Am 7. September 2021 starb meine Tante Edith Janders, geborene Felten, die jüngste Cousine meines Vaters, mit 93 Jahren in einem Kölner Seniorenheim. Vorher hatte sie mit Lungenentzündung im Krankenhaus gelegen. Als sie sich nach Meinung der Ärzte auf dem Wege der Besserung befand, kehrte sie ins Heim zurück, wo sie wenige Tage später starb. Allein. „Friedlich eingeschlafen. Tiefenentspannt.“ Zum Schluss habe sie ohnehin nur noch geschlafen. Vielleicht stimmt es ja. Beim Besuch eines guten Freundes, der sie in den letzten Wochen aufsuchte, schlief sie tatsächlich so fest, dass er sie nicht zu wecken vermochte.
Das Heim sah keine Veranlassung, die wenigen Personen auf Ediths Kontaktliste, die dort seit Jahren hinterlegt ist, über ihren Krankenhausaufenthalt und ihren Tod zu informieren. Auch Ediths gesetzlicher Betreuer und ihr Nachlassverwalter hielten dies nicht für notwendig. Eine Todesanzeige gab es nicht. Wenn der Zufall uns nicht geholfen hätte, wäre Edith einfach verschwunden und die Urne mit ihrer Asche ohne Trauergäste von einem Fremden bestattet worden. Das dröhnende Schweigen war nicht neu. Als vor einigen Jahren jemand Ediths Bankkarte und Pin entwendete und ihre Konten leer räumte, erfuhren wir davon auch nur zufällig. Wir waren nicht auskunftsberechtigt. Daran hatte Edith nicht gedacht. Sie selbst ahnte von alledem nichts. Wahrscheinlich bemerkte sie auch den mehrfachen Betreuerwechsel nicht mehr.
Dabei hatte sie alles so gut geplant. Damit, dass sie eines Tages ihre Geschäftstüchtigkeit verlieren würde, hat sie nie gerechnet. Da sie keinem zur Last fallen wollte, hatte sie einen Bekannten gebeten, ihr Nachlassverwalter zu sein. Auch um die eigene Beerdigung hatte sie sich beizeiten gekümmert, sogar den Stein, in den später ihr Name eingraviert werden sollte, bereits ausgesucht. Leider ist der schlichte Stein mit dem segelartigen Gebilde nicht mehr auffindbar. Er war eine Kernbohrung aus dem Gemäuer des Kölner Doms, eins von vielen ungewöhnlichen Kunstwerken, die man überall in ihrer Wohnung finden konnte. Möglicherweise wurde er bei der Wohnungsauflösung oder beim „Entrümpeln“ des Heimzimmers entsorgt oder ruht jetzt mit den Gegenständen, die man im Heim für noch rettenswert hielt, in einem Kellerkarton.
Auf den Fotos, die dem Bestatter vorliegen, und in meinem Computer gibt es ihn noch. Er war vielleicht nicht gleich als Kunstwerk erkennbar, doch für seine Besitzerin war er sehr wertvoll, er verkörperte ein Stück Heimat, war ein Stück Kölner Dom und barg schöne Erinnerungen an eine Ausstellung und einen besonderen Künstler. Edith hat sich immer ausgiebig mit den Künstlern unterhalten, deren Werke sie bei sich aufnahm. Jeder Gegenstand in ihrem Besitz hatte seine Geschichte, oft gar sein eigenes Schicksal. Ediths Vertraute wussten von diesem Stein. Schade, dass keiner sie gefragt hat. Schade, dass Fremde entschieden haben, welche Gegenstände aufbewahrungswert waren und welche nicht.
Als ich von Ediths Tod erfuhr und im Heim anrief, war es bereits zu spät. Es war schon fast eine Woche vergangen, die Zeit drängte, der Raum musste renoviert und weitervermietet werden. Die Warteliste sei lang (trotz zweitausend Euro Eigenbeteiligung im Monat und tristem Straßenblick). Die stets positive Edith konnte selbst der trostlosen Aussicht noch etwas Positives abgewinnen: „Ich sehe Bäume. Menschen, die vorbeigehen. Besucher. In der Ferne die Fabrik, die ich gut kenne.“ Zu ihrer Freude lag das Haus im südlichen Teil Kölns, wo sie ihr ganzes Leben verbracht hatte. Nur bestattet wurde sie auf eigenen Wunsch nicht in ihrer Heimatstadt.
