Das erste Türchen
Bereits seit zehn Jahren gestalten mein Mann und ich in Köln-Weiden am 1. Dezember den Auftakt zum „Ökumenischen Lebendigen Adventskalender“, und das diesjährige kleine Jubiläum wäre genau der richtige Anlass gewesen, ein paar Extraflaschen Glühwein mitzubringen und einige Extrableche Vanillekipferl, Friesenkekse und Heidesand zu backen – alle nach den alten Familienrezepten meiner Omas. Das gemütliche Beisammensein nach dem Vortrag ist für mich immer der schönste Teil des Abends, weil dann alle entspannt miteinander ins Gespräch kommen.
Doch erneut macht uns die Pandemie einen Strich durch die Planung. Wie im letzten Jahr muss unser schöner bunter Bilderauftakt ausfallen, obwohl noch bis vor wenigen Tagen alles möglich schien, allerdings nur mit Impfnachweis, Masken, Abstand und ausgiebigem Lüften. Doch dann explodierten plötzlich wieder die Inzidenzzahlen und die besorgniserregende neue Omikron-Variante erschien drohend am Horizont. Ab jetzt sind in unserer Gemeinde nur noch Veranstaltungen mit 2G+ erlaubt, was bedeutet, dass jeder zusätzlich zu allem anderen auch noch einen gültigen Antigen-Schnelltest vorweisen muss, der nicht älter als 24 Stunden sein darf. Die rasant steigenden Fallzahlen und die Sorge, dass einige Besucher vielleicht nicht rechtzeitig von den notwendigen Tests erfahren würden und wieder nach Hause geschickt werden müssten, sowie die Überlegung, Kontakte nach Möglichkeit zu vermeiden, haben uns aufgeben lassen. Ich hoffe, dass dieser Beitrag ein wenig für den verlorenen Bilderabend entschädigen kann.
Natürlich haben wir uns auch diesmal überlegt, welches Thema unser Vortrag zu Pandemiezeiten haben könnte, und fanden, dass vor allem der tröstliche Aspekt der kleinen Zählhilfen aus Papier gut passt. Adventskalender bringen Licht ins Dunkel, lassen die Welt leuchten, wenn auch nur durch winzige Fensterchen und Türchen. Darüber habe ich ja schon im vorigen Jahr einiges geschrieben. Im diesjährigen digitalen Beitrag würde ich gern mehr über die Anfänge unserer Sammlung und einige besondere Menschen berichten, denen wir auf unseren „Adventsreisen“ begegnet sind.
Wie alles anfing….
Wir werden oft gefragt, ob wir schon Sammler waren, als wir uns kennenlernten, oder ob wir die Welt der Adventskalender erst gemeinsam entdeckt haben. Beides stimmt. Schon als Kinder bewahrten wir beide alte Adventskalender auf und gaben besonderen Lieblingsstücken jedes Jahr wieder einen Ehrenplatz, was man ihnen leider deutlich ansieht. Meine Fritz Baumgarten-Kalender wurden immer wieder mit Reißbrettstiften an die Wand gehängt, die Lieblingskalender meines Mannes mit Tesafilm ans Fenster geklebt, weil sie dort am schönsten leuchteten. Kein Wunder, dass die alten Schätze arg „abgeliebt“ aussehen, was uns allerdings nicht weiter stört.
Unser gemeinsames Sammeln fing damit an, dass ich vor 23 Jahren kurz vor unserer Hochzeit hier im Haus nach Servietten suchte. In einer Schublade in unserem „Goethezimmer“ (weil dort die Sophien-Ausgabe von Goethes Werken aus dem dtv-Verlag steht) fand ich völlig unerwartet alte, ja uralte Adventskalender. Mein Mann hatte nämlich nicht nur die eigenen Kalender aufbewahrt, sondern auch die seiner Mutter und die von seiner Tante Lotte gemalte Version von „Peter und Liesel“, die wir in jeden Vortrag einbauen. Natürlich war ich hocherfreut, denn ich hatte noch nie jemanden getroffen, der antike Adventskalender hortete! „Du hast deine Kalender ja auch alle noch!“ „Na klar!“ sagte mein Mann, als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt. „Ich liebe Adventskalender!“ Was für eine Freude. „Genau wie ich!“ Woraufhin ich ihm dann auch meine Schätze zeigte. Es war der Beginn einer wunderbaren Sammlung.
