Die ersten viereinhalb Monate in Gravesend schlief ich in dem winzigen box room im ersten Stock. Mehr als Schlafen konnte man dort kaum, denn der Raum war klein und eng wie eine Abstellkammer, lag auf dem Treppenabsatz des Hauses und war gerade mal so lang wie das schmale Bett und nur so breit wie das Bett und ein schlanker Schrank mit Regalabteil. Außerdem gab es noch einen Stuhl, den ich für abgelegte Wäsche benutzte, und ein Miniaturregal mit zwei Brettern, das an der Wand neben dem Kopfende des Betts befestigt war. Normalerweise würde so ein box room als Abstellkammer oder Gästezimmer dienen, doch ich hatte das Pech, darin wohnen zu müssen.
Ich kann mich noch genau erinnern, wie unser netter Landlord, Mr. Holman, mir die Kammer (mit Schräge hätte sie perfekt zu Harry Potter gepasst, doch den gab es damals natürlich noch nicht) zum ersten Mal zeigte. Wohlweislich warnte er mich, bevor er die Tür aufschloss. „I am afraid you‘ve got the tiny room, dear. The French girl was faster, so she got the big one. I’m very sorry. It’s actually REALLY tiny!” Obwohl ich derart vorbereitet war, blieb mir beim Anblick des Zimmers vor Schreck die Luft weg. Ich bemühte mich, gefaßt zu erscheinen, aber ich glaube nicht, dass es mir gelang. Leider neigte ich schon immer zu Klaustrophobie, in einigen Lebensphasen sollte dies später sogar richtig problematisch werden, doch damals war es zum Glück noch auszuhalten, sonst hätte ich den box room nicht eine Nacht ertragen.
Wir befanden uns im September 1977, es würde ein Winter voll harter Streiks folgen, aber davon ahnte ich noch nichts. Streiks gab es damals in Deutschland nicht, jedenfalls kann ich mich nicht daran erinnern. Im Moment sind sie auch hier an der Tagesordnung, gestern und heute streiken in Köln Busse und Bahnen, vorige Woche das Flughafenpersonal und die Müllabfuhr, und für den 27. März rechnet NRW gar mit einem Mega-Streik inklusive Verkehrschaos.
In den folgenden Tagen spürte ich zum ersten Mal so etwas wie einen Kulturschock. Alles war so anders. Die Sprache, die Leute, das Essen, der Tagesrhythmus. Ich hatte unbedingt weggewollt aus Deutschland, mein bisheriges Leben war vor kurzem in tausend Stücke zersprungen, ich wollte endlich alles hinter mir lassen, die gescheiterten Beziehungen, den Unifrust, die Probleme mit meiner dominanten Mutter, das Studentinnenheim mit der strengen Hausordnung und den tiefkatholischen Spionen überall. Ich hatte mir viel ausgemalt in den Wochen vor der Abreise, doch mit so einem winzigen Zimmerchen hatte ich nicht mal in meinen Katastrophenvorstellungen gerechnet. Beim Anblick des Harry Potter-Zimmers wäre ich am liebsten in Tränen ausgebrochen und hätte mich an Mr Holmans väterlichen Hals geworfen, aber er war viel kleiner als ich und es gab ja auch noch genug andere, größere Räume in dem Haus in der Kitchener Avenue, das wir uns zu dritt teilten. Three girls.
Während der ersten Tage war ich allein. C., die schon seit längerem hier lebte, war verreist, J. war noch in Frankreich, so dass ich die mir zugänglichen Zimmer im Erdgeschoss in Ruhe erforschen konnte. Die Zimmer der beiden anderen Frauen waren verschlossen, wahrscheinlich hätte ich mich ohnehin nicht hineingetraut, höchstens mal kurz hineingespäht. Unten im Flur stand ein Telefon auf einem kleinen Tisch, immerhin eine mögliche Verbindung zur Außenwelt, aber noch gab es leider keinen Fernseher, der mich ablenken konnte, den würden J. und ich uns erst später gemeinsam in einem Laden leihen. A rented tv set. Ob ich mich hier wohl irgendwann heimisch fühlen würde? Mir kamen beträchtliche Zweifel. Ich fühlte mich völlig fehl am Platz und traute mich nicht, irgendetwas anzurühren. Die Waschmaschine gehörte C, der Kühlschrank und der Plattenspieler auch. Mir gehörte gar nichts. Ich kam mir vor wie ein Eindringling.
Am nächsten Tag erkundete ich die Straße und die verschiedenen Läden, ging hinunter bis zum Echo Square, wo es ein Delicatessen Geschäft gab, und verbrachte den Abend bei den Holmans, die einen riesigen stacheligen immergrünen Baum genau vor der Tür hatten, der auf Englisch monkey puzzle tree und auf Deutsch Schuppentanne oder Chilenische Araukarie heißt, und zwei freundliche schwarze Scotch Terrier, die Star und Kirsty hießen und sehr intensiv nach Hund rochen. Es gab Lamm, die englische Version schmeckt und duftet leider sehr nach Hammel, dazu Peppermint Sauce und gebackene Kartoffeln.
