Seit ich weiß, dass mir Geruch und Geschmack (hoffentlich) nur vorübergehend abhanden gekommen sind (schmecken kann ich wieder alles), freue ich mich jeden Tag über die unzähligen Sinneseindrücke, die nach und nach zurückkehren. Ich genieße und begrüße jeden einzelnen wie einen alten Freund. Sogar die unangenehmen, die man normalerweise am liebsten ausblenden würde. Eins habe ich in den letzten Monaten gelernt: Nichts, aber auch gar nichts ist selbstverständlich, nicht mal der Duft von Seife oder der Geschmack von Zucker. Vorige Woche fuhren wir an einem Bauernhof vorbei, ich konnte den Misthaufen deutlich riechen, es war wunderbar! Ich bemerke inzwischen auch wieder unseren Abfalleimer, die Mülltonne, das benutzte Katzenklo, verschimmelte Zitrusfrüchte und abgestandenes Blumenwasser. Ja, darüber kann man sich tatsächlich unbändig freuen! Das hätte ich bis vor kurzem auch nicht für möglich gehalten. Es ist ein gutes, beruhigendes Gefühl, dass fast alle sicheren Wegweiser und Warnmelder wieder da sind. Die hochsensible Alarmanlage musste einen kompletten Neustart hinlegen und ist dabei nicht abgestürzt.
Es fühlt sich an, als wäre ich neu geboren, so frisch und intensiv nehme ich alles um mich herum wahr. Ich gerate in Verzückung über den Duft von Orangen und Äpfeln, von Kerzenrauch, Pfefferminz, Petersilie, Lavendel, Regenluft, Kaffee und Toast. Ich genieße den Geschmack von Sahne und Milch, Joghurt und Quark, Kaugummi, Süßkartoffel, Möhre, Schlangengurke, frisch gemahlenem Parmesan, Weihnachtsmarmelade (besonders die von Wilkin & Sons) und Schokolade. Manchmal gönne ich mir auch einfach alles durcheinander. Mir wird davon nicht etwa schlecht, es tut einfach nur gut, wieder so viel zu schmecken und zu riechen. Lebkuchengewürz! Spekulatiusgewürz! Bourbon Vanille!
Gelegentlich entwickle ich sonderbare, für mich untypische Gelüste, über die ich mich selbst wundere, und muss dann unbedingt weiche Marshmallows, kleine Salzkaramelltrüffel, klebrige runde Physalis, saure Gewürzgürkchen, Toblerone mit Honignougat oder englischen Cheddar mit „Original Branston Mixed Pickles“ essen. Diese Pickles bekommt man in England zum „Ploughman’s Lunch“, und die angenehme Erinnerung, im warmen Pub mit besten Freunden zu sitzen bei gedämpfter englischer Hintergrundkonversation, wird damit sofort „getriggert“.
Leider waren die Pickles echt schwer zu bekommen so kurz vor Weihnachten, denn die englischen Läden hier waren so gut wie leer gekauft. Aber schließlich wurde ich doch noch fündig und bestellte auch gleich ein Glas „Heinz Sandwich Spread“, das strich mir meine „englische Mutter“ Pat immer auf die Lunchbrote, und „Coleman’s Mintsauce“. Die gab es stets zu den gräßlichen Lammgerichten. In GB sind die „Lämmer“ offensichtlich deutlich älter als hier in Deutschland, so dass englisches Lammfleisch unangenehm nach Hammel schmeckt und riecht, darauf habe ich auch kein bisschen Lust, seltsamerweise aber auf die knallgrüne Mintsauce, die damals zuverlässig den ekligen Hammelgeschmack abmilderte.
Die Lamb-Mint-Kombination gab es oft bei meinen Landlords, einem äußerst netten älteren Ehepaar, das leider schon lange nicht mehr lebt, an das ich mich aber gern erinnere. Daher wohl auch der Mintsauce-Trigger, der mich auf der Stelle in das gemütliche Holmansche Eßzimmer versetzt, wo Mrs Holman von ihrem letzten Urlaub erzählt und dabei ihre Ringe dreht. Jetzt gerade bekomme ich übrigens auch noch Lust auf den Earl Grey Tea von Twinings (hab ihn leider nicht vorrätig), den tranken wir immer in unserem Haus in der Kitchener Avenue, und Mr Holman bezeichnete den typischen Geruch gern als „Chanel No 5“. Und Mince Pies (haben wir dieses Jahr leider auch nicht). Wie leicht man mit Aromen aller Art in die Vergangenheit reisen kann, und wie schön, dass ich diese Möglichkeit wieder habe, dass die Sinnes-Türen zu meinen Erinnerungen wieder offen stehen.
Ich schwelge in Soul Food (Spaghetti mit Tomatensauce, Weißbrot mit frischem Holländer, Pfannkuchen und Waffeln) und vertrautem, fast vergessenen „Kinderessen“, mache mir grünen Waldmeister-Wackelpeter, trinke Coca Cola (classic, das Lieblingsgetränk meines Vaters) und Rotbäckchen. Beides mag ich eigentlich schon lange nicht mehr, aber es tut einfach unglaublich gut, es wieder schmecken zu können, denn es weckt so viele Erinnerungen! Die richtigen Veilchenpastillen (die liebte mein Vater) und gebrannte Mandeln (die liebte meine Mutter) habe ich noch nicht auftreiben können, aber ich halte die Augen und die Nasenflügel offen.
