Früher war die Wohnungssuche äußerst mühselig, besonders für Studenten (dieses Problem ist offenbar geblieben, aber zumindest gibt es heute Immo Scout). In den 1970er und 1980er Jahren gab es weder Mails noch Internet und die meisten von uns hatten nicht mal ein eigenes Telefon, also blieben uns nur öffentliche Telefonzellen, die Vermittlung des ASTA/Studentenwerks (heute natürlich Studierendenwerk) und das schwarze Brett in der Mensa, wo regelmäßig Zimmer und Wohnungen angeboten wurden, sowie die Kölner Tageszeitungen, die mittwochs und samstags seitenweise Mietangebote abdruckten. Um einen der begehrten Besichtigungstermine zu ergattern, musste man sich bereits dienstags- oder freitagsabends zu Dumont in der Breite Straße begeben, um bei Wind und Wetter für die frisch gedruckte Ausgabe Schlange zu stehen, was eine gefühlte Ewigkeit dauerte, aber man lernte dabei gelegentlich auch nette Leute kennen oder traf alte Bekannte. Am besten ging man zu zweit, eine Person besorgte die Zeitung, während die andere mit genügend Münzen in der Tasche eine Telefonzelle in der nahegelegenen Ladenstadt blockierte oder, netter gesagt, „reservierte“.
In meinem Fall war die zweite Person meine damals beste Freundin Karla. Wir waren während unserer gesamten Studienzeit nahezu unzertrennlich, haben uns inzwischen aber seit fast dreißig Jahren aus den Augen verloren. Unsere Zimmersucheinsätze waren häufig, erfolglos und frustrierend. Die meisten Wohnungsanbieter hoben nicht ab oder waren dauerbesetzt, weil sie den Hörer neben den Apparat gelegt hatten oder mit anderen Interessenten redeten. Die wenigen, zu denen man durchdrang, waren verärgert, weil man sie zu dieser Uhrzeit oder überhaupt störte, oder teilten einem unfreundlich mit, dass man zu spät komme oder dass sie keine Studenten als Mieter wollten. Ich kann mich nicht mehr erinnern, ob wir Karlas Wohnungen auf diese Weise fanden, wohl aber an unseren Frust an den Suchabenden. Meistens endeten wir danach im „Bepi“ und trösteten uns mit Pizza, Lasagne oder Tortellini alla Panna.
Karlas erstes Zimmer war möbliert und lag strategisch äußerst praktisch in Klettenberg. Genau an der Endhaltestelle der Straßenbahn, die dort im großen Bogen dreht und anschließend in die Stadt zurückkehrt. Zu dem mittelgroßen, leider ziemlich dunklen Raum gehörte ein großzügiger gemauerter Balkon, von dem aus man (unsichtbar, beide) Melonenkerne auf den gewöhnungsbedürftigen Sohn der Vermieter schnipsen oder laut und durchdringend wie eine Katze (nur ich) miauen konnte, woraufhin unten im Garten sämtliche Menschen aufgeregt hin und her liefen und wie wild nach dem vermeintlichen Tier suchten, während wir in unsrem Versteck leise kicherten. Im Haus gegenüber wohnte ein Pärchen, das wir Romeo und Julia nannten, denn genauso verhielten sie sich, gut sichtbar für alle interessierten Zuschauer. Ich glaube, sie legten es darauf an, beobachtet zu werden, denn sie zogen die Vorhänge und Gardinen nie zu. Im Sommer waren sie mitunter auch gut zu hören.
Auf Karlas Balkon trank ich zum ersten Mal Rotwein, war zum ersten Mal beschwipst und fand das Leben schlagartig ungemein erheiternd und sorgenfrei. Wenn ich mich recht erinnere, hatte ich dabei sogar eine merkwürdige Vision, in der weiße und blaue Seelen munter im Wind an einer Wäscheleine flatterten, womit Karla mich tagelang aufzog. Da ich die Zahl der Weinflaschen, die ich insgesamt in meinem Leben konsumiert habe, an einer Hand abzählen kann (meine Alkoholunverträglichkeit lässt sich nur bei Gin gelegentlich auf Kompromisse ein), ist die in Karlas Beisein getrunkene Menge lebenslaufmäßig geradezu beachtlich und mir daher gut in Erinnerung. Normalerweise bekomme ich schon von homöopathischen Mengen Hautausschlag, Kopfschmerzen und Herzrasen. Nicht so an jenem Abend auf dem Balkon. Karla hatte gekocht, ich glaube, ein Nudelgericht, und ich weiß noch, wie angenehm entspannt ich mich fühlte. Ich wüßte gern, wie dieser Wunderwein hieß.
