Kölner Westen: „Radio Days“

Aachener Str. (BFL)

Inzwischen ist die Aachener Straße tatsächlich um einiges ruhiger, manchmal sogar völlig still, und selbst die Autobahn röhrt nicht mehr in der Ferne. Ich war ein paar Mal draußen, und jedes Mal war die Straße bis auf die parkenden Autos fast oder gänzlich leer. Genau wie die KVB-Haltestellen, sogar am Center. Das passiert normalerweise nur bei der Fußballweltmeisterschaft.

Stadtauswärts (BFL)

Das kleine Päckchen, das ich heute morgen bekam, wurde mir im Gegensatz zu sonst mit extrem langem Arm gereicht, nicht mal unterschreiben war nötig, denn in Krisenzeiten gelten andere Vorgaben. Im Stadtanzeiger fallen mir jetzt vermehrt die neuen Zusätze bei den Todesanzeigen auf und machen mich traurig. Ich kann mir sehr gut vorstellen, wie die winzigen Beerdigungen in diesen Tagen aussehen, ich habe in den letzten Jahren viele Verwandte verloren. Ich sehe die wenigen Trauernden verloren und ungetröstet am Grab stehen. Auf dem Weidener Friedhof war ein riesiger Bagger mit lautem Getöse zugange. Mir schoss ein völlig abgedrehter schrecklicher Gedanke durch den Kopf, als ich das riesige Loch sah, doch die Männer hatten einfach nur das Fundament des Strommasts entfernt, der dort bis vor kurzem noch stand. Das war mir glatt entgangen, dabei habe ich ihn schon so oft surren hören. Ein Glück, dachte ich erleichtert. Wie gut, dass ich gefragt habe. Es ist nur der Strommast!

die neuen Weltstars (unsplash)

Im Center sind tatsächlich noch ein paar Geschäfte geöffnet, aber richtig einladend wirkt das nicht. An den geschlossenen Läden kleben kleine Plakate, vor einigen geöffneten stehen Warnschilder. In der Apotheke trugen heute alle Mundschutz und der  Sicherheitsabstand zwischen den Kunden war sehr groß. Bei Rewe und im DM fehlen tatsächlich immer noch unsere momentan weltweit kollektiven Lieblingsprodukte (Nur so eine Idee: man kann notfalls auch liebevoll zugeschnittene Küchenrollen zweckentfremden). Ein Psychologe meinte gestern, durch das Horten von Klopapier würden die Menschen ihren Ekel vor dem Coronavirus ausdrücken. Interessante Theorie, daran hatte ich noch gar nicht gedacht. Aber vielleicht ist Klopapier im Moment auch nur eine Art Beruhigungsmittel gegen die Angst? Eine Variante des magischen Denkens: Wenn du nur genug Klopapier zu Hause hast, kann dir nichts passieren! Dass alle anderen das auch zu denken scheinen (wenn alle das meinen, muss es ja stimmen! Darum gibt es auch all die leeren Regale!), bestätigt die eigene Wahrnehmung. Interessant ist diese Fixierung irgendwie schon. Nudelhorten verstehe ich bestens. Nudeln sind lecker und halten sehr lange. Sie sind gut für das körperliche Wohl. Klopapier bietet offenbar eine ganz andere Sicherheit. Damit schützt sich der Mensch an seiner verwundbarsten Stelle, dem Intimbereich. Ich hatte schon immer genug Klopapier für einige Wochen im Schrank (genau wie Katzenstreu) und habe auch wegen Corona nicht aufgestockt. Aber vielleicht habe ich auch eine ganz andere Art Angst als die Klopapierhorter. Wir kennen uns halt schon sehr, sehr lange, die Angst und ich. Damit hat Klopapier nichts zu tun.

