Wie rasend schnell und unendlich langsam ist das Jahr vergangen, wie wenige und wie viele unserer Hoffnungen haben sich erfüllt. Winter is coming. Wie in Game of Thrones. Und es wird ein harter Winter werden. Immer noch hat ein Virus die Welt im Griff, auch wenn wir über mehrere hochwirksame Impfstoffe verfügen, mit denen man die Pandemie eindämmen könnte. Könnte! Immer noch lassen sich in Deutschland und vielen anderen Ländern zu wenig Menschen impfen. Dabei war das Dilemma schon seit Monaten vorhersehbar, es gab zahlreiche Mahner und Propheten, die leider alle recht hatten. Vielleicht ist der Wahlkampf schuld daran, dass wichtige Vorsichtsmaßnahmen und Vorkehrungen versäumt wurden. Oder die Sehnsucht nach ein bisschen Normalität. „Der Sommer wird gut!“ Ja, der Sommer war gut. Aber jetzt ist das Jahr in den Brunnen gefallen, und nicht mal eine sofortige Impfpflicht kann uns vor der vierten Tsunami-Welle retten. In dieser Woche wurden die Ampel-Koalitionsverhandlungen abgeschlossen. Endlich. Ich bin gespannt, was als Nächstes passiert. Vor allem, wer der neue Gesundheitsminister wird. Es hat in der letzten Zeit leider zu viele kommunikative Schwächen und unnötige Verwirrungen gegeben. Der wohl fähigste Kandidat hat leider den Nachteil, dass er keine Frau ist. Was für ein Pech.
Im Totenmonat gehe ich sehr oft auf Melaten, einem meiner Seelenorte und sicher eine der schönsten Stellen Kölns. Im Oktober leuchten die Bäume flammend rot und gelb, im traurigen Monat November wirken die Bäume nackt und einsam. Viele Bäume haben Gesichter, und die stummen Statuen sind wie alte Bekannte. Ich setze mich zu ihnen und führe stille Zwiegespräche, besondern mit dem Liebespaar das rechts neben dem Haupteingang wohnt. Da komme ich jede Woche vorbei, wenn ich zum Porzellanmalen gehe. Ich liebe diesen Friedhof. Bei meinen letzten Besuchen habe ich so viele Fotos gemacht, dass ich gleich mehrere Beiträge damit illustrieren könnte.
Bisher sind mir selbst nur wenige Corona-Leugner begegnet, aber was die von sich gaben, macht mich fassungslos. „Die Pandemie gibt es überhaupt nicht! Auf den Intensivstationen sterben zwar Menschen, aber sie sterben nicht an der Krankheit, sondern an der Impfung!“ Aber es gibt die Krankheit! Ich hatte sie! Ich weiß, wie sich Long Covid anfühlt! Und woran sind denn bitte schön 2020 die Menschen auf den Intensivstationen gestorben? „Das redest du dir alles nur ein. Reiner Psychoterror. Gehirnwäsche.“ Und dann diese Variante, aus dem Mund einer älteren Frau. „Ich trage grundsätzlich keine Maske. Ist auch gar nicht nötig. Ziehen Sie die Maske ruhig aus, die Krankheit ist eh nur eine Erfindung der Politiker.“ Und dann die Impfskeptiker und Spritzenphobiker. „Ich lasse mich nicht impfen. Da muss mich die Polizei schon in Handschellen abholen.“ „Ich brauch das nicht. Ich habe ein gesundes Immunsystem, ich kriege diese Krankheit nicht.“ „Der Impfstoff ist doch noch gar nicht richtig erprobt. Den haben die einfach so aus dem Boden gestampft. Ich warte, bis wir einen Totimpfstoff haben.“ oder „Ich bin so vorsichtig, mir passiert schon nichts.“ Ja, vorsichtig war ich auch. Sogar extrem übervorsichtig, und trotzdem hat es mich erwischt. Möglicherweise über die Augen. Ich hatte IMMER eine Maske auf damals. Morgen früh bekomme ich meine dritte Covid-Impfung, den Booster, und werde mich danach hoffentlich wieder etwas sicherer fühlen. Ein wenig Bammel vor der Reaktion meines Körpers habe ich schon. Immerhin ist es schon der vierte Kontakt. Vielleicht zuckt er nur amüsiert die Achseln und murmelt „Schon wieder das blöde Spike-Protein!“ oder er fällt in tagelangen Taubheitschlaf, weil er sich an unsere Long Covid-Anfälle erinnert, die zum Glück seit einigen Monaten vorbei sind. Es gibt ein Körpergedächtnis, und man sollte es nicht unterschätzen. Aber bei der Impfungen gegen Herpes Zoster hat er nicht mal mit der Wimper gezuckt, obwohl die bei vielen Menschen heftige Reaktionen hervorrufen kann. Vielleicht steckt er es ja einfach so weg.
