Mein Mann reagierte erstaunlich gelassen, als ich ihm vorsichtig zu vermitteln versuchte, dass die Kitten, die ich mir ausgesucht hatte, dummerweise 150 km entfernt von uns lebten. Dass der Ort ausgerechnet in Hessen lag, fand er aber geradezu genial. Schließlich stammt er selbst aus Hessen. Auch wieder so eine Fügung! Also konnte ich in aller Ruhe weiter träumen und planen.
Ende Mai waren die Kitten endlich, endlich alt genug, um besucht werden zu können. Ich konnte es kaum erwarten, war aber an dem Tag leider so aufgeregt, dass ich beim Kittentreffen in Niederselters vor lauter Begeisterung, Verlegenheit, Spielen und Streicheln das Fotografieren komplett vergaß. Daher gibt es von jenem denkwürdigen Nachmittag keine einzige gute Aufnahme. Ich hatte mir wieder mal viele Sorgen gemacht. Wie würden die fremden Katzen auf mich reagieren? Würde mich die Züchterin mögen, würde ich sie mögen? Würde sie mir ihre Tiere überhaupt anvertrauen wollen? Nein, ich war alles andere als entspannt. Dass es meinem Mann an dem Tag gesundheitlich nicht gut ging, machte alles noch komplizierter. Vor allem die Fahrt.
Bei meinen Kitten hatte ich bisher immer Glück gehabt. Mit der Züchterin meiner ersten drei Coone habe ich bis heute Kontakt, sie hat ihre „Kinder“ oft besucht und all die Jahre lang Anteil an ihrem Leben genommen. Ben war beim ersten Besuch gleich total zutraulich, Cisco, ein winziges pummeliges Pelzknäuel, schlief in meiner Hand ein, und Elaine hat mich tatsächlich persönlich ausgesucht. Sie lief gurrend auf mich zu und leckte mir zärtlich die Nase, als ich sie auf den Arm nahm. Unwiderstehlich.
Alice entdeckte ich „zufällig“ im Internet, als sie gerade vier Wochen alt war. Sie sah so bezaubernd aus mit dem roten Fleck auf ihrer Stirn und dem dicken Knubbbelkinn, dass ich sofort hin und weg war. Sie musste einfach meine vierte Katze werden! Selbst mein Mann wurde bei ihrem Anblick irgendwie schwach, obwohl er eigentlich wirklich keine vierte Katze wollte. „Also, wenn ich die Kleine so sehe, kann ich dich irgendwie verstehen….“ murmelte er, was mich dann veranlaßte, noch am selben Abend anzufragen, ob die Kleine noch zu haben war. Sie war – und sie wurde meine Seelenkatze.
Aber wie würde es jetzt mit Krispin und Hathaway werden?
Die Fahrt dauerte eineinhalb Stunden und wir verfranzten uns ziemlich, weil ich dem Navi Falschinformationen (nächster Parkplatz) eingegeben hatte, und kamen erst weiter, als ich Heike anrief und mir den Weg beschreiben ließ. Im Haus fiel mir gleich auf, dass die erwachsenen Katzen, die sich drinnen und im Auslauf frei bewegten, sowohl miteinander als auch mit den beiden großen Hunden und mit ihren Menschen äußerst entspannt umgingen. Offenbar ließen sie sich auch durch fremde Besucher oder laute Geräusche nicht aus der Ruhe bringen. Nacheinander kamen sie selbstbewußt auf uns zu, um uns neugierig zu beschnuppern.
Mein Versuch, mich auf „Coonisch“ mit ihnen zu unterhalten, irritierte sie allerdings und bewirkte so ziemlich das Gegenteil von dem, was ich mir erhofft hatte. Sie reagierten höchst irritiert. (Huch, das komische Wesen radebrecht in unserer Sprache? Wie unheimlich! Ein Alien!). Auch Heike hörte meine kätzischen Lautäußerungen, dachte, eins ihrer Mädels hätte Probleme und wurde sichtlich unruhig. „Wer hat denn da grade gemaunzt?“ „Äh, das war nur ich“, gestand ich und hielt danach lieber den Mund, um keinen unnötig zu verwirren. Ich weiß ohnehin nicht, was ich sage, wenn ich Coonisch rede. Mit meinen eigenen Katzen kann ich mich problemlos unterhalten, sie verstehen mich immer und antworten auch. Aber sie sind ja auch meine Lehrer. Eine Britisch Kurzhaar ist allerdings schon mal entsetzt mit angstgeweiteten Augen und gesträubtem Fell vor mir geflohen, als ich sie freundlich auf Coonisch angegurrt habe. (Hilfe! Eine feindliche Spionin!) Komischerweise reagieren fremde Kater meistens heftiger als Katzen. Möglicherweise sage ich unbewußt katerfeindliche Dinge. Ich arbeite noch an mir.