Obwohl wir verwandt waren und beide in Köln lebten, habe ich Edith erst während der letzten zwanzig Jahre näher kennengelernt, so dass mir die wichtigsten und längsten Kapitel ihres Lebens nicht vertraut sind. Ich kenne sie eigentlich nur als schwerhörige, gehbehinderte, weißhaarige alte Dame. Ein wenig auch als kleines Kind. Über ihre Kindheit hat sie mir einiges erzählt, und auch mein Vater hat in seinen Aufzeichnungen über seine jüngste Cousine, das zierliche „Edithchen“, berichtet. Auch dass sie lange im bekannten Kölner Pelzhaus „Herbst“ gearbeitet hat, hat sie manchmal erwähnt, ich glaube, in der Verwaltung.
Geboren wurde sie am 11. Juli 1928 in Köln als zweites Kind von Albert und Grete Felten. Ihr Vater hatte zunächst eine eigene Firma, in der, wenn ich mich recht erinnere, irgendetwas Eternitartiges hergestellt wurde, das die Anfangsbuchstaben seines Namens trug und Alfenit oder so ähnlich hieß. Später hatte er, soweit ich weiß, ein Geschäft. Ediths Bruder Herbert, genannt Hawa, war vier Jahre älter als sie. Viele Familienmitglieder (mein Großvater hatte neun Geschwister) lebten damals in Köln. Edith hat die meisten gekannt, vor allem Onkel Jean, der in der Kölner Freiluga tätig war, einem bekannten schulbiologischen Zentrum, das schon damals Generationen von Stadtkindern die Natur näher brachte.
Ediths frühe Kindheit war glücklich und unbeschwert, als Nesthäkchen wurde sie verwöhnt und liebevoll umsorgt, doch dann kam der Krieg. Gleich zweimal wurden die Häuser, in denen die Familie lebte, ausgebombt. Edith erinnerte sich an schrilles Sirenengeheul, hastiges Packen und endlose bange Nächte in diversen Luftschutzkellern, auch an ein Nachbarskind, das eines Morgens tot vor dem Schutzbunker lag, die Puppe noch im Arm, als sie mit ihren Eltern nach draußen kam. Die wenigen Gegenstände und Fotos, die bei den Bombenangriffen nicht zerstört wurden, mussten mühsam auf der Straße aufgesammelt und gesäubert werden. Ihre Kinder- und Familienfotos waren daher besonders kostbar für sie und blieben immer in ihrer Nähe. Ich hoffe, dass sie nicht auch entsorgt wurden. Einige wenige habe ich vor Jahren von ihren Originalen abfotografiert, als Überraschung für meinen Vater, der damals über seine Kindheit schrieb.
Herbert Felten starb im August 1943 mit nur 19 Jahren an der Ostfront und wurde von seinen Eltern so intensiv und untröstlich betrauert, dass nach seinem Tod jahrelang keine Feste mehr gefeiert wurden. Weder Geburtstage noch Weihnachten, was der kleinen Edith sehr zusetzte. Edith hat mir erzählt, wie ihr verzweifelter Vater sich gemeinsam mit ihr auf den Weg machte und versuchte herauszufinden, wie genau Herbert gestorben war, ob er hatte leiden müssen, und dass er nächtelang Briefe an den toten Sohn schrieb und immer wieder dessen Kleidung trug, um ihm möglichst nahe zu sein. Nicht selten saßen die drei Überlebenden im Wohnzimmer beieinander und weinten „im Chorus“, wie Onkel Albert sich ausdrückte. Ich fand einen erschütternden Brief, den er ein halbes Jahr nach Herberts Tod an den gefallenen Sohn geschrieben hat, zwischen den Papieren meines Vaters. Edith hatte ihn kopieren lassen. Mit meinem Vater, der selbst kriegstraumatisiert war und zeitlebens dem Krieg nicht entfliehen konnte, verband sie eine besondere Freundschaft. Mit ihm konnte sie auch im hohen Alter noch über ihren Bruder reden und wurde verstanden. Auch mir erzählte sie oft von ihm. „Der Herbert war so ein sensibler Junge. Vielleicht war es besser für ihn, dass er nicht zurückgekommen ist. Der Krieg hätte ihn bestimmt innerlich zerstört. So wie deinen Vater.“ Herberts Grab befindet sich heute in Sologubowska in Russland. Nach Herberts Tod war nichts mehr wie vorher. Um ihre Eltern hat Edith sich bis zu deren Tod (1974 und 1987) liebevoll gekümmert.