Am 11. November – Martinstag, Reformationstag und hier im heiligen Köln vor allem Karnevalsbeginn – musste ich zu einem Krankenbesuch unaufschiebbar mitten hinein in die Wogen der Feiernden, saß verschreckt in Bahn und Bus, hinter mir grölten junge Jecke „Leev Marie, ich bin kein Mann für eine Nacht, Leev Marie, das habe ich noch nie gemacht! Leev Marie, es muss die wahre Liebe sein! Für eine Nacht bleib ich lieber allein“. Den Karnevalsschlager kannte ich bis dahin nicht und er will mir seither leider nicht mehr aus dem Kopf. Ein lästiger Ohrwurm, aber das anhaltende Echo ist nach einer halben Stunde Dauerbeschallung verständlich. So sind meine sensiblen Ohren nun mal. Laute, eingängige Lieder, die ich nicht mag, klingen tagelang nach.
Ich hatte nicht damit gerechnet, dass man an diesem Nachmittag nicht wie normal vom Neumarkt mit der 9 zur Uniklinik fahren konnte, nur weil die Straßen dort gesperrt und voller Narren waren. Notgedrungen fuhr ich zurück zur Universitätststraße, verlor dabei eine halbe kostbare Stunde und stieg in einen Ersatzbus, der langsam und vorsichtig die menschenvollen Straßen durchpflügte. Entgeistert sah ich die Massen der Feiernden, sehr jung, sehr fröhlich, sehr beneidenswert auf Tuchfühlung und in bester Stimmung. Die Aufgekratzheit kontrastierte stark mit meiner gedrückten prähospitalen Stimmung und meiner Sorge um den armen Patienten. Doch da ich für ihn jederzeit sogar in die Hölle steigen würde, war das schunkelige Karnevalschaos eigentlich nur ein Klacks. Die Pandemiesorge ließ sich allerdings nicht abstellen, denn ich konnte mir nur zu gut vorstellen, dass sich das lustige Treiben als Superspreader-Event entpuppen könnte. Mein übliches Katastrophendenken. Ich machte mich so klein wie möglich, umgeben von waberndem Karneval und wagte auch unter der FFP2 Maske kaum zu atmen. Nur gut, dass ich ein Kaugummi im Mund hatte, um mich abzulenken.
Tatsächlich schlug meine Corona WarnApp einige Tage später so starkroten Alarm, dass ich sicherheitshalber noch am selben Abend zum Testen ins Rheincenter ging, um meine Angst zu beruhigen. Vor lauter Stress hatte sie jetzt sogar Kopfschmerzen, was bei mir eher selten vorkommt. War das etwa schon das erste Covid-Symptom? Aber es war nicht der spitze fremde Schmerz direkt über der Nasenwurzel, der im Oktober 2020 meine Covid-Erkrankung eingeläutet hatte. Ich absolvierte einen mittellangen Irrlauf durch die dunkle Kälte, denn das „Testcenter“ war nicht ausgeschildert. Den Termin hatte ich mir vorsichtshalber digital ergattert, also gab ich nicht auf. Es gab eine Art Plan, und dieses Testding musste hier irgendwo sein. War es dann auch. Versteckt in einer nahezu unsichtbaren, äußerst zugigen, mit Plastikfolie abgehängten Ecke des menschenleeren Parkdecks, einer ziemlichen Albtraumkulisse. „Wir sind dabei umzuziehen“, erklärte der junge Mann entschuldigend, während er mich testete. „Bald sind wir wieder unten in der Apotheke. Die Schilder haben sie offenbar schon abgehängt.“ Zum Glück war der Befund negativ, was sich äußerst positiv anfühlte, und schlagartig waren auch die Kopfschmerzen weg. Die Entwarnung kam nach einer halben Stunde aufs Handy. Sofort bekam ich auch wieder Lust aufs Abendbrot. Während der quälenden Wartezeit hatte ich mich tatsächlich irgendwie krank gefühlt. Infektiös. Kurz vor Hamsterkauf und Selbstisolation. Blöde Corona WarnApp. Blöde Risikokontakte. Sieben an der Zahl. Dabei haben doch nur ganz wenige Menschen diese WarnApp. Wie viele Risikokontakte mochten es wohl in Wirklichkeit gewesen sein? Ich löschte die App noch am selben Abend, aber am nächsten Morgen holte ich sie wieder zurück. Die roten Risikokontakte zeigt sie immer noch an, doch das ist mir jetzt egal.