In der Zwischenzeit gönne ich mir die knusprigen Kekse nach den alten Rezepten meiner Großmütter, luftiges Rosinenbrot (fast hatte ich vergessen, wie unglaublich süß und weich Rosinen sind) und warme, in Zucker gewälzte Krapfen. Jedes Mal habe ich wieder das beglückende Gefühl, „nach Hause“ zu kommen, zurück zu meinen feinen hochsensiblen Sinnen. Ich fühle genau, wie ich heile. Diese unberechenbare, heimtückische, oft lebensbedrohliche und leider allzu oft tödliche Krankheit, die gerade überall auf der Welt wütet und ein Land nach dem anderen in die Knie und in den Lockdown zwingt, hat mich (hoffentlich) nur gestreift.
Noch weiß man es nicht genau, aber einige Studien lassen darauf schließen, dass es möglicherweise vor allem die milden Verläufe sind, die mit dem für die Krankheit typischen Symptom des Geruchs- und Geschmacksverlusts einhergehen (70-85%), so dass die plötzliche „Sinnesänderung“ im Grunde vielleicht sogar ein gutes Zeichen ist. Anscheinend löst das Virus bei Patienten, die einen totalen Verlust des Geruchssinns erleiden, in der Nase eine sehr starke lokale Immunreaktion aus, die zwar zu Geruchsverlust führt, gleichzeitig aber dafür sorgt, dass die Infektion auf den Riechkolben beschränkt bleibt und das Virus nicht weiter vordringt. Bei schweren Fällen kommt das Symptom weit weniger häufig vor (nur bei 10-15%). Die Überlebenden von schweren Verläufen, die ich persönlich kenne, hatten alle keinen Geruchsverlust.
Bei meinem Oktober-Eintrag war ich noch nicht sicher. Inzwischen weiß ich es. Es war gar nicht so schwer, den Antikörpertest machen zu lassen, und die junge Labordame hat meine Vene zu meiner Erleichterung auch gleich gefunden. (Meine Blutabnahme-Erfahrungen sind leider ziemlich schrecklich.) Das Ergebnis lag bereits am nächsten Morgen vor. Ich war einigermaßen fassungslos und musste mehrfach hinsehen. Zuerst empfand ich tiefe Erleichterung, doch schon bald nagten erste Zweifel. „Was, wenn der Test jetzt falschpositiv ist?“ fragte meine Angst. „Bei gleich drei Arten von Antikörpern? Ziemlich unwahrscheinlich.“ „Und wenn ich mich jetzt noch mal anstecke?“ „Also sehr wahrscheinlich ist das im Moment nicht.“ „Aber es gibt doch schon so viele gefährliche Mutationen!“ „Nun beruhige dich erst mal und sei dankbar, dass es dir wieder gut geht!“ „Soll oder kann ich mich denn jetzt überhaupt noch impfen lassen oder wäre das total verkehrt?“ „Das wird sich alles noch klären. Noch sind wir eh nicht dran.“
Wie lange werden die lästigen Rückfälle mit den totalen Erschöpfungsattacken aus heiterem Himmel wohl noch auftreten? Es gibt Tage, an denen fühle ich mich wie nach einer überlangen Flugreise. Jetlag vom Feinsten, ich liege flach, zu müde zum Lesen oder Schreiben, quäle mich durch die Stunden, und die Fingergelenke tun so weh, dass ich sie kaum bewegen kann. Aber am nächsten Tag ist alles gut, als wäre nichts gewesen.
Bei vielen Menschen kann es noch Wochen und Monate nach der Infektion zu Fehlwahrnehmungen und Anosmie kommen, zu plötzlichem Haarausfall, extremen Erschöpfungszuständen, Konzentrationsproblemen, Nebel im Kopf und starken Gelenkbeschwerden, wie ich aus den großen Selbsthilfeforen weiß. Ein ständiges Auf und Ab. Haarausfall? Corona-Fatigue? „Kann, aber muss nicht“, beruhige ich die Angst. Das Lesen der vielen schlimmen Erfahrungsberichte tut uns nicht gut. Die Angst befürchtet immer gleich das Schlimmste, und ich verspreche ihr, nicht mehr jeden Tag dort vorbeizuschauen. „Hab doch bitte noch ein bisschen Geduld“, rate ich ihr. „Vielleicht haben wir ja Glück.“
Nachts machen wir deutlich mehr Fortschritte, im Traum trage ich jetzt keinen Mund-Nasen-Schutz mehr und kann andere auch wieder liebevoll umarmen. In meinen Träumen fühle ich mich schon sehr viel sicherer, im realen Leben hat sich außer einer gewissen Erleichterung beim Bahnfahren und Menschentreffen nur wenig geändert, die AHA+L Regeln werden weiter eingehalten, Kontakte weiter gemieden, die Masken nach jedem Ausflug sorgsam gewaschen. Ich werde die Sicherheitsvorkehrungen so lange befolgen, bis die Pandemie eingedämmt ist. Außerdem bin ich ja nicht allein. Was für ein Segen, dass ich einen lieben Knuffel-Kontakt und eine liebe Katze habe!
