Englischer November
Es war der kälteste Winter seit vielen Jahren, und das kleine Haus, das Marilyn und ich für etwas mehr als 100 Pfund im Monat gemietet hatten, besaß nur eine lächerlich schwache Heizanlage, die durch ein verstaubtes Gitter im Kamin warme Trockenluft in die Zimmer blies. Uns war ständig kalt, wir tranken mindestens zwanzig Tassen Tee am Tag und waren bestens mit Wärmflaschen, Wollhosen und Nachtjacken ausgestattet. Selbst im Haus trugen wir dicke Strickpullover und hatten wegen des Dauerschnupfens stets eine Notration Otriven und Disprin griffbereit. Fast jede Woche gab es Streiks, doch man gewöhnte sich schnell daran, weil keiner sich beschwerte, und es im Grunde ganz unterhaltsam war, denn man wusste nie, wer als nächstes streiken würde. Die Krankenhäuser, die Ärzte, die Elektrizitätswerke, die Polizei? Die Müllabfuhr, die Lastwagenfahrer, die Minenarbeiter, die Krankenschwestern, die Busfahrer, British Rail? Schlimm wurde es nur, wenn man abends auf einem leeren Londoner Bahnhof stand und nicht nach Hause kam, weil kein einziger Zug mehr fuhr. Auch die Gebirge aus schwarzen Müllsäcken, in denen sich sogar tagsüber die Ratten vergnügten, waren kein schöner Anblick.
Eines Morgens, es war Anfang November, standen die Menschen vor den Bäckereien Schlange, redeten sich warm und stampften mit den Füßen die Kälte nieder. Es sah aus wie auf den Nachkriegsfotos meiner Eltern. Ab morgen würden die Bäcker streiken, informierte mich der Fahrer, als ich mit fragendem Blick in den Schulbus stieg. Marilyn hatte verschlafen. Sie stand immer zu spät auf, weil sie erst um fünf ins Bett ging und am besten einschlief, wenn es anfing, hell zu werden. Ich hatte längst aufgegeben, sie pünktlich zu wecken, weil es ohnehin nichts half und sie davon nur schlechte Laune bekam. Trotzdem schaute ich immer kurz in ihr Zimmer, bevor ich mich auf den Weg machte. Meist lag sie auf der Seite und war unter Deckenschichten und Kissenbergen verborgen. Nur ihr dunkles Haar, das sie nachts zusammenband, war zu sehen.
Später stand ich im warmen Lehrerzimmer am Fenster und sah sie mit wehendem Schal aus dem Bus springen und zum Schulgebäude hasten. Kurz darauf stürmte sie herein, ließ sich auf den nächstbesten Stuhl fallen und hatte gerade noch Zeit, einen eiligen Schluck Tee zu trinken. Mit viel Milch, weil er sonst zu heiß war. Ich hängte ihren Mantel an den Haken, während sie ihr Unterrichtsmaterial zusammenklaubte und hinaus auf den Flur lief. Sie fing zum Glück später an als ich, aber sie war trotzdem kein einziges Mal pünktlich. Und sie schaffte es jeden Tag, den Toast anbrennen zu lassen. Wir hatten keinen Toaster und legten die Brotscheiben auf ein Gittergestell über den Gasflammen, und bis heute muss ich an Marilyn denken, wenn ich verbrannten Toast rieche.
Sie trug ihr Haar lang damals, dickes gewelltes Haar über einem birkenschlanken Hals. Haar, das viel zu üppig war für die kleine zierliche Person. Haar, das man sich um die Hand schlingen konnte, das Stunden zum Trocknen brauchte und auf dicke Wickler gedreht werden musste, damit man es überhaupt bändigen konnte. Föhnen konnte man es nicht, weil es dann wie eine dunkelbraune Löwenmähne abstand, also wurden zwei Abende in der Woche zum Lufttrocknen geopfert. Wir saßen auf dem Sofa im Wohnzimmer mit der Sonnenblumentapete und lasen uns irische Kurzgeschichten vor oder sahen fern. Manchmal bis zwei Uhr morgens. Samstags gab es die berühmten „Midnight Movies“, Gruselfilme, die Marilyn sich allein anschauen konnte, ohne vor Angst umzukommen. Um sie zu ärgern, stahl ich mich vor drohenden Mordszenen oder Vampirauftritten gelegentlich schnell aus dem Zimmer und wartete im Flur, bis sie entsetzt nach mir schrie, weil Christopher Lee gerade zugebissen hatte, Nosferatu lange Schatten warf oder John Christie die Würgeschlinge zückte. Mit der Zeit wusste ich genau, wann ich hinausgehen musste.