Peter Nicolaus
Von nun an suchten und forschten wir gemeinsam und lernten bei Ebay auch bald einen netten Experten kennen, der uns geduldig mit Rat und Tat zur Seite stand und den passenden Namen Peter Nicolaus hatte. Er fiel dadurch auf, dass er alle von ihm eingestellten Kalender genau datierte und beschrieb. Auf Peters Wissen und Urteil konnte man sich blind verlassen. Später haben wir ihn auch persönlich kennengelernt, und ich hatte sogar die Ehre, einige Bilder und Texte zu seinem wunderbaren Buch „Adventskalender – Faszination und Sammeln“ beizusteuern, das ich hier auf meiner Seite im Januar 2020 ausführlich besprochen habe. Peter, der auch eine eigene Homepage hat, ist ein echter Sammler, während mein Mann und ich beim Sammeln kein wirkliches System haben.
Elke Pfaff
Den „Kalenderstein“ so richtig ins Rollen brachte die Redakteurin Elke Pfaff, die damals beim Kölner Stadt-Anzeiger arbeitete und vor allem medizinische Artikel schrieb. Sie hatte auch meinen Mann schon mehrfach zu Gesundheitsthemen interviewt und wohnte gleich um die Ecke im Frechener Weg. Elke war eine liebenswerte und überaus freundliche Frau mit einem sonnigen Temperament, einem langen weißen Zopf und zwei höchst eigenwilligen Dackeln. Sie fuhr ein uraltes VW-Cabrio mit schwarzem Klappverdeck und wir trafen sie regelmäßig auf dem Weidener Wochenmarkt, wo ich sie eines Tages, ich glaube, es war 2003, spontan fragte, ob sie Lust hätte, einen Bericht über Adventskalender zu schreiben. Sie war sofort begeistert von der Idee und besuchte uns wenige Tage später mit einem Fotografen des Stadt-Anzeigers. Ich weiß noch, dass sie das Interview mit einem unglaublich dicken Bleistift in riesiger Schrift auf ihrem Block festhielt. Der vorweihnachtliche Artikel bescherte uns etliche nette Leserbriefe und sogar einige schöne Sammlerstücke. Ohne Elkes Bericht hätten wir sicher nie die Möglichkeit gehabt, unsere Kalender 2004 im Kölner Schokoladenmuseum und 2005 in der Stadtbibliothek von St. Augustin auszustellen.
Damals hatten wir noch vier Maine Coons, und Elke wunderte sich sehr, dass sie gegen die riesigen Katzen nicht allergisch war, aber offenbar ist ihr Speichel weniger allergen als der von anderen Katzenrassen. Während sich die anderen drei meistens versteckten, lief der extrovertierte Ben vor Publikum immer zu Hochform auf und war so angetan von der ungewohnten Presse-Aufmerksamkeit, dass er sich mitten auf dem Wohnzimmertisch zwischen den Kalendern in Szene setzte und damit gleich das Herz von Elke Pfaff gewann, die eigentlich vor allem Hunde und Pferde liebte. Ben schaffte es sogar tatsächlich in die Zeitung! Fortan bestellte Elke immer Extragrüße an „meinen Freund Ben“.
Elke Pfaff wurde eine gute Freundin, und ich werde nie vergessen, wie wir gemeinsam mit ihren Dackeln, kaum zu beruhigen waren, und etlichen Lebendfallen die tollkühne Maus zu fangen versuchten, die erst in Elkes Sofa und später unter ihrer Badewanne wohnte. Unsere Fangversuche waren leider nicht von Erfolg gekrönt, wie ich zu meiner Schande gestehen muss. Die Maus verschwand erst, als sie die Rauhaardackel und ihr Frauchen an den Rand eines Nervenzusammenbruchs gebracht hatte. Zu unseren Adventskalender-Vorträgen ist Elke Pfaff bis zu ihrem plötzlichen Tod 2015 immer gern gekommen.
