Abschied

Jan (BFL)

Jetzt ist genau das passiert, wovor ich schon seit Jahren Angst hatte. Mein Mann ist gestorben. Noch meine ich, ihn überall im Haus zu spüren, besonders in seinem Arbeitszimmer und im Schlafzimmer, das er in den letzten Tagen seines Lebens nicht mehr verlassen konnte, den Blick stets auf die tröstlichen hohen Kiefern am Ende des Gartens gerichtet. Das waren seine Bäume. Von meiner Seite aus sehe ich sie gar nicht, ich sehe nur die Hainbuchen und den riesigen Perückenstrauch und auf der anderen Seite den großen alten Hasel und den jungen Holunder. Ich weiß, dass er oben in den Spitzen seiner Kiefern zwei kleine Hähne sah, die sich aufgereckt gegenüberstanden. Einmal habe ich die Bäume eigens deswegen fotografiert und wir haben uns die Figuren gemeinsam angesehen. Seitdem sehe ich sie auch. Damals habe ich ihm auch die riesige Taube gezeigt, die ich in der rechten Baumspitze erkenne und die ihm bis zu jenem Tag nie aufgefallen war. Wir hatten oft unterschiedliche „Blicke“ und haben sie dann miteinander geteilt. Komischerweise sah er eher die kleinen Dinge und ich die großen. Ich weiß noch, wie wir an einem englischen Strand nach Muscheln und Schneckenhäusern suchten und er nur winzige fand und ich nur riesige. Auch hier haben wir uns perfekt ergänzt. Wenn etwas besonders groß war, „übersah“ er es meistens. Als ich ihm zum 70. Geburtstag eine Büste von Königin Louise schenkte, die zu seinen besonderen Lieblingen gehörte, ließ ich sie mit ihrem Sockel schon einige Tage vorher unten im Garten aufstellen, weil sie so schwer war, dass ich sie allein nicht mal von der Stelle bewegen konnte. Ich war mir ziemlich sicher, dass er sie „übersehen“ würde. Ich hatte recht und wir haben später oft zusammen darüber gelacht.

Nun hat mich mein Seelengefährte verlassen müssen, und ich versuche, mich einzurichten in dem halbierten Leben ohne ihn, aber es fällt mir schwer. Draußen kündigt sich bereits der Frühling an, die Zeit der schönen jungen Persephone, die Beete sind schon bunt getupft, die Vögel singen in der Früh, die Luft ist frisch und mild. Als Jan starb, saß unser Rotkehlchen, das sich normalerweise morgens am liebsten hinten im Garten aufhält, genau unter seinem Fenster und schmetterte sein Morgenlied. Im keltischen Mythenkreis sind Rotkehlchen „messenger birds“ aus der Anderswelt. Nach drei schweren Tagen und Nächten holte ihn der Tod bei Anbruch des Morgens sanft und leise. Jan hörte einfach auf zu atmen. Als sich seine Züge entspannten, lag ein erstauntes Lächeln auf seinem Gesicht, das plötzlich aussah wie das eines alten weisen Königs auf einem Sarkophag, und es wirkte so, als habe er gerade etwas Wunderschönes gesehen. Sein Lächeln habe ich immer besonders geliebt und war froh, dass ich es noch ein letztes Mal sehen konnte.

In den Tagen vorher hatte ich ihm viele Geschichten erzählt, überzeugt davon, dass er mich auch durch das Morphium, das in seinem Körper kreiste, noch hören konnte. Ich lag neben ihm auf dem Bett und hielt seine Hand, doch in meiner Fantasie flogen wir hoch oben in den Lüften gemeinsam zu unseren Lieblingsstellen, zu den Steinkreisen auf Orkney, zu mächtigen Dolmen, Hügelgräbern und zu Druidenhainen, wo an den Fairy Thorns die guten Wünsche flatterten und kleine Glöckchen sangen, zu den uralten riesigen Sequoias in Nordamerika, zwischen denen man sich ehrfürchtig und winzig vorkam wie in einem gigantischen Naturdom mit riesigen Baumpfeilern. Wir besuchten den von einer hohen Mauer umgebenen  japanischen Mitternachtsgarten mit dem stillen See und den steinernen Trittstufen, und kamen zum Schluss immer wieder ans Ende des Meeres und der Welt, wo wir uns im Sand ausruhen und die flackernden Nordlichter am Himmel bewundern konnten.

Für die Trauerkarte hatten wir uns schon lange im Voraus einen Satz ausgesucht, den wir beide lieben. Er stammt aus „Ferien auf Saltkrokan“, einem Kinderbuch von Astrid Lindgren, das er mir oft abends vorgelesen hat, und ist die schwedische Übersetzung eines bekannten Psalms. Vertraut, aber dennoch anders. Er wird hoffentlich eines Tages auch auf meiner Trauerkarte stehen.

„Nähme ich die Flügel der Morgenröte, machte ich mir eine Wohnung zuäußerst am Meer.“

Wir haben uns diesen Ort oft vorgestellt und ausgemalt und auch den hohen weiten Flug bis ans Ende der Welt auf den mächtigen starken Morgenschwingen. Ich hoffe inständig, dass wir uns dort eines Tages wiederfinden. Nur wir beide. Ganz allein. In der Wohnung zuäußerst am Meer.

Vielleicht begegnen wir uns aber auch vorher noch, in einem anderen Leben, falls es so etwas gibt, worauf einiges hindeutet, und erkennen einander in den neuen Körpern ebenso schnell und mühelos wie in diesem Leben. Wieder wird es merkwürdige unerklärliche Zeichen und Fügungen geben, die uns den Weg zueinander weisen. Wir werden uns sehen und auf einander zugehen, und wenn wir uns das erste Mal umarmen, wird sich die Welt zurechtrücken und alles, was bisher schwierig war, wird an den richtigen Platz fallen und leicht werden. Wir werden uns selbst genügen, uns endlich vollständig fühlen und so lange unzertrennlich sein, bis einer von uns gehen muss, auch wenn er lieber bleiben würde. Genau wie in diesem Leben. „Ich möchte noch nicht gehen“, sagte Jan noch wenige Tage vor seinem Tod. „Ich will doch bei dir sein.“

Jetzt bin ich allein und unvollständig, aber einsam bin ich noch nicht. Denn noch fühle ich meinen Mann in meiner Nähe, was mich oft erstaunlich ruhig und zuversichtlich macht, und hoffe inständig, dass er noch möglichst lange bei mir bleiben kann. Ein wenig spüre ich sogar manchmal die große Gelassenheit in mir, für die ich ihn immer so bewundert habe. Vielleicht war das sein letztes Geschenk für mich.

Steinkreis auf Orkney

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