Wir hatten die Warnung des Busfahrers nicht ernst genommen. Schon am nächsten Tag war tatsächlich im ganzen Ort kein Brot mehr zu bekommen. Auch kein Mehl, denn die vorsorglichen Hausfrauen hatten sich rechtzeitig eingedeckt und sämtliche Regale leer gekauft. Aber wir hätten ohnehin nicht selbst Brot backen können. Auch Knäckebrot und Zwieback waren ausverkauft. Am Ende gingen wir in das elegante „Delikatessen“ am Echo Square, das wir normalerweise nie betraten, und kauften teuren, luftdicht verpackten Pumpernickel, der schon ewig im Regal gelegen hatte und aus Deutschland importiert war. Ein hungriger Engländer hätte das rabenschwarze Zeug wahrscheinlich auch in höchster Not nicht angerührt. Die Dame hinter der Theke war offenbar froh, den Ladenhüter endlich loszuwerden, und strich immer wieder über die Verpackung. „Really good stuff!“ Danach ernährten wir uns von steinharten Ingwerplätzchen, die man stundenlang in Tee tunken musste, um seine Zähne nicht zu gefährden.
Fast jeden Abend ertrugen wir die lästigen Kontrollanrufe von Marilyns Verlobtem, der zu Recht fürchtete, dass sie ihn nicht sonderlich vermisste, und sie mit Vorwürfen und Liebesschwüren überschüttete. Ich saß im Wohnzimmer und konnte mich nicht konzentrieren, während Marilyn verzweifelt den Hörer ans Ohr presste und „oui“, „non“ und „mais pas du tout“ sagte. Danach war sie oft in Tränen aufgelöst, weil sie seine Eifersucht nicht ertrug, mochte jedoch nicht darüber reden. Es war eine komplizierte Beziehung, wie fast alle ihre Beziehungen. Zum Ausgleich liefen wir anschließend eingemummt wie Eskimos hinaus in die Nacht, warfen unsere Strickmützen in die Luft und sangen die „Marseillaise“ und „Auld Lang Syne“, rannten und hüpften hinunter zum Hafen, um die Möwen zu stören und den Lotsen auf ihrer Fahrt zu den großen Schiffen zuzusehen, die weiter nach London wollten und bei uns kontrolliert wurden. Ihre gelben und roten Lichter spiegelten sich in der Themse, und wir hielten uns lachend umschlungen, während unsere dicken weißen Atemwolken sich vermischten. Einen der Lotsen kannten wir näher. Er wohnte auch in der Kitchener Avenue, nannte uns „the two strange ladies“ und lud uns gelegentlich ins nächtliche Lotsenhaus ein. Wir bekamen Tee in großen hellblauen Tassen, die so schwer waren, dass man sie mit beiden Händen halten musste. Die Lotsen rauchten und erzählten von merkwürdigen Funden auf den ausländischen Schiffen, die anschließend versiegelt werden mussten und gar nicht erst nach London weiterfahren durften. Unser Lotsenfreund hatte seinen eigenen Teebecher, kein anderer durfte ihn anrühren, darauf legte er Wert. Es war der Kopf von Prinz Charles, und die Ohren waren die Henkel. Danach rannten wir die Royal Pier Road hinauf, wo im Sommer die Seeleute ihre Tätowierungen zur Schau stellten und den englischen Mädchen nachpfiffen, bis zur Anlegestelle der Tilbury Fähre, die im Winter bei Regen, Nebel und Schnee nicht verkehrte, was damals bedeutete, dass sie ziemlich selten fuhr.
