Bevor er sich am 20. März endgültig verabschiedet, auch wenn uns natürlich die berüchtigten Eisheiligen (Mamertus, Pankratius, Servatius, Bonifatius und die kalte Sophie im Mai, „Vor Nachtfrost du nie sicher bist, bis Sophie vorüber ist!“) noch bevorstehen, möchte ich den Winter noch einmal richtig würdigen Jetzt, wo ich nach so vielen Wochen ohne meine feine Nase meine fünf Sinne wieder einigermaßen beieinander habe, kann ich ihn endlich (fast) wie sonst genießen.
Draußen verausgaben sich schon seit einiger Zeit die ersten duftenden Winterblüher, die pfeffrig-zitronige Zaubernuss mit den schmalen, filigranen schwefelgelben Blütenstreifen, die sie bei Frost einfach nach innen einrollt, und der intensiv nach Maiglöckchen duftende Geißblattstrauch. Seine Blüten sind weiß und klein mit einer puscheligen Mitte und haben es echt in sich. Und hinten im Garten kann man Schneeglöckchen, Krokusse und die gelben Winterlinge bewundern. Gleich vier Amselmännchen zanken sich derzeit um unseren Garten, dabei ist Platz genug für mindestens zwei Paare. Aber davon wollen sie nichts hören. Das Weibchen sitzt entspannt im Apfelbaum und beobachtet den ganzen Stress. Ihr ist offenbar egal, wer gewinnt.
Den Duft von Nadelbäumen kann ich inzwischen zu meiner Freude auch wieder wahrnehmen. Ich fand es traurig, im Dezember im „sterilen“ Weihnachtszimmer zu sitzen ohne den vertrauten Adventskranz-, Tannen- und Kerzengeruch. Erst kurz vor dem Abschmücken (am Dreikönigstag) kehrte die „Weihnachtsbaum-Melange“ zurück, gerade noch rechtzeitig, und ich war so glücklich, dass ich hätte weinen mögen. Am selben Tag roch ich auch zum ersten Mal nach langer Zeit wieder deutlich das Katzenfutter von Alice. Ich hatte es ausnahmsweise neben den Weihnachtsbaum gestellt, weil ich es ja eh nicht riechen konnte. Plötzlich waren beide Gerüche wieder da. Eine höchst merkwürdige Mischung. Der Baum roch nach trockenen Nordmann-Nadeln, das Futter genauso unappetitlich wie immer (ein bisschen wie der Abfluss in der Küchenspüle), aber Alice und ich waren glücklich, wenn auch aus völlig unterschiedlichen Gründen.
Bisher bin ich von den schrecklichen Parosmien, unter denen so viele von uns nach einem „milden Verlauf“ monatelang leiden, noch verschont geblieben und hoffe inständig, dass es so bleibt. Nur manchmal schleicht sich ein feiner, stechender Gas- oder auch ein weit entfernter leichter Rauchgeruch ein, aber bei beiden weiß ich, dass es Phantosmien sind, Geruchshalluzinationen. Manches riecht auch noch „falsch“ oder merkwürdig, etwa die lila Hyazinthe, die eine Weile im Flur stand. Normalerweise duftet sie am Anfang geradezu betäubend (zum Schluß stinkt sie so, dass ich sie nach draußen verbanne), aber diesmal roch sie die ganze Zeit gleich. Sehr unangenehm. Nach Gas. Auch die Winterblüher duften nicht „normal“, schwächer als sonst, ich muss ganz nah herangehen, um sie überhaupt zu bemerken. Aber die Tage roch ich an der Bahnhaltestelle eine Zigarette, die mindestens zehn Meter entfernt war. Zuerst hatte ich sie nicht gesehen und seufzte innerlich. War das eine Phantosmie? Dann hob die Dame die Hand, und ich sah die Zigarette. Das macht mir Hoffnung. Beim endlich wieder erlaubten Friseurbesuch identifizierte ich sogar das Parfum der Dame, die vor mir auf dem Stuhl gesessen hatte. Selten hat mich der Satz: „Sie haben aber eine empfindliche Nase!“ so gefreut.
Mein tägliches „Riechtraining“ habe ich inzwischen um etliche weitere braune Fläschchen mit ätherischen Ölen erweitert und dabei als unerwartetes Geschenk den Wohlgeruch der Zirbelkiefer neu entdeckt. Schon beim ersten Atemzug stiegen ferne Erinnerungen an Südtirol auf, an die besonderen „Stuben“ (waren die Möbel dort aus Zirbelholz?) und auch an Überbachers große Schnitzwerkstatt und den kleineren Raum, in dem der Herrgottschnitzer saß. Ich finde den Zirbenduft so angenehm, dass ich mich am liebsten vorübergehend in einen Flaschengeist verwandeln und darin baden würde.
Beim Einschlafen stelle ich mir jetzt manchmal vor, ich läge in einem Zirbelkieferwald im Gebirge. In der Ferne sehe ich hohe, schroffe Dolomitenfelsen. Offenbar geht es anderen ähnlich. Zirbenduft wirkt anscheinend entspannend und hilft beim Einschlafen. Es gibt sogar besondere Schlafkissen, die mit frischen Zirbenspänen gefüllt sind. Eins habe ich mir jetzt bestellt. Aus Tirol. Ich kann im Moment einfach nicht genug bekommen von diesem Holzgeruch. Sehr ernüchternd dagegen ist das Fläschchen mit „Lindenblütenduft“. Es stinkt nach altem, staubigem, trockenem Stroh. Dabei hatte ich solche Sehnsucht nach den sommerlichen honigsüßen Lindenblüten. Hoffentlich stinken die großen alten Bäume an der Kirche im Sommer nicht auch nach Stroh.