Der Raum war spartanisch möbliert und Teil einer Art WG, die von einer sehr netten anderen Studentin und dem gewöhnungsbedürftigen Sohn der Vermieter mitbewohnt wurde, es gab kein Telefon und nur ein gemeinsames Bad im Flur. In Karlas Zimmer gab es zwar fließend Wasser, aber leider keine Kochnische. Karla organisierte sich schon bald zwei Kochplatten und hatte die geniale Idee, dahinter und darüber alles aufzuhängen, was sie ärgerte, suboptimale Scheine von der Uni, kryptische Bescheide von Ämtern und unsensible Briefe von Leuten, die sie nicht mochte. Mit der Zeit war ihre Collage über und über mit Fettflecken bedeckt, was nicht nur interessant anzusehen war, sondern auch der verletzten Seele ungemein guttat. Ich weiß nicht mehr genau, ob Karla schon in dieser Wohnung anfing, Schildkröten zu sammeln, weil der Mann, den sie liebte, mich an eine Schildkröte erinnerte und wir ihn daher Turtle nannten. Auf jeden Fall denke ich beim Anblick von Schildkröten bis heute sofort an sie. Und an ihn.
Karlas Zimmer waren immer voller Musik, in jener ersten Wohnung sangen Wolf Biermann, Hannes Wader, Joni Mitchel und Arlo Guthrie für uns, aber vor allem André Heller und Leonard Cohen. Letzteren hatten wir gemeinsam an einem dunklen kalten Abend in der Cinemathek entdeckt. Es war Karlas Idee gewesen, sich den Film „Bird on a Wire“ anzusehen, auf dem Weg dorthin meinte sie noch entschuldigend: „Der gefällt dir bestimmt nicht!“ Nie hat sie falscher gelegen! Leonard Cohen wurde meine große Liebe und ist bis heute mein favourite Singer Songwriter, nur seine letzten Alben mag nicht, weil ich die grabestiefe, trockene alte Stimme nicht ertrage. Sie deprimiert mich, klingt nach klebrigen Mundwinkeln und macht mir Angst vor Alter und Tod. Die junge, sehnsuchtsvolle Stimme dagegen hat bis heute nichts von ihrem knisternden Wallungsfaktor eingebüßt und mich im Laufe meines Lebens oft getröstet und verstanden und bei mindestens zwei meiner männlichen Freunde zu erschreckend heftigen Eifersuchtsanfällen geführt. Eifersucht auf eine STIMME! Ich habe ihn bisher trotzdem immer und überall bei mir gehabt, lange hing sogar ein Portrait von ihm an meiner Wand. Mit Karla hörte ich vor allem seine frühen Platten „Songs of Leonard Cohen“ und „Songs from a Room“.
Das Bett in der Klettenberger Wohnung stand auf dünnen Wackelbeinen, man hatte ein wenig Sorge, es durch eine unbedachte Bewegung zum Zusammenbruch zu bringen, doch es erwies sich letztendlich als erstaunlich robust. Zum Glück hatte Karla eine extra Matratze, wenn es zu spät, zu unbequem oder zu gefährlich war, um allein mit der Straßenbahn heimzufahren. Also relativ häufig. Ich wohnte zu dieser Zeit noch in dem katholischen Studentinnenheim mit der strenger Hausordnung in der Nähe des Volksgartens, von dem ich bereits geschrieben habe, zuerst im Doppelzimmer, später in einem im Sommer stark überhitzten Einzelzimmer unter dem Dach, wo bei höheren Außentemperaturen die Luft stand und die Kerzen nur so dahinschmolzen. Männliche Besucher waren im Heim ausdrücklich unerwünscht und durften eigentlich nur im Gemeinschaftsraum im Keller getroffen werden. Feste Freunde waren damit in den meisten Fällen so gut wie erledigt und blieben dem Ort freiwillig fern. Mit einer Ausnahme: Es gab eine Studentin, die ein großes Eckzimmer bewohnte und gleich zwei Partner hatte, die voneinander nichts ahnten und sich nach einem genial ausgeklügelten Plan regelmäßig zu unterschiedlichen Zeiten bei ihr einfanden. Es funktionierte perfekt, und wir haben sie alle heimlich beneidet. Ich habe mich oft gefragt, wie sie es geschafft hat, dass sie nie bei der Heimleitung verpetzt wurde und dass ihr Doppelleben nie aufflog.