Ich weiß zwar, dass Edith lange verheiratet war, doch ihren Mann habe ich in all den Jahren nur einmal gesehen, es muss Mitte der 1970er Jahre gewesen sein, als ich das Ehepaar zum ersten und einzigen Mal in der Südstadt besuchte. Ich vermute, dass er an Ediths Familie nicht sonderlich interessiert war, denn er begleitete sie nie an den Niederrhein. Lutz und Edith wohnten in einem Haus in der Jakobstraße, in dem sich auch der Karrosseriebaubetrieb Janders befand. Lutz wirkte auf mich wie das genaue Gegenteil von Edith, groß, kräftig, jovial, aufbrausend, temperamentvoll.
Gemeinsam besaßen die beiden ein großes Haus an der Costa Brava, und Edith, die fließend Spanisch sprach, fand in Katalonien dreißig Jahre lang ihre geliebte zweite Heimat. Zunächst wohnten die beiden in Ampuriabrava, dann bezogen sie ein neues Haus in Rosas. Mit mir hat sie über diese Zeit kaum gesprochen, wohl weil ich Spanien nicht kenne. Heute tut es mir leid, dass ich sie nicht mehr gefragt habe. Ich erinnere mich aber sehr gut daran, wie deprimiert sie war, als das schöne Haus nach der Scheidung endgültig verkauft werden musste. Einen herrlichen Blick auf den Hafen habe man von dort aus gehabt, überall Terrassen und wunderbare Aussichten, links die Burg, rechts das Gebirge, hell und lichtdurchflutet seien die Räume gewesen, klar die Luft, morgens habe man die Fischerboote hinaus aufs offene Meer tuckern hören. Hell und lichtdurchflutet war auch Ediths Wohnung in Rodenkirchen, sie bestand zum größten Teil aus Fenstern.
Viele Freunde und Verwandte hat Edith nach Spanien eingeladen, ich habe Fotos gesehen und mir von der begeisterten Fremdenführerin erzählen lassen, die ihre Gäste großzügig bewirtete und mit dem Auto zu allen möglichen Sehenswürdigkeiten fuhr, zu Kirchen und Burgen, einsamen Buchten, eindrucksvollen Sandstränden und zu den Wirkstätten von Salvatore Dali. Besonders schön seien das gemeinsamen Kochen und die gemeinsamen Mahlzeiten gewesen, die ausgelassenen Feste und das gemeinsame Sonnenbaden und Schwimmen im Meer.
