Als ich heute Morgen etwas verwirrt von der nächtlichen Zeitverschiebung aufwachte, brachte mich mein Schwiegervater Jachym, der mich immer wieder auf ziemlich merkwürdige Weise erreicht, noch im Halbschlaf auf die Idee, seinem Vater nachzuspüren. Die Zeichen, die er mir gab, waren unübersehbar. Gestern hatte ich in meinem Arbeitszimmer nach einem Buch von Trakl gesucht und es mit ins Schlafzimmer genommen, um die Widmung zu fotografieren, die ein guter Freund vor vielen Jahren hineingeschrieben hat. Das Buch lag noch auf meinem Nachttisch.
Als ich meinen verwunderten Mann fragte, was er denn so über seinen Großvater väterlicherseits wisse, gab er mir spontan Jachyms Notizheft, das er in seiner Nachttischschublade aufbewahrt. Darin liegen sehr viele lose Blätter. Eins fiel heraus. Als ich sah, was darauf stand, war ich doch einigermaßen verblüfft: Georg Trakl! Jachyms Vater hieß zufällig auch Georg. Ich kann das Blatt datieren, es stammt von 1960, also zwei Jahre vor Jachyms Tod. Auf der Rückseite gibt es eine Liste mit den Titeln von acht Gedichten. Das erste ist „Hälfte des Lebens“ von Hölderlin. Das Gedicht kann ich auswendig. Ich liebe die letzten Zeilen: „Die Mauern stehn sprachlos und kalt, im Winde klirren die Fahnen“. Jachym hat dazu geschrieben: „Mir kommt Trakl immer wieder vor wie der Bruder von Hölderlin kurz vor dessen Umnachtung.“ Es folgen „Im Frühling“, „Landschaft“, „Verfall“ und „Im Herbst“ von Trakl, ich hatte sie alle erst gestern gelesen. An sechster Stelle steht „vergl. Rilkes Herbsttag. Herr es ist Zeit“. Gemeint ist natürlich „Herbstgedicht“, auch das kann ich auswendig. „Ruh und Schweigen“ sowie „Grodek“ sind dann wieder Titel von Trakl-Gedichten.
Nur „Grodek“ (Jachym schreibt es Groddek) kannte ich nicht und schlug es nach. Es erinnert an die Schlacht von Grodek in der jetzigen Ukraine, was mich richtig erschreckte. Jachym hat den Krieg gehaßt. Weiß er drüben in der Anderswelt, dass in der Ukraine heute wieder ein Krieg tobt? Trakl hatte die Schlacht dort im September 1914 als Apotheker in einem Feldlazarett erlebt, wo er sich durch fehlende Medikamente nicht in der Lage sah, das schreckliche Leid der Schwerverletzten zu lindern. Die Erfahrung hat ihn sicher traumatisiert. Jachym notiert dazu, dass es 90 Schwerverletzte gewesen seien und Trakl danach einen Selbstmordversuch unternommen habe. Es war Trakls letztes Gedicht. Er starb im November desselben Jahres an einer Herzlähmung in Kombination mit einer Überdosis Kokain, ob Versehen oder Absicht, ist ungeklärt. „Alle Straßen münden in schwarze Verwesung.“ Jachym hat dieses Gedicht genau verstanden, denn er war ja selbst Lazarettarzt im zweiten Weltkrieg. Ich verstehe, warum es für ihn so wichtig war. Wir führen eine Art Zwiegespräch jenseits der Zeit. Er zeigt mir seine Gedanken, ich lese sie und schreibe darüber.
In einem der alten Speicherkartons fand ich vor kurzem in einem vergilbten Umschlag zwei Portraits eines Mannes, der mir sehr bekannt vorkam. Ich wurde richtig aufgeregt, denn ich wusste gleich, dass es nur Jachyms Vater sein konnte. Mein Mann hatte die Bilder noch nie gesehen. Gustav Leidel sieht Jachym wirklich sehr ähnlich, hat den gleichen ironischen Blick, sein Gesichtsausdruck wirkt etwas spöttisch, vielleicht auch ein klein wenig selbstgerecht. Wer war dieser Mann, der so jung verstarb – genau wie sein Vater Karl (mit vierzig) und später sein Sohn (mit siebenundvierzig)? Die Informationen sind spärlich, auch nachdem ich mir den Familienstammbaum genau angesehen habe.
Georg Gustav August Leidel wurde am 12.10.1876 in Berlin als Sohn des Vergolders Karl Gustav Vincent Leidel geboren und starb am 9.1.1917. Jachym war erst zwei Jahre alt, als er seinen Vater verlor, und hatte sicher kaum Erinnerungen an ihn. Georg Leidel war ebenfalls Arzt, zunächst praktischer Arzt, wahrscheinlich praktizierte er in Berlin, wo er auch geheiratet hat, und arbeitete später als Schiffsarzt. Aber er starb nicht auf hoher See, sondern zu Hause in Angermünde, wie ich dem „Familienbuch“ entnehme.
