Diesmal sinkt der Erinnerungsanker noch tiefer in die Vergangenheit, es ist Ende der 1970er Jahre, mein zweiter Herbst in England. Das Laub leuchtet, meine Wimpern sind nebelfeucht und ich bin mit jemandem zusammen, der noch sehr jung ist und mir niemals wehtun wird. „He has an old soul“, sagt seine Mutter über ihn. „He was always like that, even as a baby.“ Es ist eine tiefe, telepathische Verbundenheit, die leider nur wenige Jahre währt, danach werden wir uns völlig aus den Augen verlieren. Trotzdem finde ich ihn jetzt sofort, höre seine Stimme und sein unbeschwertes Lachen, erkenne seinen besonderen Gang. Er ist sehr groß, sehr schlank, überaus schlaksig und geht ein wenig nach vorn gebeugt wie viele große Menschen. Ein bisschen wie ein Reiher. „You walk like a heron!“ Blaue Augen, schmale Hände, verwuscheltes Haar.
„I want to show you something really special”, sagt er und führt mich durchs Wäldchen am Dorfende. Vorbei am Haus des Schulleiters und dem flammenden Ahorn, vorbei an verwilderten und gepflegten Gärten mit verwitterten Holzschuppen und leeren Kinderschaukeln, vorbei an müden Katzen und kläffenden Hunden. Er leitet mich durch einen dornigen Tunnel aus Brombeerbüschen und wilden Rosenranken, die voller blank polierter Hagebutten hängen. Der Weg ist mühsam, doch dann sehe ich mehrere mächtige Kastanien. Die große Viehweide dahinter mündet in einen Eichenhain, der überraschend aus dem nebeligen Nichts auftaucht. Wie eine Fata Morgana, denke ich. Eben war er doch noch gar nicht da? Zwischen den Kastanien führt ein uralter Holztritt über den Weidezaun. Solche public footpaths durch Felder und Weiden findet man häufig hier in England, die kleinen Treppenstufen oder Leiterchen heißen stiles. Es gibt sie nicht nur aus Holz, sondern auch aus Stein, und gelegentlich führen sie in die Anderswelt. Wir steigen hinüber, er hilft mir, denn ich zaudere, weil mir die vielen Kühe Respekt einflößen. Hand in Hand gehen wir zwischen den Tieren hindurch, die sich nicht aus der Ruhe bringen lassen. Man muss nur aufpassen, wo man hintritt. „Mind the cowpats, darling.“ Ich mißtraue den Kühen immer noch, weil sie allzu groß und nah sind, doch sie blicken uns nur gelassen aus sanften Augen an.
Als wir uns den Eichen nähern, bleibt er stehen und sagt ein wenig verlegen: „That’s it. My secret place. Paradise.“ Die Bäume müssen uralt sein, knorrig und riesig wie sie sind, einige tragen imposante Mistelbüsche. Viscum album, mystischer Schmarotzer zwischen Himmel und Erde. Hexenbesen. Zaubertrank. Fruchtbarkeitsbringer. Beerenzweige zum Küssen. Fehlen nur noch feierliche weiß gekleideten Gestalten mit Silbersicheln.
Als wir weiter gehen, verändert sich mit einem Mal die Atmosphäre, es wird kühler und stiller, der Ort scheint kurz den Atem anzuhalten, und schließlich umfängt er uns mit unendlich wohltuender Ruhe. Wir haben einen gesegneten Ort betreten, ein geheimes Heiligtum, das uns wohlwollend aufnimmt, vor der Welt schützt und alle belastenden und beunruhigenden Gedanken verschwinden läßt. Mir fallen die „Four Quartets“ von T.S. Eliot ein. At the still point of the turning world. Where the dance is. And only the dance. Where past and future are gathered. So muss sich die Ewigkeit anfühlen. Die Zeit ist aufgehoben.
Paradise ist der erste thin place, den ich je betreten habe. Ein Ort, an dem sich die Welten treffen. Die unsere und die jenseitige. Wir können nicht sehr oft dort sein, denn ich wohne nicht in seinem Dorf. Als ich viele Jahre später unser Paradise gesucht habe, war es verschwunden. Wahrscheinlich hat man die heiligen Bäume gefällt, um dort Häuser zu bauen. Oder hat es diesen Ort möglicherweise nie wirklich gegeben?
Nachdem ich nach Deutschland zurückgekehrt bin, besucht er die Bäume allein. Um Ruhe zu finden, wenn seine Sehnsucht zu stark wird. Weit weg in Köln spüre ich jedes Mal, wenn er dort ist. Doch jetzt macht ihn Paradise traurig. Weil ich nicht bei ihm bin. Was wäre wohl aus uns geworden, wenn wir damals die vielen Kontaktmöglichkeiten der heutigen Zeit gehabt hätten? Es war eine Zeit ohne Whatsapp, Facebook und Handys, ohne eMails und digitale Bilder, ohne Computer. Eine qualvolle Zeit für gewaltsam getrennte Liebende.