Seit dem 16. Dezember befinden wir uns im zweiten harten Lockdown, leider auch an Weihnachten, doch die Stimmung scheint trotz allem besser als beim ersten Mal. Wir wissen inzwischen viel mehr über das Virus, es gibt bereits zwei offenbar hochwirksame Impfstoffe, und heute (in einigen Orten auch schon gestern) beginnt man in der EU mit dem Impfen. In den USA und GB wird schon seit einigen Tagen geimpft. Der Twittertroll im Weißen Haus wird die Weltbühne bald verlassen, auch wenn man ihn wohl mit Gewalt wegschleppen muss, und der britische Mini-Trump hat an Heiligabend endlich den blöden Brexit durchgezogen. Es geht weiter. Mal sehen, was jetzt passiert.
Die aggressive neue Corona-Mutation, die vor allem in „meinem“ Teil Englands auftritt, macht mir Sorge, und die armen 30 000 Trucker, die tagelang auf den Straßen Kents festsaßen, nichts zu essen und zu trinken hatten, von Toiletten und Waschgelegenheiten ganz zu schweigen, und tausendmal lieber zu Hause mit ihren Familien Weihnachten gefeiert hätten, sind mir auch nicht aus dem Kopf gegangen. Doch die Staus sind jetzt aufgelöst, die Grenzen zu Frankreich wieder offen. Jetzt machen andere Länder dicht, um sich den winzigen mutierten Feind vom Leib zu halten, aber er wird seinen Weg schon finden. Leider. Im Fernsehen schaue ich mir die Jahresrückblicke an, bin bisweilen den Tränen nahe und hoffe aus tiefster Seele auf ein besseres, menschenfreundlicheres Jahr. Time for a change. High time!
Hier im Einkaufscenter hat man sich für den vorweihnachtlichen Lockdown einiges einfallen lassen, um bei den Kunden das Gefühl der Trostlosigkeit zu verhindern. Vor Weihnachten duftete es beim Hereinkommen nach frischem Brot und Teeladen, wie ich dank meines Sinneswandels erfreut feststellte, die meisten Läden waren zwar geschlossen, jedoch weiterhin beleuchtet, prächtige Weihnachtsbäume schmückten die Gänge, und von irgendwoher ertönte leise festliche Musik. Schade, dass ich bei jedem Ausflug nach draußen so in kalten Schweiß gebadet bin, dass ich mich anschließend umziehen muss. Klaustrophobie unter der Maske? Virus-Nachwehen? An die Masken haben wir uns doch längst gewöhnt? Die Angst weiß es auch nicht und schweigt lieber.
Die Menschen bewegten sich ruhig und besonnen, es gab weder Schlangen vor den Klopapierregalen noch Staus an den Kassen, nicht mal an Heiligabend. Vielleicht haben diesmal tatsächlich viele ganz allein „gefeiert“? Die meisten meiner älteren Verwandten, mit einigen habe ich in diesem Jahr viel mehr telefoniert als in sämtlichen Jahren davor zusammen, haben ihren Weihnachtsbesuchern abgesagt. Einige Geschäfte ermöglichten es den Kunden, bestellte Waren abzuholen, auch davon machten viele Gebrauch. Es waren mehr kleine Läden offen als beim ersten Lockdown, auch der Gewürzladen, den ich kurz vor den Festtagen mehrfach aufgesucht habe, weil ich plötzlich unbändige Lust auf geröstete Koriandersaat, zerdrückte Wacholderbeeren, Zimtstangen, Kürbisgewürzmischung, Arabisches Kaffeegewürz und Garam Marsala hatte. Und auf Szechuan Pfeffer, der frisch einfach unwiderstehlich duftet. Ein olfaktorisches Feuerwerk. Dass ich das vorher nie bemerkt habe!
Morgens und abends mache ich seit einigen Wochen „Riechtraining“, Physiotherapie für die Nase, habe im Internet Sets mit verschiedenen Düften erstanden, die auch von HNO-Ärzten empfohlen werden. Vier Duftrichtungen sind abgedeckt und können trainiert werden: blumig, würzig, fruchtig und harzartig.
So schnuppere ich an Thymian, Eukalyptus, Rose, Jasmin, Zitrone, Mandarine, Minze und Gewürznelke. Leider hat meine Nase immer noch viele blinde Flecken, so konnte ich unseren Adventskranz nicht riechen und leider im Moment auch nicht den hübschen kleinen Weihnachtsbaum. Schade. Ich liebe Waldgeruch! Vielleicht sollte ich mir noch ein paar ätherische Öle (Zeder, Fichte, Kiefer) zulegen? Auch bei den Duschgels ist nach wie vor kaum was los. Mir fehlen offenbar noch etliche holzige, dunkle Aromen. Aber meine Sinne sind auf einem guten Weg.