Auf den Bildern sieht sie jung und glücklich aus. Edith liebte die Sonne und war in südlichen Gefilden als Sommermensch sicher ganz in ihrem Element. Leider habe ich sie so nie erleben können. Kennengelernt habe ich sie aber als Kunstliebhaberin und vielseitig interessierte Leserin, die sich sogar beim Zeitungslesen Notizen machte und ganze Ordner mit Zeitungsausschnitten hatte. Ihr Lieblingsbuch „Schweigeminute“ habe ich auf ihren Rat hin mit meinem Literaturkreis gelesen. Alle waren von dem Buch beeindruckt. Genau wie ich war sie eine leidenschaftliche Fotografin. Sie verschickte zu allen Anlässen schöne selbstgestaltete Karten, meine Eltern haben viele davon aufbewahrt. Ich erkenne ihre Handschrift und auch den Duft, den sie später am liebsten mochte. „Wish“ von Chopard, in einem merkwürdigen Flacon, der an einen Diamanten erinnert und in ihrem Sekretär lag. Damals hielt ich ihn allerdings für einen Briefbeschwerer. In ihrer Rodenkirchener Wohnung hatte Edith unzählige Fotos, die sie in prall gefüllten Alben und Kartons aufbewahrte. Und viele Filme, die sie sich abends oder am Wochenende ansah, mit Kopfhörern, weil sie so schlecht hörte. Überhaupt muss Edith es früher geliebt haben, Gäste einzuladen und zu bewirten, ist sehr gern verreist, war immer bereit zu Spontanausflügen und Unternehmungen, war ganz versessen auf Ausstellungen und Museen und hat wohl auch gern gefeiert, besonders Karneval. Eine Freundin meint, dass sie auch ausgefallene Kostüme entworfen habe. Ich weiß auch, dass Lutz und Edith ausgesprochen sportlich waren und früher beide Hockey spielten.
Irgendwann fing ich an, die vielen schönen Dinge in ihrer Wohnung zu fotografieren. Vielleicht würde sie sich ja über ein Fotobuch freuen? Ich schenkte es ihr 2013 zum Geburtstag. „Ich kann nicht fassen, dass ich hier zwischen so wunderbaren Schätzen lebe. Das ist wirklich meine Wohnung in deinem Buch! So ganz anders, gesehen durch deine Augen! Ich danke dir sehr dafür!“ Das Buch ist genauso verschwunden wie der Stein. Entsorgt oder möglicherweise in einem der Kellerkartons. Für Edith war es nach der Umsiedelung tröstlich, dass sie ihre Schätze noch bei sich hatte. Im Heim habe ich nur ein einziges Foto gemacht, weil mich das Stillleben aus Brille, Stift und trauriger Vase mit getrockneter Blume anrührte. Die Fensterbank schmückte Edith mit Kerzen und bedrucktem Transparentpapier und liebte es, wenn die Sonne damit Licht- und Schattenspiele machte. An den Wänden hingen ihre Fotos, in Wechselausstellungen, allerdings nur notdürftig mit Tesafilm oder kraftlosen Heftzwecken befestigt, die in der harten Wand krumm wurden und nicht lange hielten, so dass die Seite über ihrem Bett voller Löcher war.
Die Idee mit dem Fotografieren kam nicht von ungefähr. Nach dem Tod meiner Eltern habe ich auch mein Elternhaus vor dem Verlust ausgiebig fotografiert. Ich ertrage es nicht, wenn Erinnerungen verschwinden. Die geschmackvolle, farbharmonisch eingerichtete Wohnung meiner Tante mit all ihren Kostbarkeiten, die sie aus Ausstellungen und aus der Natur zusammengetragen hatte, lud in der Tat zum Schauen und Fotografieren ein. Dicke Mohnkapseln waren von Künstlerhand nebeneinander arrangiert, verschiedenfarbige flache Kiesel fein übereinander aufgereiht, Holzstückchen zu fragilen Bauten aufgeschichtet, Buchseiten kunstvoll gefaltet, von ihr selbst gesammelte Steine schmückten flache weiße Schalen, und überall hingen zahlreiche kleine und einige wenige große Bilder, am Fenster schwebte ein luftiges Boot oder vielleicht war es auch ein Vogel aus Treibholz und milchigen Pflanzenteilen. Sogar im Flur und im Bad hingen Bilder, alles lud zum Schauen ein. Die Fähigkeit, wie ein Kind zu staunen und sich zu freuen, hat Edith sich bis ins hohe Alter bewahrt, und ihre Begeisterung war durchaus mitreißend. Ihre Wohnung wirkte aber nicht etwa voll, sondern aufgeräumt und genau durchdacht. Alles befand sich an der richtigen Stelle, alles war genau am richtigen Ort, nichts wurde dem Zufall überlassen.