Dorothea Diekelmann
Weit weg von Köln lebte damals eine Frau, die so großes Heimweh nach ihrer Heimat hatte, dass sie täglich den Stadt-Anzeiger las und darin zu ihrer Freude eines Morgens Elke Pfaffs Adventskalenderbeitrag entdeckte. Sie hieß Dorothea Diekelmann, wurde von ihren Freunden Mady genannt und schrieb uns gleich nach der Lektüre einen begeisterten Leserbrief, in dem sie sich erkundigte, ob wir möglicherweise Interesse an ihrem Lieblingskalender „Die Weihnachtsstadt“ hätten. Er hatte für sie eine ganz besondere Bedeutung, denn sie hatte ihn in dem Jahr gekauft, als ihr Sohn geboren wurde, und seitdem wurde er jedes Jahr in ihrem Wohnzimmer aufgehängt. „Ich glaube, bei Ihnen ist er besser aufgehoben“, schrieb sie. Zufällig gehört „Die Weihnachtsstadt“ auch zu den Lieblingskalendern meines Mannes, aber sein Exemplar sieht äußerst „abgeliebt“ aus, während Dorothea Diekelmanns Kalender wie neu ist. Leider ist der Kalender so groß, dass er nicht auf einem normalen Scanner paßt, so dass ich immer noch kein gutes Foto habe.
Einige Jahre später später kehrte die alte Dame zurück nach Köln und verbrachte ihre letzten Jahre hier in der Domresidenz. Mitte November lud ich sie jedes Jahr zum „Lebendigen Ökumenischen Adventskalender“ ein, und sie freute sich immer sehr, am 1. Dezember nach Weiden zu kommen. Zurück nahm sie ein Taxi oder wurde von einem Gemeindeglied nach Hause gefahren. Ihr zu Ehren zeigten wir natürlich auch jedes Mal „ihre“ Weihnachtsstadt. Es ist tatsächlich ein besonderer und eigenwilliger Kalender. Sehr witzig sind die Namen der Läden, die z.B. „Line Pral“, „Peter Leim“, „Peter Struwwel“ und „Anna Nas“ heißen. Es gibt auch eine Vorkriegsversion mit auffallenden Unterschieden, die bereits auf den sich anbahnenden Krieg hinweisen. So werden im Spielzeuggeschäft Soldaten verkauft und der Nikolaus hat sein „Sankt“ verloren.
Vor vier Jahren schrieb mir Frau Diekelmann, dass sie mit fast 90 Jahren äußerst unsicher auf den Beinen sei und sich nicht mehr in der Lage sehe, nach Weiden zu kommen. Ich schickte ihr eine Mail mit der Zusammenfassung unseres Vortrags und einem Foto „ihrer“ Weihnachtsstadt. Auch im darauffolgenden Jahr konnte sie nicht kommen, schickte uns aber noch eine digitale Weihnachtskarte. 2019 antwortete sie zum ersten Mal nicht mehr auf meine Mails. Ich machte mir Sorgen und rief in der Domresidenz an, wo man mir mitteilte, dass dort keine Person dieses Namens lebe, mehr könne man mir aus Datenschutzgründen nicht sagen. Ich muss in der Adventszeit oft an die liebenswürdige alte Dame denken, sehe sie mit leuchtenden Augen in der ersten Reihe sitzen und höre noch, wie sie sagt: „Jetzt hab ich mich tatsächlich nach all den Jahren gefühlt wie ein kleines Kind an Heiligabend! Und das in meinem Alter!“
Jeder Mensch braucht einen Engel…
Auch eine zierliche alte Dame, die ich vor einigen Jahren zufällig bei Ortloff traf, fällt mir ein. Sie stand etwas hilflos vor den überladenen Weihnachtständern, hielt einen Kalender mit Wichteln in der Hand und sagte plötzlich: „Entschuldigen Sie bitte, aber darf ich Sie mal was fragen?“ Natürlich durfte sie! „Meinen Sie, ich bin zu alt für so was?“ Natürlich nicht! „Für Adventskalender ist man nie zu alt!“ versicherte ich ihr und erzählte von meinen Kinderkalendern, unserer Sammlung und dem „Lebendigen Ökumenischen Adventskalender“. Da begann sie glücklich zu lächeln und erzählte mir von ihrer Kindheit und ihren Eltern. „Die sind schon so lange tot, aber sie passen bis heute auf mich auf.“ Nach unserem Gespräch bedankte sich die alte Dame und kaufte gleich zwei Kalender, einen mit Wichteln und einen mit Engeln. „Weil jeder Mensch Engel braucht. Besonders in dunklen Zeiten.“ Wie recht sie hatte.