Wir können einander nur schreiben und in Gedanken und Träumen suchen. Telefonieren zwischen Deutschland und England ist so teuer, dass wir es uns nur selten leisten können, zudem wohnt er noch bei seinen Eltern und ich zunächst wieder im Studentinnenheim, ohne eigenes Telefon. Schließlich finde ich ein winziges Apartment in der Südstadt. Mit eigenem Telefon. Jeden Abend nehmen wir Kontakt auf, sind aufgeregt, schauen immer wieder auf die Uhr, weil wir wissen, dass der andere in der Ferne wartet. Zuerst läßt er bei mir das Telefon klingeln, dann lasse ich bei ihm das Telefon klingeln. Viermal. Unser Abendritual. Erst danach sind wir beruhigt. Alles ist gut. Er denkt noch an mich. Ich denke noch an ihn. Und unsere Gedanken verbinden sich miteinander. Ganz eng. Irgendwo. Hoch über uns in Raum und Zeit. Das machen wir tatsächlich täglich, vier Jahre lang, und schreiben einander auch täglich, nur kommen die Briefe nicht wie erhofft jeden Tag, sondern oft in der falschen Reihenfolge und als Stapel. Ich habe Hunderte seiner Briefe. Er hat genauso viele von mir, wenn er sie nicht längst fortgeworfen hat. Bestimmt hat er das. Sie waren mein Tagebuch damals, anderen Aufzeichnungen habe ich kaum aus unserer Zeit, daher würde ich sie heute gern noch einmal lesen.
Die feierliche Stille im Druidenhain erinnert mich an die kühle Stimmung in gotischen Kathedralen. Um uns herum wispert die Natur, unter unseren Füßen raschelt das Laub, der Wind schenkt uns Spinnwebfäden und lose Blätter, läßt sie nur für uns taumeln und tanzen. Manchmal greift er mitten ins Laub, wirft es lachend in die Luft und dreht sich glücklich im bunten Blätterwirbel. Manchmal steht er auch ganz still und versunken und schaut in die Ferne wie in die Zukunft. In der Nähe scheint es einen Bach zu geben, ich höre deutlich Wasser murmeln. Ihn freut, dass ich es ebenfalls wahrnehme. „Strange, isn’t it? Because there is no water here!“ Wirklich, weit und breit kein Wasser! Wie ist so etwas möglich? Vielleicht war hier einst eine Quelle? Vielleicht ist sie noch da? Unterirdisch? Der Geruch von Pilzen, Erde, feuchtem und trockenem Laub und die warme Gegenwart der großen Tierleiber. Heute trägt er seinen Norwegerpulli und ich meine weinrote Strickjacke.
Wie immer, wenn wir hier sind, spielen wir „Follow my voice“. Wie lange habe ich daran nicht mehr gedacht.
Ich schließe die Augen, höre ihn fortgehen, es schmerzt, dass er sich von mir entfernt, eine Weile höre ich noch seine Schritte, dann wird es immer stiller und ich bekomme Angst, würde am liebsten die Augen öffnen, weil ich fürchte, dass ihn der geheimnisvolle Ort mit Haut und Haaren verschluckt haben könnte. Denn unter all der Friedlichkeit liegt etwas Unheimliches, das Ehrfurcht gebietet. Ich fühle mich allein und verloren und gleichzeitig auf angenehme Weise aufgeregt, freue mich auf das Ende unseres Spiels, freue mich darauf, ihn zu finden.
Aber ich habe versprochen, die Augen geschlossen zu halten, also warte ich geduldig, bis ich seine Stimme höre, die leise meinen Namen ruft. Immer wieder. Von weither. Dann von sehr weither. Ich strecke die Arme aus wie eine Schlafwandlerin und folge seiner Stimme. Quer über die Weide, ein endloser Gang, keine Ahnung, wo ich gerade bin, ich folge nur seiner Stimme. Meine Füße bewegen sich vorsichtig, denn der Boden ist zwar weich und federnd, doch an einigen Stellen matschig und uneben. Ich könnte stolpern oder ausrutschen. Und überall liegen cowpats, in die ich nicht treten möchte. Merkwüdigerweise passiert das nie. Jetzt kommt seine Stimme aus einer anderen Richtig und ich drehe mich nach links, gehe weiter, bis die Stimme näher und näher klingt und ich mich endlich in seinen Armen wiederfinde. Sein Gesicht ist feucht und kühl vom Herbst und er nimmt mein Gesicht in beide Hände, küßt meine Stirn und meine Haare. Mit einem untrüglichen Sinn, den ich nicht benennen kann, spüre ich seinen Körper immer schon lange bevor ich ihn erreiche. Meine Schritte werden immer sicherer, finden mühelos ihren Weg, als würde mich ein starker Magnet anziehen. Als wir uns jetzt umarmen und halten, bin ich so glücklich, dass es mich fast zerreißt. Grenzenloses Vertrauen, perfect bliss, hier zwischen den Druidenbäumen im englischen Herbst, wo es außer uns keine Menschen mehr gibt, nicht hier und nirgendwo sonst auf der Welt. Der Nebel verwebt uns, bis wir uns in einander auflösen.