Edith besaß ein ausgeprägtes Stilgefühl, einen sicheren ästhetischen Blick, und umgab sich grundsätzlich nur mit ganz bestimmten Farben, auch ihre Kleidung spiegelte ihr Farbempfinden wider, so dass sie fast mit ihrer Umgebung verschmolz. Ediths Farben waren Weiß, Beige, Grau, alle Schattierungen von Erdtönen und Braun bis hin zu einem fast schwarzen Dunkelbraun. In ihrer Wohnung spielte sie gern mit Kontrasten. Was Farben betraf, reagierte sie übrigens erstaunlich emotional. Sie hasste Gelb und Rot so sehr, dass sie nichtsahnend mitgebrachte gelbe oder rote Blumen schlichtweg nicht annahm. Die konnten Besucher wieder mitnehmen. Sie ertrug diese Farben einfach nicht in ihrer Nähe. Sie taten ihren Augen weh.
Ich verstehe diese Abneigung, allerdings nur, wenn es meine eigene Kleidung betrifft. Der rote Pullover, in den meine Mutter mich als Kind steckte, versetzte mich geradezu in Panik, und ein gelber, den sie mir gestrickt hatte, machte mich jedesmal so übellaunig und unruhig, wenn ich ihn trug, dass meine Mutter entnervt aufgab. Gelb und Rot waren laute, schrille Farben, die auffielen! Viel zu grell und aggressiv, geradezu giftig! Ich reagiere mit Herzrasen und Beklommenheit, wenn ich diese Farben trage, doch bei anderen und auch bei Blumen stören sie mich kein bisschen. Vielleicht liegt es daran, dass sie in der Natur tatsächlich oft Signal- oder Warncharakter haben? Rot ist die Farbe von Feuer, Glut, Hitze, Krieg, Verwundung, Blut, Aggression und Leidenschaft, und Gelb (meist in Kombination mit Schwarz) kennzeichnet häufig giftige, gefährliche oder radioaktive Stoffe und ist die Farbe des Neids. In der Natur und in meinem Garten liebe ich alle Farben, ganz besonders Gelb und Rot, und auch beim Malen und Basteln bin ich mit meiner Farbpalette erstaunlich experimentierfreudig. Vielleicht wirkten Rot und Gelb auf Edith ähnlich? Übrigens ist meine persönliche Hassfarbe Weiß, weil es mich an Krankenhäuser, Kinderheime, Schmerzen und Tod erinnert. Weiße Bettwäsche und weiße Wände sind für mich unerträglich. Beige und Orange mag ich an mir auch nicht besonders. Meine Lieblinge sind alle Blau- und Lilatöne. Und bei Kleidung auch Braun und Schwarz.
Bei Ediths Beerdigung haben wir (natürlich!) darauf geachtet, dass die Rosenblüten, die ihr ins Grab folgten, auf gar keinen Fall gelb oder rot waren, sondern ganz hell. Das habe ich auch dem Bestatter mitgeteilt. Die Blüten in Ediths Grab waren cremeweiß, nur einige wenige hatten zartrosa Ränder. Es war wirklich nur ein Hauch. Ich hoffe, es hat sie nicht gestört.