Mein Fläschchen mit Fichtennadelextrakt dagegen versetzt mich gleich in weit entfernte samstägliche Zeiten. So rochen die krümeligen grünen Badetabletten bei uns zu Hause. Der Zedernduft in der dritten „Waldflasche“ war zunächst ausgesprochen unangenehm und erinnerte mich nur an eklige Mottenkugeln, doch inzwischen hat sich das gelegt und die Holznote ist deutlich erkennbar. Motten scheinen Zedern auch nicht zu mögen, denn in den USA hängt man nicht von ungefähr Zedernholz als Mottenschreck in die Kleiderschränke. Bei uns waren es früher Lavendelsäckchen. Ob das heute noch jemand macht? Ich habe auch eine kleine Flasche mit Lavendelduft. Der erinnert mich an meine Tanten und ihr „Uralt-Lavendel“. Gab es damals nicht auch „Tosca“? (Der Duft für die gepflegte Frau ab 50!) Ich mochte den Geruch nicht. Die Flakons verschenkte man, wenn einem sonst nichts einfiel für die weibliche Verwandtschaft, hab ich auch schon ewig nicht mehr gerochen! Ob es „Tosca“ noch gibt? Es war schon damals ein „klassischer Duft“, vielleicht aus den 1920er Jahren?
Hier in Köln waren die letzten Monate mild, wieder so ein warmer Winter, wie wir sie seit einiger Zeit gewöhnt sind. Ich habe unsere Kübelpflanzen im Garten diesmal gar nicht erst eingepackt und abgedeckt, nur die besonders empfindlichen in die Garage geräumt. Temperaturmäßig gab es nur äußerst wenige eisige Ausreißer, alle erst in diesem Jahr. Wir haben erst zweimal das Wasser nach draußen abgestellt. Das letzte Mal vorige Woche, da war es nachts einmal -6 Grad.
Wie in den letzten Jahren habe ich mir bei meiner Freundin Simone Garland einige ihrer schönen Schneefotos ausgeliehen, denn bei ihr in Kanada kann man die weiße Pracht noch so richtig bewundern. Die Bilder passen perfekt zu meiner ewigen Schnee-Sehnsucht und den Wintererinnerungen aus meiner Kindheit. Wenn ich die weiße Weite betrachte, kann ich all die engen Lockdown-Gefühle ablegen, mich in meinen imaginären dicken Wintermantel kuscheln, die weichen Fäustlinge zurechtzupfen, tief Luft holen, durch den tiefen Schnee stapfen und mir genüßlich die kalten Flocken auf der Zunge zergehen lassen. Jede sieht anders aus, und alle sind sie wunderschöne kleine Kunstwerke. Flockdown statt Lockdown.
Simone hat mir berichtet, dass der jetzige Winter auch in Kanada etwas wärmer und schneeärmer ist als sonst und dass man die Covered Bridges (wie die auf dem nächsten Foto) auch Kissing Bridges nennt (weil sich Verliebte dort so gut heimlich küssen können). In Ontario gibt es nur noch drei dieser Brücken, die abgebildete befindet sich bei West Montrose in der Nähe von St. Jacob’s. Sie ist mit dergleichen Farbe gestrichen wie die Scheune. Barn Red. Scheunenrot. Ich habe mir vor Jahren mal ein kleines Tütchen „Old Fashioned American Milk Paint“ mit Pulver in Barn Red zugelegt, es reicht bestimmt für ein großes Maushaus. Ich muss nur noch den kleinen Karton mit den Milk Paint-Tütchen finden.
Wie gern würde ich (natürlich am liebsten mit meinem Knuffelkontakt) mal selbst über so eine überdachte lange Brücke gehen! Sie erinnert mich sofort an den Film mit Clint Eastwood und Meryl Streep „Die Brücken am Fluß“ („The Bridges of Madison County“). Die Szene, in der er traurig im Regen auf der Straße steht und Abschied nimmt, werde ich nie vergessen.
Schnee gab es hier bei uns nur ein paar Tage lang. Wie „märchenhaft“ sieht es dagegen auf Simones Winterbildern aus. Sogar die Wasserfälle verwandeln sich in gefrorene Wunderwerke der Natur. Mir fällt wieder einmal auf, wie schön Rot und Orange mit Weiß harmonieren. Das Weiß bringt sie richtig zum Leuchten. In der kalten Jahreszeit gehören sie eindeutig zu meinen Lieblingsfarben. Wie lange habe ich schon nicht mehr das beruhigende Tropfen von langen Eiszapfen gehört? Das muss mehrere Jahrzehnte her sein. Ach, ich liebe Simones schneebeladene stille Winterfotos. Die erstarrten Wasserfälle. Die spitzen Eiszapfen. Die einsame Scheune. Und den Duft von Zirbelkiefern!