Einzelne Vereine und „Stämme“ gab es schon seit den 1950er Jahren, doch erst 1991 schlossen sich die fast 80 verschiedenen Gruppierungen zu den „Kölner Stämmen“ zusammen. Zwei der großen Stämmelager habe ich als Gast besucht, und es fühlte sich ein bisschen an, als wäre man plötzlich in einem farbenprächtigen Filmset gelandet. Oder in einer anderen Welt. Das Eintrittsgeld ging an die CF-Selbsthilfe Köln, und dank der zahlreichen Besucher kam eine stolze Summe zusammen. Viele Vereine und Gruppen sind dem Kölner Karneval entsprungen, doch den Mitgliedern der Stämme ging es augenscheinlich um mehr, etliche von ihnen „lebten“ ihre Rollen und feierten sogar ihre wichtigsten Feste in und mit der Gruppe. Alles sollte so authentisch wie möglich sein, dazu lasen sie Bücher, schauten sich Filme an und besuchten die Länder, aus denen ihre Figuren stammten. Manche lernten sogar die Sprache und luden Gäste aus „ihrem“ Land ein. Einige dieser „Ehrengäste“ waren auch bei den Stämmelagern anwesend.
Irgendwo in den Tiefen unseres Hauses befindet sich ein Bildband über die Kölner Stämme, den ich jetzt gern zu Rate ziehen würde, doch ich kann ihn nicht finden. Bei uns hausen Kobolde, die einen üblen Sinn für Humor haben und gern Sachen verstecken, um sie dann irgendwann, wenn man sie nicht mehr braucht, an genau den Stellen zu deponieren, wo man sie die ganze Zeit vermutet hat. Offenbar necken sie auf diese Weise Menschen, die sie mögen, also soll es mir recht sein. Auch mein Album mit den analogen Bildern bleibt (weiterhin) verschollen. Dabei weiß ich genau, wo es steht! Aber inzwischen habe ich wenigstens meine digitalen Fotos gefunden.
Unser Führer auf der „Reise durch die Zeit“ war beide Male der römische Gladiator Metilius (der mir von seinem realen Vorbild erzählte, die genauen Daten sind mir leider entfallen). Er war Mitinitiator der „Kölner Stämme“ und 1. Vorsitzender der „Löstigen Gladiatoren“, hieß mit Kölner Namen Jürgen Kurth und ist leider allzu früh verstorben. Bei seiner Beerdigung vor acht Jahren gaben ihm die Kölner Stämme auf dem Nordfriedhof das letzte Geleit und verabschiedeten ihn mit „Ave Metilius!“ und „Maach et joot, Jürgen.“ „Mach et joot“ sagt man hier in Köln oft an Gräbern. („Maach et joot, Jung“ oder „Maach et joot, Mädche“)
Metilius hatte eisblaue Augen und wirkte in seinem Ledergewand äußerst imposant. Er hatte das, was man gern als „Aura“ bezeichnet und flößte jedem automatisch Respekt ein. Genauso hatte ich mir als Kind einen Gladiator vorgestellt! Einmal habe ich ihn gar auf dem Streitwagen gesehen. Pferde gab es nämlich auch bei den Stammestreffen, sogar riesige Kaltblüter, die man heute kaum noch sieht. Und Greifvögel, die man ganz aus der Nähe bestaunen konnte. Hier habe ich damals meinen ersten Weißkopfseeadler fotografiert, was für mich ein besonderes Erlebnis war, denn ich habe vor Jahren einen Bildband über Adler übersetzt.
Die Stimmung im „Stämmelager“ war entspannt und ruhig, aber auch lebhaft und ausgelassen, friedlich und einträchtig standen die Zelte der Gladiatoren, Ritter, Mongolen, Indianer und Hunnen nebeneinander, und es gab auch ein stimmungsvolles Piratenlager mit einem leider arg kleinen Schiff, aber ein Riesenschiff wäre eindeutig zu aufwändig gewesen. Dafür waren die Piraten wunderbar gewandet und hatten ein gruseliges Skelett in einem Käfig. Die wilden Kerle selbst waren eindrucksvoll und wirkten wie Figuren aus Stevensons „Schatzinsel“.