Die Besuche in der Uniklinik waren anstrengend. Schon im digitalen Vorfeld. Man muss mit dem Handy eine bestimmte Nummer wählen, die einem eine Nachricht mit einem Link zu einem Fragebogen schickt, den muss man ausfüllen, dann bekommt man einen QR-Code zugeschickt, der genau einen Tag gültig ist. Mit ihm geht man ins Bettenhaus (da befand sich der Patient, den ich unbedingt jeden Tag besuchen musste, weil er mir so schrecklich fehlte, dass es schmerzte) und muss dann mit lahmen Knien in einer langen, schneckenlangsamen Schlange stehen (mindestens eine halbe Stunde), bis man endlich Impfzertifikat, Ausweis und QR-Code präsentieren kann. Vor einem stehen meist lauter Menschen, die vom digitalen Anmeldeprozedere keine Ahnung haben und sich alles erst lang und breit erklären lassen müssen. Dann versuchen sie es auf ihren Handys, scheitern kläglich und benötigen Hilfe. Was dauern kann. Schließlich bekommt man ein schmales farbiges Bändchen ums Handgelenk getackert, das man später nur mit der Schere wieder los wird. Jeder Tag hat eine andere Farbe, und dann wird man in den Aufzugsbereich dirigiert, zeigt sein Tagesbändchen vor und wird feierlich und auf Abstand in einen der Aufzüge geleitet. Meistens in den letzten. Nur ein, höchstens zwei Personen pro Aufzug! Klar, im Aufzug steht die Luft, alles voll mit gefährlichen Aerosolen, also nicht atmen und Luft anhalten. 17 Stockwerke lang, aber ich habe einen langen Atem und der Aufzug ist schnell. Wie gut, dass ich keine Aufzugphobie habe!
Eine Stunde Besuchszeit pro Person. Offizielle Besuchszeiten sind 15:00-19:00 Uhr, aber wenn es keiner kontrolliert, darf man länger bleiben. Draußen begibt sich inzwischen die Stadt schon ziemlich früh zur Ruhe, man hat einen spektakulären Blick und sieht, wie sie sich hinlegt und ihre Lichter anzündet. Hoch oben über Köln wird man auch Zeuge, wie der Nebel die Domtürme langsam verschluckt, bis sie unsichtbar werden. Die dicke FFP2 Maske erwies sich zu meiner Erleichterung als überraschend hilfreich, denn durch das Gewebe rochen selbst die Klinikflure weniger nach Krankenhaus.
Nach wie vor hasse ich die FFP2-Masken und bekomme darunter klaustrophobische Anfälle, werde sie aber natürlich trotzdem so lange wie nötig tragen. Meine Welt verlagert sich derweil genüßlich ins Kleine, ich finde Trost in meinen Miniaturen, baue Häuser, backe Mini-Kuchen und, wenn es mir besonders schlecht geht, filze ich Mäuse. Komischerweise werden die Szenen immer am schönsten, wenn ich am traurigsten bin. Fast wie bei Gedichten.
Am Mittwoch haben wir auf dem Wochenmarkt unseren Adventskranz gekauft, schön groß und doppelt gebunden, und im Gegensatz zum vorigen Jahr kann ich den intensiven grünen Duft deutlich wahrnehmen. Es hat lange gedauert, bis meine Nase wieder richtig funktionierte, und ein paar Covid-Folgen machen mir immer noch zu schaffen, doch zum Glück werden sie schwächer. In diesem Jahr war wieder vieles möglich, ich konnte meinen Porzellanmalkurs besuchen, der Literaturkreis fand einige Male statt, vom Schulhof nebenan wehen wieder Kinderstimmen herüber und in Köln sind die Weihnachtsmärkte wieder eröffnet. Auf dem Heinzelmarkt war ich schon und habe mich über die bunten Buden gefreut. Überall werden die 3G-Maßnahmen eingehalten, gleich am ersten Stand wurde das Impfzertifikat kontrolliert und man bekam einen Stempel auf den Handrücken. Alle Besucher trugen medizinische Masken, nur an den Freßständen sah man lächelnde Gesichter, die Stimmung war entspannt und heiter. Ein Hauch von Normalität. Und doch schnellen die Covid-Zahlen jeden Tag in neue ungeahnte Höhen. Wann werden sie die Märkte wohl wieder schließen?
Deutschland hat inzwischen die 400 Inzidenz-Marke überschritten, heute wurden 76.414 Neuinfektionen gemeldet, Köln ist zwar noch nicht so weit, hat aber merkwürdigerweise durch einen Übermittlungsfehler seit zwei Tagen keine Fallzahlen mehr ans RKI gemeldet. Steckt da vielleicht mehr hinter? Will man da irgendwas nicht wahrhaben? War der 11.11. vielleicht doch ein Superspreader-Event? Die Impfquoten in NRW und Köln sind zwar höher als in anderen Bundesländern und Städten, doch das kann sich rasch ändern. In der Tagesschau-App sieht man die Altersverteilung der Infizierten, und es sind vor allem die Altersgruppen der 5-14 Jährigen und der 15-34 Jährigen. Die einstigen Hochrisikogruppen ab 60 und über 80 sind kaum noch betroffen.
Und nun erscheint plötzlich als häßlicher grinsender Springteufel eine neue, hochinfektiöse, bis an die Zähne bewaffnete Variante auf der Weltbühne. Über dreißig Mutationen hat sie im Spikeprotein. Gestern noch in Afrika, heute bereits in Belgien. Momentan heißt sie schlicht B.1.1.529. Aber auch das kann sich rasch ändern. Besser nicht daran denken. Ich könnte jetzt eigentlich gut den Adventskranz schmücken. Oder etwas für die Mäuse machen. In Mausland gibt es weder Masken noch Corona. Ein Lichtblick im End of November Blues.