Als ich am nächsten Morgen aus dem Fenster sah, bot sich mir ein schreckliches Bild. Zwei junge Männer schleppten riesige Schweinehälften an unserem Haus vorbei. Es gab eine Metzgerei einige Häuser weiter, die sich für mich allerdings als sehr hochschwellig herausstellte. Ich hatte schon als Kind Probleme mit dem Geruch von Fleisch, aber englische Metzgerläden rochen zumindest damals äußert dumpf und unangenehm für meine empfindliche Nase, das Fleisch sah zudem irgendwie grau aus und schien völlig ungekühlt in den Theken zu liegen. Ich habe bei diesem butcher nur sehr selten etwas gekauft, zumal J, mit der ich meistens gemeinsam kochte und aß, Vegetarierin war, nur ungern aß und beim Anblick von Fleisch so reagierte, dass man komplett den Appetit verlor. Das einzige, was sie mochte, waren Weißbrot und Plätzchen.
Das Bett im box room war eigentlich eine geniale Konstruktion, denn es besaß einen Unterbau mit Schublade, in der man seinen Koffer und anderes verstauen konnte. Leider gab es im Haus keinen Keller, wie bei den meisten englischen Häusern, und nur einen gefährlichen Speicher, den man über Holzbalken balancierend betreten musste, weil man sonst durch den Boden gefallen wäre. Behauptete zumindest unser Vermieter Mr. Holman.
Völlig neu für mich war das sash window. Mein erstes Schiebefenster! Dummerweise war es undicht, und beim ersten heftigen Regen wurden Bett und Bücher ziemlich in Mitleidenschaft gezogen und ich wachte mitten in der Nacht in einem nassen Bett auf. Mr. Holman reparierte es zügig, nachdem ich es notdürftig und erfolglos mit Verbandsmaterial und Handtüchern versucht hatte. Zwischen Bett und Wand gab es noch eine schmale Klappkonstruktion, eine Art tiefes Geheimfach, in dem man einiges verstauen konnte. In meinem Fall waren es natürlich noch mehr Bücher, denn ich hatte eine große Tasche mit Literatur mitgebracht. Wir hatten in der Uni eine endlose Leseliste bekommen, die ich dringend abarbeiten musste. Außerdem hatte ich, aus welchen Gründen auch immer, ziemlich viele französische Autoren mitgebracht. Camus, Sartre, Baudelaire, Flaubert, Prevost. Nachts las ich fast alles von Sartre in meinem kleinen box room und beschloss nach der Lektüre, dass der Existenzialismus nichts für mich war. Zu hoffnungslos. Zu kalt. Zu deprimierend. Und seit dem Regenguss auch etwas wellig. Aber ich las auch E. E. Cummings und W. H. Auden in diesem Zimmer.
Durch das Schiebefenster sah man die Straße und den Himmel. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite lehnte eine einsame rote Telefonzelle an der Mauer. Schräg unter einer Straßenlaterne, deren Licht das Dunkel orange und irgendwie jenseitig beleuchtete. Ich liebte die Telefonzelle vom ersten Moment an und sie erwiderte meine Liebe, aber das ist eine andere Geschichte. Rechts über der Szene leuchtete ein besonders heller Stern, wir nannten ihn morning star. In meiner Erinnerung leuchtete er jede Nacht, war aber möglicherweise nur am Winterhimmel zu sehen, denn im Januar zog ich in das Nebenzimmer, wo das Bett weit weg vom Fenster stand. Es waren sogar drei Fenster, um genau zu sein, denn der Riesenraum hatte einen Erker, ein bay window, in dem ich mir todsicher eine Lesebank eingerichtet hätte, wäre es mein Haus gewesen. Strenggenommen war es eine zweigeschossige Auslucht, denn im Erdgeschoss war ein ebensolcher Erker.
Ganz in der Nähe des Hauses gab es einen Briefkasten und eine Bushaltestelle. Bis heute liebe ich die roten englischen Briefkästen, Telefonzellen und Busse. Hoffentlich wird es sie noch lange geben. Wenn ich an meine Zeit in England denke, sehe ich vor allem zwei Farben: Grau und Rot. Und das Rot scheint im Laufe der Jahre immer stärker zu leuchten.
Im Januar des folgenden Jahres geschah das Wunder. The French girl, inzwischen meine Freundin und Vertraute, schlug eines Abends spontan vor, die Zimmer zu tauschen. Ich kann bis heute nicht begreifen, warum sie ihren Raum nicht mochte, aber sie fand ihn zu groß, fühlte sich darin verloren, wollte lieber ein warmes kleines Nest wie den box room, in dem sie sich sicher und geborgen fühlte. Wir zogen gleich am nächsten Tag um und waren danach beide glücklich und zufrieden.
Irgendwann werde ich die beiden Zimmer in Miniaturformat nachbauen. Sie passen perfekt in meine Mäusewelt. Ich muss nur noch ein sash window in der Größe 1:12 finden. Und das passende bay window. Ich habe diese Zeit auch literarisch verarbeitet, unter anderem in der Erzählung „Englischer November“.