Onkel Albert, Ediths Vater, besaß wie viele Feltens eine ausgesprochen künstlerische Begabung und eine tiefe Naturverbundenheit. Edith hatte noch einige Originale ihres Vaters und malte selbst auch manchmal, die drei kleinen Vögel auf Porzellan rettete sie sogar bis in ihr letztes Zimmer. Wie ihr Vater und seine Brüder hatte sie einen grünen Daumen und liebte ihren großen Dachgarten über alles. Dort beobachtete sie die Vögel, hing Nisthilfen auf, eine Kugel für den Zaunkönig, pflegte und hegte ihre riesigen, üppigen Pflanzen. Sie ließ sich eigens einen Wasseranschluss nach draußen legen und genoss den Blick über die Dächer von Köln. Nie habe ich eine schönere Passionsblume gesehen als auf Ediths Dachterrasse, ein wahres Blütenmeer. Zwischen den Kübeln standen Vogelstatuen. Den schlanken Kranich hat sie dem Heim geschenkt, wo er jetzt verloren am Haus steht, doch auch dafür war sie dankbar und besuchte ihn oft. „Da ist er! Mein Kranich! Ein Freund!“ Sie schaute voll Freude auf den Heimgarten und kannte dort jeden Baum, jeden Strauch. „Ist das nicht herrlich hier?“ freute sie sich. Auch ihr metallener Fisch steht jetzt dort, wasserfern, inmitten von Kieseln. Mich hat die Gartenanlage immer nur deprimiert, für Edith war sie ein Lichtblick.
Sehen konnte sie selbst im hohen Alter noch erstaunlich gut. Familienmitglieder erkannte sie bis zum Schluss, vor allem wenn ich ihr alte Fotos zeigte, auf denen längst Verblichene noch jung und frisch aussehen und den Betrachter strahlend anlächeln. „Der Günter! Der Kurt! Die Margot! Tante Auguste! Vati! Dein Opa!“ In diesen Momenten wirkte sie überrascht und bewegt. Sie konnte sich einfach nicht erklären, wieso die Gesichter jetzt alle in meinem Handy waren. „Wie machst du das? Was man heute alles kann! Die Technik!“ Manchmal sagte sie auch Sätze, die mich traurig machten. „Dann gibt es mich also noch!“ „Dann bin ich also nicht vergessen!“ „Ich danke dir, dass du mir meine Familie zurückgibst!“ An den Wänden und auf dem Tisch fanden sich auch im Heimzimmer noch viele Fotos von Personen, die ihr einst lieb gewesen waren. „Freunde. Von früher. Spanien. Ich hatte so viele Freunde.“ Sie nannte etliche Namen, doch für mich waren es Fremde.
Bei unserem letzten Besuch im Heim, es war um die Weihnachtszeit, wirkte Edith in sich gekehrt und weit fort. Als sie mich erkannte, sagte sie zu meinem großen Schrecken wörtlich denselben Satz, den auch mein Vater auf der Demenzstation zu mir sagte: „Wie hast du mich hier bloß gefunden?“ Als befände sie sich bereits in einer Anderswelt, weit weg, durch tiefe Abgründe vom Leben getrennt. Sie war an diesem Tag schwer zu erreichen, sprach nicht, starrte ins Leere, aß mechanisch die Plätzchen, die wir mitgebracht hatten, sank immer wieder tief in sich selbst zurück und konnte sich nur mit großer Kraft konzentrieren. Schließlich deutete sie auf das Foto, auf dem sie mit Herbert zu sehen war. „Das sind meine Kinder“ murmelte sie. Sie merkte wohl, dass ich erschrocken war und sah mich ratlos an. „Entschuldige. Verwirrt. Mein Kopf.“ Sie kam nicht mehr wie sonst mit zum Aufzug, sondern blieb still und verloren an ihrem Platz im Speiseraum, sah uns gehen und winkte. Das ist mein letztes Bild von ihr.