Jetzt schließt er die Augen und ich entferne mich, verlasse ihn widerstrebend, schreite zwischen den Tieren hindurch in die fernste Ecke der Weide, direkt unter die Eichen, lehne mich an einen der Stämme. Dort bleibe ich und beschließe, diesmal meine Position nicht zu verändern. Ich rufe ihn und sehe, wie er sich vorsichtig in meine Richtung aufmacht. Anders als sonst schließe auch ich jetzt die Augen, um blind zu rufen, in der absoluten Gewissheit, dass er mich finden wird. Ich möchte herausfinden, ob ich sein Näherkommen tatsächlich spüre, wenn ich ihn nicht sehe, und ja, auch diesmal verstärkt sich das Magnetgefühl, nur dass diesmal ich der Magnet bin und ihn anziehe. Endlich stehen wir einander gegenüber, beide mit geschlossenen Augen, und es passiert etwas überaus Merkwürdiges. Ich spüre, wie zu unseren Füßen Blumen aus dem Boden sprießen. „Can you feel that?“ frage ich verwundert. Seine Stimme lächelt. „Of course. Like a tiny island of blossoms.” Später finde ich eine Postkarte, auf der ein Liebespaar im Schnee steht, nur um ihre Füße herum ist der Schnee geschmolzen und es blühen lauter Frühlingsblumen. Das Bild hing viele Jahre neben meinem Schreibtisch.
Plötzlich meldet sich die Angst. „Do you think we will always stay together? Even after you have gone back to Germany?” Daran will ich jetzt mitten im Glück nicht denken. Dass wir schon bald weit weg voneinander sein werden, weil ich mein Studium noch abschließen muss. Wir werden in unterschiedlichen Ländern sein, ein furchtbarer Gedanke. Ich wehre mich gegen die Angst, will nur an die Liebe glauben, obwohl ich ahne, dass Ferne und Abwesenheit uns auseinander zwingen werden. Ich weiß sehr wohl, dass uns jeder Tag dem Abschied näher bringt, aber ich will auch daran nicht denken. „Don’t go. Please. Don’t go. Why don’t you just stay?“ Ich bin hin und her gerissen. Vielleicht sollte ich wirklich bleiben. Hier bei ihm. Im Glück. Mir hier eine Arbeit suchen. Doch dann verschwinden alle störenden Gedanken, denn uns schützt der Druidenhain. Paradise. Where the dance is. Where the worlds meet. Follow my voice.
Wir haben doch noch so viele Monate, versuchen wir einander zu trösten. Dann schwört er, dass er immer, so lange er lebt, an mich denken wird, wenn er diesen Ort besucht. „Cross my heart and hope to die.“ Heute bin ich mir sicher, dass ich bei jedem Besuch im heiligen Hain ein kleines Stückchen meiner Seele zurückgelassen habe, und dass sich dabei auch die Eichen tief in mir verwurzelt haben, so dass ich sie und ihn stets finden werde, wenn ich zurückblicke durch mein langes Leben fern von diesem ungewöhnlichen Jungen mit den blauen Augen und den verwuschelten Haaren. Ich hoffe, dass es ihm gut geht. Dass er glücklich ist. Dass er nicht allein ist. Dass er jetzt, in diesem Moment, nicht traurig ist.
The still point of the turning world. Where the dance is. And only the dance. I can only say, there we have been: but I cannot say where. And I cannot say, how long, for that is to place it in time. Der Druidenhain ist aus der Zeit gefallen. Vielleicht gab und gibt es ihn tatsächlich nur für uns. Er wird so lange existieren wie meine Erinnerungen. Ich wünsche mir, dass sie mir nicht genommen werden. Zweimal habe ich aus nächster Nähe mitansehen müssen, was passiert, wenn Erinnerungen ausgelöscht und geraubt werden, wenn Lebensgeschichten verdämmern und spurlos verschwinden. Wenn ein Mensch schon erloschen ist, obwohl er noch lebt.
In that open field, if you do not come too close, if you do not come too close. Noch gibt es den Druidenhain. Doch jetzt verändert er sich. Der Junge verschwimmt, es wird Nacht, über den Bäumen hängt der Laternenmond. Zwischen den Mistelbüschen klebt schwarz wie ein Scherenschnitt ein leeres Nest, zerzaust von Jahrzehnten der Abwesenheit. The houses are all gone under the sea. The dancers are all gone under the hill. Die sanften Kühe sind fort und unsere Stimmen verweht. Oder doch nicht ganz? Unendlich leise höre ich ihn aus der Ferne meinen Namen rufen. Follow my voice! Die Schatten wachsen. Bald kommt der Herbst. Selbst der Winter hat sich schon längst auf den Weg gemacht.