebte in Gravesend, und dort ist sie beerdigt. Ich weiß noch, wie ich zum ersten Mal (zufällig! Gibt es Zufälle?) ihre Statue fand. Winnie-Kornelia war richtig neidisch. Ich habe Pocahontas (eigentlich hieß sie Matoaka) oft besucht.
Es gibt Orte, an denen ich gut nachdenken kann, und bei mir sind das vor allem Friedhöfe. Möglicherweise wird die mädchenhafte Gestalt mit der Feder im Haar bald verschwinden, denn auch sie bedient wohl vor allem weiße männliche, kolonialistische und sexistische Klischees. Die echte Pocahontas sah völlig anders aus und trägt auf dem alten noch erhaltenen Kupferstich eine düstere Miene und einen merkwürdigen Hut. Sie besuchte 1616 England und den Königshof, wo man sie als „Indianerprinzessin“ bewunderte, und erkrankte bei der Heimreise schwer an Typhus/Pocken/Lungenentzündung oder Tuberkulose. Genau weiß man es nicht. In Gravesend holte man sie schwerkrank vom Schiff, und dort starb sie dann am 21. März 1617. Eigentlich liegt sie gar nicht unter ihrer Statue, denn ihr Grab in der St. George’s Church wurde bei einem Brand völlig zerstört, aber das wusste ich damals noch nicht. Ich verbinde jedenfalls viele gute Erinnerungen mit ihrem vermeintlichen Grab.
Ich habe nicht nur die Barbie-Puppe, sondern auch noch die meisten meiner Cowboys und Indianer aus Kinderzeiten. Wir nahmen den Figuren immer sofort die Waffen ab und machten sie zu Freunden. Leider gab es unserem Cowboy Fort keine einzige weibliche Figur (später habe ich mir zwei Indianerfrauen aus Masse gekauft), denn es war „Jungensspielzeug“. Wie die Ritterburgen und Bauernhöfe. Ich habe bis heute keine Ahnung, warum ausgerechnet mein Fort-Weihnachtswunsch erfüllt wurde. Einen Bauernhof und eine elektrische Eisenbahn hätte ich auch gern noch gehabt, nur die Ritterburg fand ich langweilig. Die Ritter trugen Rüstungen und ihre Pferde auch, man konnte nicht mal ihre Gesichter sehen. An unerfüllte Weihnachtswünsche und „Das gehört sich nicht für Mädchen!“ waren wir gewöhnt. Barbies hätte ich mir damals nie gewünscht, das war unter meiner Würde, aber damals gab es Pocahontas noch nicht. Ruth Bader Ginsburg hätte mir auch gefallen. Ich überlege gerade, ob ich sie mir als Action Figur zulege. Was für eine unglaublich tolle Frau!
Bei uns ritten sowohl die Cowboys als auch die Indianer ohne Sattel und Zaumzeug. Sie bekämpften sich nie, sie lebten friedlich zusammen in den Blockhäusern und züchteten Pferde. Ich weiß noch, dass der Cowboy mit dem blauen Hemd Jim hieß, und der Indianer mit dem erhobenen Arm (die Lanze hatten wir ihm abgenommen) Unkas. Ihm gehörte das schönste weiße Pferd, das wir hatten. Und wenn im Fernsehen halbnackte heulende Indianerhorden die Siedler umkreisten, regten wir uns tierisch auf. Wir kannten zwar die Worte Rassismus und Sexismus nicht, aber wir merkten sofort, wenn etwas unfair oder abfällig war. Und ein Genderproblem, was Spielzeug betraf, hatten wir eindeutig auch.
Als ich gestern noch überlegte, ob ich den überlangen Blogeintrag wirklich frei schalten oder lieber doch löschen sollte, passierten zwei merkwürdige Zufälle. Als erstes erwähnte eine Bekannte aus heiterem Himmel, dass sie aus Radebeul stamme und während ihrer Kindheit noch der Grizzly vor der Villa Bärenfett stand und ein echter amerikanischer Cowboy das Museum verwaltete. Er sei mit seinem Cowboyhut durch die Straßen von Radebeul marschiert und die Kinder hätten ihn auf Indianerart gegrüßt. Howgh! Und er grüßte genauso zurück. Das erste Zeichen. Als ich mich anschließend (nach einem langen anstrengenden Tag) ein wenig entspannen wollte und mich erwartungsvoll bei amazon prime einfand, präsentierte die Liste mit neuen Filmen mir als erstes „Te Ata – Stimme des Volkes“, was mich gleich doppelt vom Sofa haute. Von der berühmten Te Ata Fisher (geb. Mary Frances Thompson), die als Indian Story Teller sogar vor dem damaligen US-Präsidenten (Roosevelt) und der englischen Königsfamilie (King George) aufgetreten ist, hatte ich noch nie zuvor gehört.
Aber rein zufällig ist Ata der Name, den ich mir als Kind selbst gab und den nur meine liebsten Menschen benutzen dürfen. „Siehste!“ höre ich Winnie-Kornelia triumphieren. „Du has‘ ’nen echten Indjanernamen!“ Eigentlich stammt Ata aus der Sprache der Maori, merkwürdig, dass auch Mary Francis ihn wählte, und bedeutet Morgen. Ich betrachtete die schöne junge Frau im Film, die anmutig die Arme hob und mit eindrucksvoller Stimme rief: „My name is Te Ata, Bearer of the Morning. I am Chickasaw and a storyteller and this is my story.“ My name is auch Ata, und ein Storyteller bin ich auch. Das war das zweite Zeichen. Der Blogeintrag wird nicht gelöscht! Zum Glück werden die Indianer im Film alle von Indianern gespielt, und die Native American-Heldin hat wirklich gelebt. Ich darf den Film also mögen, auch wenn viele Schauspieler aussehen, als trügen sie schlecht sitzende Perücken. Vor allem Te Atas Vater und ihr früh ergrauter Gatte.