Die wenigen Male, die Karla bei mir übernachtet hat, gab es jedenfalls mehrfach ärgerliche „Zwischenfälle“. Einmal wurde die Heimleiterin gerufen, weil ich zwei Tassen aus meinem Küchenfach mit in mein Zimmer genommen hatte. Ich war allein in der Küche, nahm wie immer die geniale Abkürzung durch Sakristei und Kapelle (direkt neben meinem Zimmer) und habe während der ganzen Zeit keine Menschenseele gesehen. Trotzdem muss es eine Spitzelin gegeben haben, ich hegte auch einen gewissen Verdacht, konnte aber nichts beweisen. Die Heimleiterin betrat schon kurz darauf nach höflichem Anklopfen das Zimmer, um sich zu vergewissern, dass auch nichts Anstößiges im Gange war, sah uns harmlos beim Tee sitzen, entschuldigte sich peinlich berührt und verschwand. Nicht auszudenken, wenn Karla ein männliches Wesen gewesen wäre. Nach neun Jahren Klosterschule und drei Jahren katholischem Studentinnenheim war ich übrigens recht lange ziemlich paranoid, und ich schaue mich bis heute immer noch mißtrauisch um, bevor ich etwas Unnettes über andere Leute sage.
Während der Einzelzimmerzeit machte es abends deutlich mehr Spaß, nach Kino- oder Theaterbesuchen gemeinsam mit zu Karla nach Klettenberg zu fahren als allein in das schräge Zimmer zurückzukehren, denn sie konnte im Gegensatz zu mir gut kochen, hatte genug Platz und einen eigenen Plattenspieler. Zudem war ihr Zimmer auch im Sommer angenehm kühl. Es war eine ganz besondere Stimmung, wenn Leonard Cohen in der Dunkelheit von weither ganz allein nur für uns sang. „Suzanne“, „Winter Lady“ und „So long Marianne“ waren damals meine besonderen Favoriten. Das letzte dieser Lieder hat, ich muss es zu meiner großen Schande gestehen, tatsächlich einmal (von der richtigen Person gesungen) eine eigentlich bis dahin intakte Beziehung schlagartig und nachhaltig ruiniert, doch das ist eine längere, ziemlich komplizierte Geschichte. Auch der klagende Wienersound von André Hellers Musik und Poesie beamt mich bis heute zurück in Karlas Zimmer, doch diese Musik höre ich bewußt nur selten, denn sie ist so eng mit Karla verknüpft, dass sie mich traurig macht. Besonders gern hatten wir beide „Schön ist’s ein Narr zu sein“, das ich bis heute auswendig kann. „Die Narren des Königs saßen am Ufer der Nacht, lauschten dem Tamburin des Mondes, das die Stille bewacht. Sie zogen den Schnee mit Netzen ans Land und schmückten ihn mit Dukaten. Und ihre Kappen leuchteten, wie Segel von Piraten.“
Bei Karla sprachen und sangen die Dichter, allen voran Bert Brecht. Besonders oft hörten wir in meiner Erinnerung die „Ballade von der Hanna Cash“, gesungen von Hannes Wader. Einige Zeilen daraus sind mir im Kopf geblieben: „Das war die Hanna Cash mein Kind, die die Gentlemen eingeseift, sie kam mit dem Wind und sie ging mit dem Wind, der durch die Gassen läuft“. Ich höre noch Hannes Waders Stimme und seine Gitarre: „Und sie war wie eine Katze in die große Stadt geschwemmt, eine kleine graue Katze, zwischen Hölzer eingeklemmt, zwischen Leichen in die schwarzen Kanäle“. Auch der „Barbarasong“ hat ein fernes Echo, diesmal ist es eine Frauenstimme: „Ach, es schien der Mond die ganze Nacht, Und es ward das Boot am Ufer losgemacht, Und es konnte gar nicht anders sein. Ja, da muss man sich doch einfach hinlegen, Ja, da kann man doch nicht kalt und herzlos sein! Ja, da musste so viel geschehen, Ja, da gab’s überhaupt kein Nein.“ Auch die Seeräuber Jenny lässt in meiner musikalischen Erinnerung bis heute die Köpfe rollen.
Karla gab ihr kühles Klettenbergzimmer auf, als wir Köln verließen, um als Assistent Teachers in England zu arbeiten. Dort trennten sich unsere Wege vorübergehend, doch wir blieben telefonisch und brieflich in Kontakt und trafen uns regelmäßig in London oder bei mir in Gravesend. Karla wohnte leider bei einer arg gestörten Gastfamilie, deren männliches Oberhaupt sich selbst für „tall, dark, and handsome“ hielt. Tall und dark war er tatsächlich. Handsome eindeutig nicht. Not at all!
Zurück in Köln waren wir wieder zusammen. Bis eines Tages der Schnee in unsere Seelen fiel und wir einander aus für mich unerklärlichen Gründen gänzlich und wohl für immer verloren.