Ich habe eine praktische Handy-App namens Photomyne, mit der man alte Fotos scannen kann, sie werden dabei automatisch verbessert und zugeschnitten. Mit einem Klick lassen sie sich sogar einfärben, was bei Georg Leidel zu einem eindrucksvollen Ergebnis führte. Sekundenschnell wurde seine Uniform blau. Wenn man das Bild am Computer sehr stark vergrößert, erkennt man den Äskulapstab am Revers und das Schiff an der Mütze. Falls ich noch Zweifel an seiner Identität gehabt hätte, wären sie spätestens in diesem Moment verschwunden. Der Schiffsarzt! Endlich hatte ich ihn gefunden!
Aus den Erzählungen meines Mannes weiß ich, dass Georg Leidel (genau wie später sein Sohn) seine Anstellung als Arzt durch einen dramatischen „Eklat“ verlor. Bei einem Ärztetreffen weigerte sich Gustav, einen Toast auf den damaligen Kaiser Wilhelm II. auszubringen, mehr noch, er hielt es nicht mal für nötig, sich zu Ehren des Herrschers zu erheben und äußerte sich dabei auch noch despektierlich zu dessen Person. Falls er die geballte Wortgewalt seines Sohns und Enkels besessen hat, dann muss der Satz mitten ins Schwarze getroffen haben. Man war empört. Der Skandal war perfekt. Ich bin mir nicht sicher, ob ich sein Verhalten bewundern soll oder nicht. Wie Jachym hatte er offenbar keine Lust, seine Überzeugungen zu verraten und mit dem Strom zu schwimmen oder sich aus welchen Gründen auch immer zu verbiegen oder zu verstellen. Er tat in einem entscheidenden Moment seines Lebens genau das, was er für richtig hielt, möglicherweise ohne zu überlegen, und setzte alles damit aufs Spiel. Seine Karriere, seine Zukunft, das Schicksal seiner Familie, seinen Ruf. War das mutig? Wagemutig? Unvernünftig? Tollkühn? Unverschämt? Dumm? Überheblich?
Die Strafe nach einer derartigen Respektlosigkeit gegenüber der höchsten Obrigkeit folgte auf dem Fuße. Der praktische Arzt Gustav Leidel wurde fortan geächtet, musste seine Praxis schließen, musste weg aus der Stadt. Wahrscheinlich zog er kurz darauf nach Angermünde, doch das ist nur eine Vermutung. Er nahm sich jedenfalls komplett aus der Schusslinie. Er verschwand von der Bildfläche und wurde Schiffsarzt – möglicherweise auf einem Frachtschiff – und bereiste in dieser Funktion das „Chinesische Meer“, wie die Region damals in Wilhelminischen Zeiten genannt wurde. Mehr ist mir über seine berufliche Laufbahn nicht bekannt.
Es gibt eine kleine Specksteinfigur, die er von seinen Reisen mitgebracht hat und die sich noch in unserem Besitz befindet. Wir nennen sie „den reitenden Affen“.
Wilhelm II. von Preußen war von 1888 bis 1918 deutscher Kaiser, Jachym wurde 1915 in Angermünde geboren, der kaiserfeindliche Zwischenfall muss also vor dieser Zeit stattgefunden haben. Mehr habe ich bisher nicht klären können, doch sicher ruhen hier im Haus noch weitere Hinweise in den Tiefen unserer übervollen Schubladen.
In einem zweiten Umschlag waren Kinderfotos, und zu meiner großen Freude erkannte ich auf einem Jachym. Es gibt so gut wie keine Bilder aus seiner Kindheit. Er hatte aus der ersten Ehe seiner Mutter vier ältere Geschwister, die älteste Schwester, von der ich einige äußerst unangenehme Briefe gefunden habe, war überaus moralisch und dominant. Ich fand auch ein Bild seiner Mutter, und sie ist mir auf den ersten Blick unsympatisch. Jachym hatte später keinen Kontakt mehr zu seiner Familie, und die wenigen Treffen mit der Oma, an die sich mein Mann erinnern kann, verliefen unharmonisch. Jachym war beim letzten Treffen so verärgert, dass er einen Stapel Geschirr auf dem Boden zerschmetterte und aufgebracht das Haus verließ. Wie genau seine Mutter ihn so gereizt hat, habe ich noch nicht herausgefunden, aber ich bin ja noch nicht fertig mit meinen Recherchen.