Kurze Zeit später brach die Pandemie über unsere Welt herein. Lockdowns und Distanzregeln prägten unser Leben. Ich dachte jeden Tag an Edith, rief auch manchmal im Heim an und erkundigte mich, wie es ihr ging, fragte nach, ob sie schon geimpft sei, aber besucht haben wir sie nicht mehr. Ich wage mir kaum vorzustellen, wie sie sich gefühlt hat, als sie plötzlich nur noch von Masken umgeben war, denn sie konnte ja nichts hören und las meist von den Lippen ab. Beim letzten Besuch klang ihre Stimme rau und fremd, und ich konnte nichts weiter tun als ihren Arm und ihr Gesicht streicheln und ihre kühle Hand halten. „Das tut mir gut!“ sagte sie. „Dann gibt es mich also doch noch.“
Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer. Als mein Mann an Ediths Grab diese Zeilen aus Psalm 139 sprach, dachte ich an ihr glückliches, erfülltes Leben in Spanien, in der wärmenden Sonne, direkt am Rand des Meeres. Jetzt ruht ihre Asche weit weg vom Meer in einem grünen moosigen Wald voller Farne und Steinschalen zwischen den Wurzeln einer jungen Kastanie an einem von ihr selbst gewählten Ort. Er passt zu ihrer Naturnähe. Es war mein erster Besuch in einem Friedwald, und ich war angenehm überrascht. Ich erinnere mich noch, wie sie uns vor einigen Jahren von den Gärten der Erinnerung und Pfaden der Sinne erzählte. Sie hatte in der Zeitung darüber gelesen und das schöne Foto ausgeschnitten, tröstliche Laternenlichter unter herbstlichen Bäumen. „Ein schwerer Gang für mich! Aber so nette Menschen. Verständnisvoll. Freundlich. Sie haben mir sehr geholfen.“ Sie sprach oft ein wenig bruchstückhaft. Und ziemlich laut, weil sie sich selbst nicht hören konnte. Es muss kurz vor der unerwarteten Übersiedlung ins Heim gewesen sein. Vielleicht hat sie gespürt, dass eine tiefgreifende Veränderung bevorstand. Edith hat viel gespürt, auch die Schwingungen anderer Menschen und die Schatten der Zukunft. Genau wie mein Vater.
Gemeinsam mit dem netten Herrn sei sie durch die Anlage gegangen und fand, dass ein Laubbaum gut zu ihr passte. „Laubbäume verändern sich. Sehen immer anders aus. Gefällt mir gut.“ Viel Kraft hatte dieser Schritt sie gekostet. „Aber jetzt ist alles geregelt, jetzt bin ich ruhig.“ Vorher hatte sie nächtelang nicht geschlafen vor Aufregung. Hatte sich verfahren an dem Tag. Sie fuhr gern und viel, war stolz darauf, ein kleines Auto zu haben, so mobil zu sein, allerdings war ihr Fahrstil zumindest in späteren Jahren für nichtsahnende Beifahrer ziemlich gewöhnungsbedürftig. Als sie mich einmal im Wagen von Köln an den Niederrhein mitnahm, war ich heilfroh, als wir endlich wohlbehalten am Ziel waren und saß während der Hin- und Rückfahrt mehr oder weniger auf der Kupplung.
Bei meinem letzten Besuch in der Rodenkirchener Wohnung wohnte Edith bereits im Heim. Die Pflanzen auf der Dachterrasse waren einsam und vertrocknet, die Wohnung war traurig und leer, nur der Sekretär stand noch da, sah im falschen Zimmer noch kleiner und fragiler aus. Wenige Tage vorher hatte sie mich angerufen. „Ich habe nachgedacht. Ich möchte dir meinen Sekretär schenken. Ihr müsst ihn nur noch abholen.“ Lange haben wir nicht den richtigen Platz gefunden, aber jetzt steht er hier im Ahnenzimmer, in seinen Schubladen sind Farben und Stifte und alte Briefe und Fotos. Und ein Flakon „Wish“. Genau in dem Fach, wo er auch bei Edith gelegen hat. Das würde ihr gefallen. Das Entenbild, das ihr Vater gemalt hatte, schenkte sie mir im letzten Jahr in ihrer Rodenkirchener Wohnung. Sie nahm es bei unserem Besuch von der Wohnzimmerwand, wo es so viele Jahre rahmenlos neben dem Schrank gehangen hatte. Sie muss gemerkt haben, wie sehr ich es mochte. „Das sollst du haben. Ich freue mich, dass es dir gefällt.“ Ich weiß sehr wohl, wie wichtig ihr dieses Bild war. Und so schwimmen jetzt fünf Enten bei uns im Flur, in einem Rahmen mit den gedämpften Farben des Entengefieders, dass längst nicht mehr weiß ist, sondern sich in verschiedene Cremetöne verwandelt hat. Ediths Farben.