Die sechs Kitten logierten oben im Babyzimmer und saßen und lagen eng um die Mama geschart auf einem großen blauen Bett. Ich war gespannt, wer als erstes mit mir Kontakt aufnehmen würde. Natürlich waren es nicht die Katerchen, sondern die roten Schwestern Karma und Kallista. Karma war offenbar eine richtige kleine Persönlichkeit, die äußerst geschickt und vorsichtig mit ihren großen Pfötchen zugreifen konnte.
Inzwischen wußte ich natürlich schon viel mehr über diesen Wurf, kannte die Farben und Eigenheiten der Kleinen, hatte mir die Stammbäume und Linien genau angesehen (tatsächlich bis zu den ersten Vorfahren) und die Bilder ihrer Ahnen gegoogelt. Bei Rassekatzen kann man das problemlos über die riesige Datenbank von Paw Peds und auch über die Suchfunktion im Internet. Viele Züchter behalten ihre Homepages auch noch, wenn sie nicht mehr aktiv sind, und haben dort Bilder ihrer Lieblinge und auch Texte über deren Eigenheiten.
Lenny, der Vater der Kleinen, ein eindrucksvoller Kater stammt aus St. Petersburg. Offenbar gibt es schon seit etlichen Jahren viele russische Linien in der Maine Coon-Zucht, was mir bisher völlig entgangen war. Sie werden sogar in die USA importiert, was irgendwie merkwürdig erscheint, wenn man bedenkt, dass es eine uramerikanische Rasse ist.
Als Übersetzerin war ich früher übrigens (sehr gern!) auf Bücher über Katzen und Katzenrassen spezialisiert. Die meisten anderen Übersetzer ließen davon lieber die Finger, weil man sich im Wirrwarr aus Farbschlägen und Standards leicht verirren kann und die Recherchen damals äußerst mühsam waren. Zudem verändern sich die Standards dauernd, es kommen immer neue Varianten und Farben hinzu, und die Standards sind auch nicht in den Zuchtverbänden aller Länder gleich. Mir hatte es immer Freude gemacht, die imposanten Bildbände mit den vielen tollen Katzenportraits zu übersetzen. Ich habe dabei viel gelernt, und immer waren es die Seiten mit den Maine Coons, die mich zum Träumen brachten. Eines Tages wollte ich auch so eine wunderschöne Riesenkatze haben….
Krispin und Hathaway stammen aus einem sogenannten Poly-Wurf, in dem es sowohl drei Poly-Kinder als auch drei Nicht-Poly-Kinder gab. Polys sind Katzen mit Polydaktilie, also mehr Zehen als gewöhnlich (6 oder 7 statt 5 an den Vorderpfoten und/oder 5 oder 6 statt 4 an den Hinterpfoten). Das PP hinter den Namen der Mutter (PP: mehrzehig an allen Pfoten) war mir zunächst gar nicht aufgefallen, denn „zu meiner Zeit“ waren Poly Coons noch nicht anerkannt, was gerade bei den Maine Coons verwunderlich ist, denn Polydaktilie kommt bei dieser Rasse besonders häufig vor. Man nimmt an, dass ursprünglich bis zu 40 Prozent aller Maine Coons Polys waren. Etwa die Hälfte der über fünfzig Katzen Ernest Hemingways waren übrigens auch Polys, weshalb man sie auch manchmal als Hemingway-Katzen bezeichnet. Es handelt sich dabei um eine Spielart der Natur, die keine gesundheitlichen Nachteile mit sich bringt soweit man weiß und auch keine „Qualzucht“ ist. Ich mag mir allerdings nicht vorstellen, was meine drei mit noch mehr Zehen mit unseren Möbeln anfangen würden, denn sie kratzen wirklich an ALLEM. Polys haben angeblich oft einen schwereren Knochenbau als „normale“ Katzen und werden mitunter auch besonders groß. Möglicherweise gilt das sogar für ihre Geschwister, mein Hathaway ist jedenfalls auf dem besten Weg, ein Riesenkerl zu werden.
