Die rote Telefonzelle auf der gegenüberliegenden Seite der Kitchener Avenue war mein nächtlicher, tröstlicher Anker bei Sonne, Regen, Nebel und Schnee. Aber sie war noch viel, viel mehr, denn sie erwiderte meine Liebe und war oft genug richtig nett zu mir. Möglicherweise war ich sogar ihr Liebling, weil ich ihr jeden Abend eine gute Nacht wünschte und jeden Morgen einen guten Tag. Als ich noch in dem kleinen box room schlief, hielten wir nachts stumme Zwiesprache und ich klagte ihr oft genug mein Leid. Sie erfuhr als erste, dass ich nach meinen stressigen Auftritten in den beiden englischen Schulen auf gar keinen Fall Studienrätin werden wollte oder dass ich mich verliebt hatte. Außerdem wusste sie mit der Zeit eine Menge über meine familiären Probleme. Mehr als mir lieb war, denn sie war Zeuge etlicher hochkomplexer Gespräche.
Meine Mutter tat sich wie erwartet äußerst schwer damit, dass ihre Tochter gegen ihren ausdrücklichen Rat im Ausland weilte, und erwartete mehrfach die Woche (insgeheim wahrscheinlich sogar täglich) lange Telefonate mit genauen Details. Schließlich war sie, anders als ich, eine passionierte Marathonsprecherin und wollte alles aus dem Leben ihrer verlorenen Tochter wissen. Von unserem Privatanschluss wollte ich sie nicht anrufen, weil das die gemeinsame Telefonrechung ins Astronomische hochschnellen lassen würde, außerdem fand ich es unfair, das Haustelefon stundenlang zu blockieren. J. und C. wollten oder mussten schließlich auch telefonieren. Immerhin wurde J. bereits jeden Abend von ihrem französischen Verlobten besprochen. Ich bat meine Mutter daher, nicht jeden Abend anzuläuten, und wir einigten uns auf einen Kompromiss.
Wir beschränkten uns auf zwei Telefonate die Woche, sonntags rief sie bei uns an, und Mitte der Woche begab ich mich in die rote Telefonzelle gegenüber. Im Winter war es dort sehr kalt, im Sommer sehr warm, so dass man die Tür aufhalten musste, was gar nicht einfach war. Meist roch es nicht sehr angenehm, und man musste den Einwurfschlitz ständig mit Münzen füttern, was überaus lästig war. Die Gespräche wurden damals noch dauernd von lauten, nervenden Pipp-Pipp-Pipp-Pipps unterbrochen, die anzeigten, dass auf der Stelle frische Coins erforderlich waren. Ich hatte mir vorsorglich eine größere Sammlung davon zugelegt. Bei Ferngesprächen waren die Münzforderungen besonders häufig und störend, denn sie ertönten gefühlt im Sekundentakt. Normalerweise. Wenn J. mit Frankreich telefonierte, war dies auch immer der Fall. Bei Telefonaten nach Deutschland ebenso. Es sei denn, ich rief meine Mutter an.
Ich kann es mir nur so erklären, dass die Phone Box entweder Mitleid mit mir hatte oder meine Mutter erfrischend dynamisch fand. Vielleicht auch beides. Ich warf die ersten Münzen ein, sie ließ meine Mutter und mich kurz reden, rief laut Pipp-Pipp-Pipp und blieb danach komplett still, als würde sie den Atem anhalten und gebannt zuhören. Ich war irritiert, aber natürlich auch angenehm überrascht, vor allem finanziell. Ich konnte so lange telefonieren, wie ich wollte oder konnte. Meine rote Phone Box gab keinen Mucks von sich. Allerdings nicht immer. Manchmal griff sie rettend ein und pippte genau im richtigen Moment wie verrückt los, woraufhin meine Mutter genervt und beleidigt aufgab, weil man sie mitten in ihren Ermahnungen unterbrochen hatte. Nach besonders schwierigen Gesprächen gab die Phone Box mir sogar alle Münzen zurück. Wäre sie ein Mensch gewesen, hätte sie mir wahrscheinlich verschwörerisch zugezwinkert oder mitfühlend übers Haar gestrichen, denn die Replikenwechsel mit meiner Mutter ähnelten eher den Verhören der Heiligen Inquisition als einer normalen Konversation. Die Phone Box verstand offenbar gut Deutsch und lauschte so gebannt, dass sie die Pippser vergaß. Ich habe sehr viele Telefone aus dieser Zelle angerufen. Sie reagierte nur bei dieser einzigen Nummer so großzügig und verständnisvoll. Bei allen anderen bestand sie auf schnellsten Münzwurf, sonst war Schluss mit der Verbindung. Ich spielte mehrfach mit dem Gedanken, der Post den verrückten Netzfehler zu melden, aber sobald ich dies erwog, funktionierte meine rote Freundin mit einem Mal völlig „normal“.
Einmal gab mir die rote Lady sogar ein Geschenk. Sie ließ es aus dem Nichts vor meine überraschten Füße rollen. Es war ein runder Button mit Buzby, dem orangefarbenen Maskottchen der Post Office Telecomcommunications. Ich war hocherfreut, denn ich hatte einen soft spot für den komischen Cartoon-Vogel, der hoch oben auf den Telefondrähten lebte und ein Dauertelefonierer wie meine Mutter war. Er surrte durch Fernsehspots, sprach mit der Stimme von Bernard Cribbins, zierte Tassen, Aufkleber und Poster und hatte sogar einen großen Kurzauftritt am Piccadilly Circus. Die Buzby-Sätze waren ziemlich witzig: „Absence makes the voice grow fonder“ (eine Abwandlung von „Absence makes the heart grow fonder“, etwa „Die Liebe wächst mit der Entfernung“) oder „Give them the gift oft he gab“ (Jemand, der „the gift oft he gab“ hat, ist auf Deutsch „nicht auf den Mund gefallen“). Mir schenkte meine rote Telefonzelle den Satz „Make someone happy“ (die Kurzversion des berühmten Buzby-Satzes „Make someone happy with a phone call“). Was ihr in meinem Fall eindeutig gelang. Ich verließ sie totally happy, habe den Button immer noch und werde ihn ewig in Ehren halten! Man bekommt schließlich nicht alle Tage ein Geschenk von einer roten Telefonzelle!
Wo mag sie wohl heute sein? Bestimmt nicht mehr an ihrem alten Platz in der Kitchener Avenue. Vielleicht ist sie jetzt ein Bücherschrank? Beherbergt einen Defibrillator? Oder schmückt einen Garten?