Als Indianer verkleiden darf man sich schon lange nicht mehr. Das spielerische Hineinschlüpfen in „eine andere Haut“ (aus welchen Gründen auch immer) ist heute tabu. Möglicherweise sind auch die Tage der Festspiele von Bad Segeberg gezählt. Da treten eher keine echte Indianer auf, und das geht gar nicht in Zeiten, in denen sogar farbige Comicfiguren von gleichfarbigen Sprechern synchronisiert werden müssen. Merkwürdige Welt. Wenn das so weitergeht, werden unsere hervorragenden Synchronsprecher bald ein Problem haben.
Vorüber sind offenbar auch die bunten Tage der Kölner Stämme. Auch dort gibt oder gab es Indianer. Sie hatten die fremden Kulturen sorgfältig studiert, ihre Kleidung liebevoll selbst genäht, die Tipis originalgetreu nachgebaut. Erlaubt sind wohl höchstens noch die alten Römer, die am liebsten als Gladiatoren auftreten. Alte Römer gibt es längst nicht mehr und die Hautfarbe stimmt ja. Ritter und Hunnen gehen vielleicht auch noch durch. Die gibt es längst nicht mehr, allerdings sind die Hunnen gelb geschminkt und damit wahrscheinlich rassistisch. Menschenfresser geht gar nicht, da Blackfacing und damit extrem rassistisch. Aber was ist mit Piraten? Weiße Piraten müssten eigentlich noch erlaubt sein. Weiße Kannibalen möglicherweise auch, die gibt es sogar in Grimms Märchen. Und Mongolen? Sie sind gelb geschminkt bei den Kölner Stämmen, und es gibt sie wirklich. Also rassistisch. Sie hatten wirklich schöne Zelte und Kostüme, alles originalgetreu. Und die Mongolen- und Hunnenfrauen waren echt zum Fürchten, besonders wenn sie im Pulk marschierten. Als Kinder wären wir entzückt gewesen. Die hätten uns mächtig imponiert! Gerade fällt mir auf, dass es schon ewig kein Kölner Stämmelager mehr gegeben hat. Das letzte große war 2010, da haben die Stämme sehr viel Geld für Mukoviszidose-Kinder gesammelt und mein Mann hielt im Namen der Stadt eine Dankesrede. Schade. Es war wunderbar, zur Abwechslung mal nach Herzenslust Menschen fotografieren zu dürfen, die sich freuten, wenn man sie ablichtete.
In den USA (und auch hier) sind momentan etliche bekannte Markennamen und Symbole (zu Recht!) dabei, auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden, nicht nur Persons of Color wie der weltberühmte Uncle Ben (ab 2021 werden die Produkte endgültig umbenannt in „Ben’s Originals“ und verlieren ihr Gesicht) und die lächelnde Aunt Jemima, die in der Tat mal extrem rassistisch war, sich im Laufe der Zeit aber schon stark verändert hat. Doch sie ist immer noch schwarz und daher immer noch ein rassistisches, und weil sie zudem eine Frau ist, auch ein sexistisches Klischee. Auch Indianer*innen wie die kniende „Indian Maiden“ auf den „Land o’ Lakes“-Produkten werden bald der Vergangenheit angehören. Inzwischen bietet die „Indian Maiden“ die Butter zwar nicht mehr kniend dar, suggeriert aber weiterhin, dass Indianerinnen romantisch, unschuldig und harmlos sind und bedient damit eindeutig weiße sexistische Vorurteile. Sie trägt fast die gleiche Kleidung wie Te Ata, Pocahontas und Winnetous Schwester. Auch der markante Indianerkopf mit der Federhaube auf „Crazy Horse Malt Liquor“ wird verschwinden.
In der Schweiz wird gerade eine beliebte Eissorte umbenannt, die „Winnetou“ heißt. Die Verpackung ziert ein Häuptlingskopf und das Eis ist schwarz-rot-gelb gestreift. Es gibt dieses Glace seit 1980, und in der Schweiz ist es offenbar überall bekannt, fällt aber klar in die Rubrik rassistisch, denn es verunglimpft einen Indianer, auch wenn es ihn niemals gab. Das geht gar nicht! Sogar Winnie-Kornelia und ich wären total ausgerastet bei der Vorstellung, Winnetou abzulecken und zu essen! Noch dazu mit Kopfschmuck und Kriegsbemalung! Ich bin gespannt, wie das Wassereis fortan heißen wird. Heute habe ich gelesen, dass bei uns auch die Haribo Goldbärchen bald der Vergangenheit angehören sollen. Nicht aus farblichen Gründen, sondern weil sich die Ernährungsgewohnheiten stark verändert haben. Da sollte ich mich doch noch einmal mit ein paar Packungen eindecken. Meine Lieblingsbärchen sind eindeutig die grünen, womit ich auf der sicheren Seite bin, denn es gibt ja auch gelbe und rote.
Ich gehe hoffnungsvoll davon aus, dass der kraftstrotzende Meister Proper, der ausschreitende Johnny Walker, der zahnkundige Dr. Best (seit kurzem auffallend verjüngt), der runde Schnauzbartkopf auf den Pringles-Packungen und der kernige Käpt’n Iglo noch ein bisschen bleiben, weil Werbung ohne Bilder und Bezugspersonen irgendwie doch ziemlich öde ist. Aber zum Glück bedienen sie ja keine rassistischen Klischees. Höchstens sexistische. Ich denke dabei an Meister Propers Muskelpakete. Aber bisher hat sich offenbar noch kein Mann beschwert.