Das Bedürfnis zu schreiben kehrt langsam und zaghaft zurück, doch ich muss es irgendwo verankern, wo ich mich unbelastet fühle, damit mich die Traurigkeit nicht gleich wieder lähmt. Manchmal hilft es, zwischendurch in eine andere Zeit mit anderen Menschen abzutauchen, um den Mann, der mir so unendlich fehlt, zumindest für kurze Zeit zu vergessen. Heute denke ich mich zurück in die USA, in die meine Blicke ohnehin in letzter Zeit oft wandern. Mit zunehmender Hoffnung, denn ich mag Kamala Harris und Tim Walz. Ich glaube, sie hat die richtige Wahl getroffen, vielleicht schaffen sie es trotz des turbulenten, hastigen Wahlkampfs gemeinsam ins Weiße Haus.
Der Blick in die Vergangenheit trägt mich nach Kalifornien, es ist Ostern 1989. Ich bin mit jemandem hier, von dem ich mich längst getrennt habe und mit dem mich kaum noch etwas verbindet, aber diese Reise machen wir noch gemeinsam, damit wenigstens etwas Schönes bleibt. Wir sind in Inverness, das zur Point Reyes National Seashore gehört, einem eindrucksvollen Schutzgebiet an der Pazifikküste. Point Reyes ist eine höchst ungewöhnliche Halbinsel, die hier eigentlich gar nicht sein sollte, sondern südlich, auf der Höhe von Los Angeles, doch Erdbeben und die Verschiebungen der Erdkruste haben sie im Lauf der Zeit an der Westküste tatsächlich 500 km hoch nach Norden bewegt.
Point Reyes liegt auf der Pazifischen Platte, die sich hier unmittelbar an der Nordamerikanischen Platte reibt, verbunden durch die San-Andreas-Verwerfung, die aussieht wie eine riesige Narbe, auf der man auf dem Earthquake Trail sogar wandern und die schönen Wapiti Hirsche beobachten kann. Aber es ist ein seltsames Gefühl, und so ganz werde ich die Angst vor einem Erdbeben auch nicht los. Irgendwie ist diese Landschaft lebensgefährlich. Und schön.
Der März ist kühl und morgens und abends wehen dünne Nebellaken und Weißwolken durch die Luft. Wenn man nach draußen schaut, sieht alles unwirklich aus. Wir verbringen zusammen mit zwei amerikanischen Freunden die Feiertage in einem rustikalen Blockhaus, das auf Stelzen steht und so viele große Glasfenster hat, dass es mir unheimlich ist, weil ich mich unablässig beobachtet fühle. Besonders nachts. Ich meine, draußen in der Dunkelheit lauter schwach leuchtende gelbe und grüne Augenpaare zu sehen, und ganz sicher streifen hier auch zahlreiche Tiere vorbei, vor allem Waschbären, die nachts sogar direkt unter dem Haus rumoren. Zumindest hoffe ich, dass es nur Waschbären sind. Ich traue mich im Dunkeln kaum aus dem Bett. Schon gar nicht ins Bad, das ebenfalls ein riesiges Glasfenster ohne Vorhänge und eine große Glastüre hat. Ich wage nicht, das Licht anzumachen, damit man mich nur ja nicht sieht. Wer weiß, ob nicht auch Monster oder Mörder da draußen herumlungern und mit hungrigem Blick hereinstarren. Die Assoziationen sind höchst unangenehm, denn ich habe schließlich oft genug Alpträume, in denen Bäder oder Zimmer mit durchsichtigen Wänden vorkommen, daher läuft meine innere Alarmanlage auf Hochtouren.
Am Ostersonntag machen wir eine weite Wanderung bis hinunter zum Leuchtturm, wo man mit etwas Glück die riesigen Grauwale vorbeiziehen sehen kann. Doch wir begegnen an diesem Tag nur schnellen Wapitis, brüllenden kalifornischen Seelöwen und krächzenden Raben. Stundenlang sind wir hoch oben auf den Klippen, am Ende bin ich so müde, dass ich kaum noch gehen kann.
Die Bäume, zwischen denen das Blockhaus liegt, erinnern mich an die alten weisen Ents aus Tolkiens „Herr der Ringe“, und fast erwarte ich, dass sie sich bewegen und immer näher ans Haus heranrücken. Sie sehen aus wie magere greise Waldwesen und haben lange grüne Flechtenbärte, die im Wind flattern und fast bis auf den Boden reichen. Morgens hört man den Nebeltau schwer und laut heruntertropfen. Im Inneren des Stelzenhauses ist trotz der Osterkälte noch recht warm, denn wir haben einen riesigen offenen Kamin, in dem der amerikanische Freund abends das Holzfeuer anzündet. Trotzdem ist die Unterseite meiner Matratze, die auf dem Boden liegt, am Morgen so feucht, dass wir sie umdrehen und trocknen lassen müssen. Das Blockhaus erinnert mich an eine riesige offene Scheune, geräumig und lichtdurchflutet. Riechen kann ich selbst vom Feuerrauch nicht viel, denn meine Nase ist völlig zu. Ich habe mir im kalt klimatisierten Flugzeug eine Erkältung eingefangen, die kurze Zeit später in der trockenen Wüstenhitze spontan verschwinden wird, doch das ahne ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Einer der Gründe, warum ich die kalifornischen Wüsten so liebe. Besonders Death Valley, denn da vertrocknete die Erkältung.