Edith war das, was man heute als hochsensibel bezeichnet, feinfühlig, feinsinnig, mit einem sicheren Blick für kleine Dinge, an denen andere achtlos vorübergehen. Sie bemerkte winzige Schneckenhäuser, verfallene Turmgemäuer und bizarre Wolkengebilde. Leider gingen ihr schon früh zwei wichtige Sinne verloren. Sie konnte kaum noch riechen, was sie sehr bedauerte, und war so taub, dass jede Kommunikation mit ihr schwierig war. Ich meine mich zu erinnern, dass auch andere Feltens ziemlich schwerhörig waren.
Da sie nicht mehr gut zuhören konnte, wurden Gespräche meist zu Monologen, bei denen sie irgendwann den Faden verlor, weil sie mit Vorliebe von einem Thema zum nächsten mäanderte. Auch hatte sie die Angewohnheit, mitten im Satz abzubrechen, lange Pausen einzulegen, dabei in die Ferne zu starren und dann urplötzlich weiterzureden, was ihre Gesprächspartner stark irritierte. Ich habe mehrfach versucht, sie gezielt zu „interviewen“, so richtig mit vorbereiteten schriftlichen Fragen, um mehr über unsere Familie herauszufinden. Viel erfahren habe ich leider nicht. Ihre Hörgeräte funktionierten meist nicht, was sie selbst allerdings weniger störte als ihre Besucher. Telefonate waren schon vor Jahren so gut wie unmöglich. „Ich verstehe dich nicht!“ war ein Satz, der mich sofort hilflos machte. Genau wie „Bitte schrei nicht so laut!“ und „Sprich bitte lauter!“ Das alles machte mich so unsicher, dass ich vor jedem Anruf einen seelischen Anlauf nehmen musste. Meist sagte ich nur schnell, dass und wann wir kommen wollten, und fragte, ob es ihr gelegen kam. Und Edith antwortete: „Das passt mir gut. Ich freue mich auf euch!“ Oft war ihr letzter Satz, noch an der Tür: „Ich muss mich entschuldigen, dass ich schon wieder so viel geredet habe.“ Besuche bei Tante Edith waren schön und interessant, aber sie konnten auch anstrengend sein.
Viele Gedanken habe ich mir gemacht über sie in den letzten Wochen, habe mit Freunden und Verwandten gesprochen, in alten Alben geblättert und ihre Karten und Briefe gelesen. Nein, ich ertrage es ganz und gar nicht, wenn Menschen und alles, was ihnen lieb und wichtig war, einfach so verschwinden. Ich musste diesen Nachruf schreiben, auch wenn er zu lang geraten ist, aber es war ja auch ein langes, dichtes Leben. Liebe Edith, ich hoffe, meine Erinnerungen gefallen dir. Es gibt dich noch. Du hast in unseren Leben viele Spuren hinterlassen. Du bist nicht vergessen.
Wie traurig, wenn man einen alten Menschen einfach so verschwinden lässt! Und wie schön, dass sie nun durch diesen wunderbaren Nachruf gewürdigt wird!
Danke für deine lieben Worte.
Herzliche Grüße, Bee
So schön und liebevoll geschrieben. Wunderbare Erinnerungen an einen verstorbenen Menschen. Ich selbst konnte mich gut in die Vergangenheit Ihrer Tante einlassen.
Das Kriegsschicksal von Herbert berührte mich sehr. Nur 19 Jahre alt geworden und
dann in fremder Erde begraben. Ich verspürte Traurigkeit und freute mich trotzdem
Empathie für einen Fremden empfinden zu können.
Ich habe Ihr Buch „Hasenherz und Sorgenketten“ gelesen. Einfach wunderbar wie Sie Ihre Ängste und Empfindungen schildern.
Liebe Grüße und vielen Dank dafür, auf Sie aufmerksam geworden zu sein.
Wilhelm Koch
Lieber Herr Koch, vielen Dank für Ihre lieben Zeilen. Herzliche Grüße aus Köln!