Am schlimmsten waren in diesem Winter die vielen Power Cuts, die als Druckmittel für höhere Löhne eingesetzt wurden und schlagartig die Stadt in Finsternis tauchten. Wie im Theater, wenn plötzlich das Licht ausgeht, und das Publikum erschrocken den Atem anhält. Angeblich wurden die Unterbrechungen im Radio angekündigt, doch wir hatten kein Radio. Bei meinem ersten Power Cut wohnte ich noch allein in unserem Haus. Ich nahm an, die Hauptsicherung wäre herausgesprungen, weil ich überall im Erdgeschoss das Licht hatte brennen lassen und gleichzeitig gebügelt und Radio gehört hatte. Vielleicht war das zu viel für den Stromkasten, wo immer er auch sein mochte? Ich fand mich in dem fremden Haus noch nicht zurecht und beschloss, mir nebenan Unterstützung zu holen. Doch draußen sah ich zu meinem Schrecken, dass nicht nur unser Haus dunkel war, sondern die ganze Straße. Und nicht nur unsere Straße, sondern die ganze Stadt! Hatte ich etwa einen kompletten Blackout verursacht? Mr. Bambridge von nebenan lachte dröhnend und klärte mich auf, äußerst umständlich und mit ehrlichem Mitgefühl für die Streikenden, denn sein Sohn arbeitete auch im Elektrizitätswerk. Beim nächsten Power Cut war ich schon besser vorbereitet, beim zehnten hatten wir uns daran gewöhnt. Mit der Dunkelheit kamen die vertrauten Abschiedsgeräusche. Das Radio verschluckte sich, der Wasserkessel verstummte, der Plattenspieler zog die Töne lang. Es folgten Stille und Kälte, denn auch die Heizung funktionierte mit Strom. Die Taschenlampe lag irgendwo in der Küche, und auf der Ablage neben der Tür befand sich ein Depot aus Kerzen und Streichhölzern, das ständig aufgefrischt werden musste. Doch leider waren die Kerzen wegen der regen Nachfrage oft tagelang ausverkauft. Mit etwas Übung konnte man sie sogar im Finstern finden und anzünden, ohne sich die Finger zu verbrennen. Nachdem Marilyn eingezogen war, fand ich die Power Cuts nicht mehr ganz so schlimm. Mitunter machte es sogar Spaß, wie Kinder unter die Wolldecken zu kriechen, einander zu wärmen und Gespenstergeschichten zu erfinden, während man auf das nervöse gelbe Aufflackern der Laterne vor dem Haus wartete. Wenn es geschneit hatte, war es sogar hell genug, um Marilyns grüngraue Augen und die steilen Falten zwischen ihren Brauen zu erkennen. Wenn wir doch nur immer zusammen sein könnten, dachten wir.
So lange die Läden geöffnet waren, konnte man auch bei Stromausfall einkaufen, denn in den Geschäften in der Kitchener Avenue gab es genug Kerzen und Paraffinlampen, auf kleinen Gaskochern wurde frisches Teewasser für die durchgefrorenen Kunden gekocht, und von allen Seiten erhielt man Mitgefühl und aufmunternde Ratschläge. „Could be worse!“, meinte Mrs. Brisbane, die einen gemütlichen Souvenirladen an der Old Road East besaß, der bei Stromausfall der beliebteste Treffpunkt der Gegend war. Manchmal zündete sie Räucherstäbchen an, die wie Glühwürmchen im Dunklen leuchteten, und stellte Laternen mit Stumpenkerzen ins Schaufenster, in deren Schein die indonesischen Stabpuppen zittrige Monsterschatten warfen. Nur beim Greengrocer war es schwierig. Im Dämmer konnte man weder den Einkaufszettel noch die Waren richtig sehen, die Kasse funktionierte nicht ohne Strom, und für die alte Waage war es auch zu dunkel. Mr. Mitchel, ein untersetzter kleiner Mann mit einem silbernen Haarkranz, musste mühsam auf kleinen Zetteln ausrechnen, wie viel man ihm schuldete. Meistens verrechnete er sich dabei und zerriss das Papier gleich wieder, doch seine gute Laune konnte das nicht trüben.