Es gab auch ein Badehäuschen mit einem Holzzuber, in dem irgendwann tatsächlich jemand saß, möglicherweise aus dem Mittelalter, und sich abschrubben ließ. Attilas gab es offenbar gleich mehrere, also auch mehrere Hunnenhorden sowie einen Sultan mit Prachtzelt und „Haremsdamen“, etliche Ritter der Tafelrunde, Ostgoten, Böschräuber, Cowboys und Indianer, Barbaren, Wikinger, Highlander (mit echten Dudelsäcken, einige wirkten auch echt schottisch), Mongolen, einen Clan der Nordmänner und den geheimnisvollen Ring der Schamanen.
Man konnte alle Zelte betreten, dazu gab es Handwerksstände und Ritterspiele, eine merkwürdige Zeremonie mit Sarg, Tod und rauchendem Feuer, und immer wieder irgendwo ein kleines Gelage oder eine Musik- oder Tanzeinlage. So lange die Menschen aus der anderen Zeit nichts sagten, wähnte man sich gelegentlich wirklich in der Vergangenheit, aber wenn sie sich lautstark auf Kölsch begrüßten, mit einem ins Gespräch kamen oder gar Karnevalslieder schmetterten, musste man doch grinsen, weil das, was man sah, und das, was man hörte, so gar nicht zusammenpasste. Aber irgendwie passte es dann auch doch, denn wir waren ja in Köln, der Hochburg der Verkleidung, Rollenspiele, Kostüme und Masken. Anders als im Karneval nahmen diese Darsteller ihre Rollen allerdings erstaunlich ernst. Sicher bewegt und fühlt man sich auch völlig anders, wenn man exotische Gewänder, Umhänge, Kopfbedeckungen oder schwere Waffen trägt. Metilius habe ich immer nur als Römer und Gladiator gesehen. Ich kannte auch seinen richtigen Namen nicht.
Die Hunnen hatten alle möglichen „Beutestücke“ in ihren Zelten aufgehäuft und trugen fantastische Kostüme, die natürlich auch „Beutestücke“ waren, wahrscheinlich zusammengetragen von Flohmärkten, Antikmärkten, Kostümverleihen oder Reisen. Dazu brauche man den „hunnischen Blick“, meinte eine der Hunnenfrauen lachend. Heute würde mir sicher das traditionelle Frauenbild der Stämme auffallen, auch wenn die Hunnenfrauen noch so imposant aussahen. Haremsdamen und Ritterfräulein? Aber vielleicht gab es auch eine Königin und eine Schamanin? Piratinnen gab es auf jeden Fall, und auch sie sahen zum Fürchten aus.
Ich habe keine Ahnung, ob es die vielen Kölner Stämme heute noch gibt, einige haben todsicher inzwischen Namen und Aussehen stark verändert. Vieles geht gar nicht mehr. Dass die „Frechener Negerköpp“ so nicht weiterbestehen konnten, war wohl jedem klar. Sie tauften sich daher um in „Wilde Frechener“ und wie sie heute aussehen, weiß ich nicht. Vielleicht sind sie grün oder blau? Ich meine mich zu erinnern, in der Zeitung gelesen zu haben, dass sie in ihrer alten Kostümierung mit Steinen beworfen, beschimpft und bedroht wurden. Wir sind heute sehr viel feinfühliger, was den Blick auf andere Kulturen und Ethnien betrifft. Irgendwo hört der Spaß selbst an Karneval auf. Sogar in Köln. 2018 bekam eine alteingesessene Kölner Konditorei Riesenprobleme, als man zur Jeckenzeit weiße und schwarze rundliche Gebilde mit Gesichtern und komischen Hüten in ihrem Schaufenster entdeckte, die stark an eine extrem klebrige Süßigkeit erinnerten, die wir als Kinder noch höchst unbedarft benannten und verzehrten.