Tatsächlich war die erste amerikanische Katze, die ich je sah, eine Poly. An unsere denkwürdige Begegnung (in Oakland bei San Francisco) kann ich mich noch sehr gut erinnern, denn zunächst glaubte ich an eine Halluzination. Ich war todmüde mit heftigem Jetlag ins Bett gesunken und hatte geschlafen wie ein Stein. Irgendetwas weckte mich früh am Morgen und ich öffnete vorsichtig die Augen, weil ich das unangenehme Gefühl hatte, intensiv beobachtet zu werden. Wurde ich auch. Zwei grüne Augen starrten mich an. Sie gehörten einer sehr großen zotteligen schwarzen Katze mit Riesenpfoten, die irgendwie komisch aussahen. Sehr breit. Sehr groß. Sehr zehig. Irgendetwas stimmte nicht mit diesen Pfoten, also schloß ich schnell wieder die Augen. Das Katzentier war todsicher eine Ausgeburt meiner Phantasie. Ich blinzelte erneut. Das unheimliche Wesen hockte immer noch da, starrte mich immer noch unverwandt an, und die breiten Pfoten hatte es auch immer noch. Ich kniff die Augen so fest wie möglich zu, zählte bis zehn, blinzelte vorsichtig, und tatsächlich war der Katzenspuk verschwunden. Ich schilderte den anderen Hausbewohnern beim Frühstück meine Vision, aber die lachten nur. „That was Nancy. She’s a poly.“ Wie bitte? Was zum Teufel war eine Poly? „A cat with extra toes.“
Krispin und Hathaway sind keine Polys. Die silberrote Stellaluna auch nicht. Ist vielleicht auch gut so. Nie im Leben wäre ich imstande, so viele Krallen zu kürzen. Ich schaff ja schon die Normalzehenzahl nicht! Außerdem finde ich den Anblick immer noch ungewohnt, aber das mag an der Geisterkatze Nancy liegen.
Polys gibt es bei vielen Katzenrassen (und auch bei anderen Tieren und sogar bei Menschen) und bei den Coons haben sie weltweit unzählige Fans, auch unter den Züchtern. Angeblich existieren über 20 verschiedene Spielarten von feliner Vielzehigkeit. Ich kenne nur Mitten Paw (die Pfoten sehen ähnlich aus wie die menschliche Hand, und die Katzen können damit hervorragend greifen und Dinge fangen und festhalten) und Patty Foot (die Pfoten sehen aus wie runde Schneeschuhe). Alle Maine Coons haben übrigens auffällige Fellbüschel zwischen den Zehen, möglicherweise als Schutz gegen Winterkälte. Ob viele Zehen einen besseren Halt auf Eis und Schnee bieten, vermag ich nicht zu sagen, aber da Maine Coons früher häufig als Schiffskatzen tätig waren und kühn die Meere durchsegelten, mag die Vielzehigkeit durchaus ihre Kletterkünste und Mausefängerkunst gesteigert haben. Gegen so viele Krallen kommt selbst eine fette Schiffsratte nicht an. Und die Schiffsbesatzung hielten diese Katzen für Glücksbringer.
An Poly Coons scheiden sich jedenfalls die Geister. Entweder man mag sie oder man mag sie nicht. Inzwischen werden sie von der amerikanischen TICA und auch von anderen wichtigen Verbänden anerkannt.
Übrigens muss ich gestehen, dass ich ganz kurz damit geliebäugelt habe, die hübsche kleine Katjes mit den vier Patty Feet hier einziehen zu lassen. Ihr Gesicht war einfach zu süß. Ich hatte sogar schon einen genialen Namen für sie: Pawlina. Aber das bleibt natürlich unter uns. Vor allem Stellaluna darf das nie erfahren!