Draußen vor dem Blockhaus hängen Wind Chimes, die beim leisesten Luftzug sanft und meditativ klingeln, und für mich ist ihre Musik so angenehm, dass mir dabei Schauern über den Rücken rieseln. Fast fühlt es sich an, als würden die Töne meine Haut zärtlich kitzeln. Es ist ein großes Windspiel, es hängt gleich vor dem Haus, und erst als ich es näher betrachte, entdecke ich den kleinen Grauwal-Anhänger aus Metall. Ach, hätte ich nur auch so ein Windspiel, denke ich und halte fortan in allen Läden Ausschau danach, doch ich werde nicht fündig. Inzwischen habe ich hier im Garten gleich mehrere Wind Chimes aus den USA, von einem Hersteller, der Woodstock heißt, leider alle ohne Wal, und auch ein kleines deutsches gleich vor dem Fenster. Es heißt „Elfenreigen“ und klingt auch so. Ich habe eine milde Synästhesie (Verknüpfung von mehreren Sinnen), was Töne und Musik betrifft, und nehme Klänge und Stimmen nicht nur mit dem Gehör, sondern auch mit dem Körper wahr, an sehr unterschiedlichen Stellen, meistens ist es eher lästig und unangenehm. Schlagzeuggewitter und Rap, Karnevalsschlager und jede Art von lauter oder aggressiver Musik können mein Herz gefährlich aus dem Takt und meine Laune zum Überkochen bringen und Opern und E-Gitarren machen mir mitunter migräneartige stechende Kopfschmerzen. Manche Stimmen bohren sich mir gar spitz und stechend ins Gehirn. Doch es gibt Ausnahmen. Wenn Mark Knopfler E-Gitarre spielt, fühlt es sich angenehm an, und das durchaus heftige Schlagzeug in „Bridge over Troubled Water“ und „In the Dutch Mountains“ versetzt mich geradezu in Entzücken. Richtig bemerkt habe ich meine Synästhesie erst, als ich durch Covid nicht mehr riechen und schmecken konnte und mich bewusst mehr auf meine anderen Sinne konzentriert habe. Ich habe damals sehr viel Musik gehört, und irgendwann fiel mir auf, dass ich offenbar gänzlich anders wahrnehme als die Menschen um mich herum. Heute genieße ich diese Eigenheit durchaus. Musik kann sehr heilsam sein, auch beim Trauern. Man muss nur die richtige Musik auswählen. Am besten die aus einer anderen, unbelasteten Zeit. Es gibt Stimmen und Lieder, die mich im Moment völlig aus der Fassung bringen würden. Ich kann sie ebensowenig ertragen wie den Blick auf den verlorenen Grabhügel. Aus der Point Reyes-Erinnerung höre ich den amerikanischen Freund klar und deutlich bis hierher Gitarre spielen und mit weicher Stimme „San Francisco“ singen. Und schmecke und rieche den frischen Koriander, den er in seiner weißen Küche in Oakland so großzügig in den Salat streut. Koriander habe ich in den letzten Monaten tatsächlich ziemlich häufig gegessen. Es ist offenbar eins meiner Trostkräuter.
An meinem letzten Tag in Point Reyes stehe ich endlich vor dem atemberaubenden Tunnel aus Zypressen. Monterey Cypresses, erklärt der amerikanischer Freund. Gepflanzt wurden sie um 1930 und sind die einzigen großen Bäume, die das raue, stürmische Ozeanklima hier aushalten. Ich betrachte die gebogenen Bäume und denke, dass ich noch nie so etwas Schönes gesehen habe. Aber das denke ich auch, als ich zum ersten Mal die Redwoods und die Sequoias sehe. Und den Grand Canyon und Death Valley. Die Landschaften und Bäume Nordamerikas gehören bis heute zum Eindrucksvollsten, an das ich mich erinnern kann. Selbst wenn ich jetzt nur leise die Namen sage, durchströmt mich ein Glücksgefühl. Seacove Cypress Trees. Moss Beach. Halfmoon Bay. Yosemite. Big Sur. Es gibt ein glückliches Foto von mir in der romantischen Half Moon Bay. Es ist der letzte Abend, es dämmert gerade und ich trage einen dicken warmen braungemusterten Pullover, den meine Mutter mir gestrickt hat. Lange war er mein Lieblingspullover. Bis meine Mutter ihn eines Tages aus Versehen zu heiß gewaschen hat. Danach war er untragbar klein und kratzig und ich hätte ihn am liebsten beweint. Nur auf den Fotos ist er noch so wie er sein sollte. Vielleicht hätte ich ihn selbst geschrumpft und struppig behalten sollen, dann könnte ich ihn jetzt hervorholen und ans Gesicht halten. Sicher würde er immer noch nach Kalifornien und Halfmoon Bay duften. Und nach Zypresse. Monterey Cypress.