Nur den Supermarkt besuchten wir ausschließlich tagsüber, denn er war weit weg, und wir hatten jedes Mal schwer zu schleppen. Marilyn kochte genau so ungern wie sie aß, und ich hatte keinen rechten Appetit, wenn ich allein essen musste. Daher war unser Speiseplan ziemlich eingeschränkt. Wir kauften vor allem Toast, Butter und Mais, aber nur die mit dem lachenden grünen Riesen, Orange Marmalade, aber nur Thick Cut, English Breakfast Tea von Twinings, Crumpets, Kartoffelchips und alle Arten von Plätzchen. Manchmal auch Heinz Ketchup und Sandwich Spread. Und Erbsen, Marilyns Lieblingsgemüse, aber nur tiefgefrorene, denn die englischen Dosenerbsen waren damals schon wegen der giftgrünen Farbe ziemlich ungenießbar. Fleisch kauften wir nie, denn Marilyn war Vegetarierin. Und Käse konnte sie nicht ausstehen. Der größte Teil unseres gemeinsamen Haushaltsgelds wurde leider nicht für Lebensmittel ausgegeben, denn Marilyn bestand darauf, jede Woche mehrere Riesenflaschen mit Putz- und Desinfektionsmitteln zu kaufen. Sie stammte aus Südfrankreich und wurde die Angst nicht los, dass sofort Heerscharen von Küchenschaben über uns herfallen würden, wenn sie auch nur ein einziges Mal vergessen sollte, Desinfektionsmittel auf jedes erreichbare Fleckchen zu schütten. Unser Haus war höchstwahrscheinlich das sauberste im ganzen Ort. Schon an der Eingangstür roch es eindringlich und scharf nach Chlor. Schaben bekamen wir nie zu Gesicht, was Marilyn einzig und allein ihrer Reinlichkeit zuschrieb.
Ohne Power Cuts saßen wir abends mit untergeschlagenen Beinen im Esszimmer, hörten die Eagles und Simon and Garfunkel, tunkten Kekse in Tee und schrieben Tagebuch oder Briefe nach Hause. Wir bereiteten unsere Unterrichtsstunden vor oder übersetzten gemeinsam Gedichte von Jacques Brel, Verlaine und Baudelaire. Trotzdem herrschte eine melancholische Stimmung, denn unsere erste Trennung näherte sich unaufhaltsam. Marilyn flog bereits Ende November nach Frankreich und würde bis nach Weihnachten fort bleiben.
Die Nacht vor ihrer Abreise war zu kostbar zum Schlafen, daher hielten wir uns mit Schokolade und Tee wach. Der Morgen kam trotzdem, und wir fuhren mit den schweren Koffern zum Londoner Flughafen. British Rail streikte ausgerechnet an diesem Tag nicht. Auch das Flughafenpersonal streikte nicht. Marilyn sagte leise „See you after Christmas“, und ihr ernstes kleines Gesicht wurde verschluckt von fremden Mänteln und Körpern. Ich fuhr hoch aufs Flughafendach und bezahlte 10 Pence, um ihren Air France Vogel schwerfällig abheben und in den Wolken verschwinden zu sehen. Es war kalt und unwirtlich, doch ich blieb trotzdem draußen, weil Frieren immer noch besser war als Tränen. Nicht abstürzen, Marilyn, nur nicht abstürzen. Danach fuhr ich zurück in die Stadt, ging in meine Lieblingsbuchläden in der Charing Cross Road und kaufte immer mehr Bücher, um Marilyns Gesicht zu vergessen. Im überheizten Zug las ich kanadische Wintergedichte und ließ mich vom Waggon durchrütteln. Am heimatlichen Bahnhof erwartete mich wie immer Königin Victoria auf ihrer Säule, und ich beschloss, trotz der schweren Bücher zu Fuß nach Hause zu gehen. Marilyn rief noch am Abend an, doch wir waren zu bewegt, um ohne lange Pausen sprechen zu können. Ich nahm mir fest vor, das Haus erst wieder zu verlassen, wenn sie zurück war. Doch schon nach wenigen Tagen besiegte mich die Einsamkeit. Außerdem musste ich unbedingt meine Briefe an Marilyn zur Post bringen.
Die ursprüngliche Fassung dieser Erzählung erschien 1989 in der Anthologie „Frauen schreiben Geschichte(n)“ im Marabuch Verlag, Köln, copyright BFL