Stopp! (BFL)

Zwei Frauen suchten heute morgen im DM verzweifelt nach Desinfektionsmitteln und eilten panisch und hektisch durch die Gänge. Ich gab ihnen den Tipp (aus der „New York Times“), dass man stattdessen auch sehr gut (verdünntes) Geschirrspülmittel verwenden könne, denn Coronaviren vertragen ja keine Fettlöser, was die beiden sichtlich beruhigte und mir ein gutes Gefühl gab. Spülmittel gibt es zum Glück noch genug, offenbar haben die Menschen diese Geheimwaffe noch nicht auf dem Schirm. Sogar meine Lieblingsmarke gab es, kam also auch gleich in den Einkaufskorb. Ich habe schon immer Spülmittel und Seife geliebt! Auch bei Gummihandschuhen gibt es erstaunlicherweise noch keinen Engpaß (wohl aber bei Einweghandschuhen, die sind nicht mehr zu kriegen).

Zur Säuberung von Oberflächen gab es eine gute Empfehlung in der „New York Times“: Gummihandschuhe anziehen und 1 x am Tag folgende Gegenstände mit einem feuchten Tuch (Desinfektionsmittel oder verdünntes Spülmittel) abreiben: Türklinken, Schubladengriffe, Fernbedienungen, Telefon, Tastatur und Handy (besonders wichtig, weil man es dauernd in der Hand hat!), Wasserhähne, Toilettenspülungstaste, Lichtschalter, Kühlschranktür, Microwellentür. Danach Handschuhe gut mit Seife waschen und trocknen lassen, danach noch mal Hände waschen, ebenfalls mit Seife und nach bewährter Manier. Also gründlich. Mindestens 20 Sekunden. (Für die Hände braucht man eigentlich gar kein Desinfektionsmittel, da reicht Seife!!!!) Ob ich die neue Handhygiene je vergessen werde? Wenn das noch monatelang so weiter geht, sicher nicht. Irgendwie ist es mir jetzt schon in Fleisch und Blut übergegangen. Mache ich ja auch schon seit sechs Wochen.

Radio Days (pixabay)

Übrigens bemerke ich mehrere auffällige Veränderungen in meinem Leben: Ich höre plötzlich Radio. Normalerweise tue ich das sonst nur im Auto, weil mich fremde Stimmen von unsichtbaren Leuten im täglichen Leben und bei meiner Arbeit am Schreibtisch stark irritieren (ich bin ein ausgesprochener Augenmensch), aber jetzt verbringe ich praktisch mehrere Stunden am Tag neben dem Radio. Es ist nicht nur der Podcast von Professor Drosten, es ist noch viel mehr. Wenn ich tief in mich hineinhorche, verstehe ich sogar, warum. Radiohören erinnert mich an meine Kindheit, an die Zeit, als wir noch keinen Fernseher hatten und mit dem Radio den Tag begannen und beendeten. „Komm, wir hören schnell noch die Nachrichten“, sagte meine Mutter. Dann waren kurz alle leise, und zum Schluss kam die Wettervorhersage. Und später „Die großen Acht“ von Radio Luxemburg mit Frank Elsner. Bei mir erlebt das Radio gerade eine echte Renaissance. Irgendwie fühle ich mich dadurch beruhigt und behütet. Wie war das noch früher? Morgens beim Frühstück, bevor mein Vater zur Arbeit fuhr, lief das Radio, auch später noch, wenn ich zur Schule ging, und außerdem immer, wenn ich krank im Bett lag. Aber dann war es nicht der große Kasten, sondern ein Transisterradio. Das entführte mich in die Welt des Kinderfunks. „Was meinst du dazu?“ fällt mir ein. Und „Kalle Blomquist, der Meisterdetektiv“ (da kann ich sogar noch die Erkennungsmelodie singen!). Und die Stimme von Peter René Körner! An den habe ich schon ewig nicht mehr gedacht.

Mein Mann hört immer viel Radio, für ihn ist das jetzt nichts Besonderes, aber ich schaue eigentlich viel lieber fern. Ich bin ein echter Film-Junkie. Auch ein echter Serien-Junkie, seufz. Jetzt stelle ich mit einem Mal erstaunt fest, wie gut und interessant das Radioprogramm ist! Und wie sehr ich mich im Moment genau dort unmittelbar und gut informiert fühle. So höre ich nicht nur täglich im NDR den informativen Drosten-Podcast, sondern habe rein zufällig auch im WDR etliche gute Sendungen gefunden, z. B. eine ausgezeichnete Sendung über Hermann van Veen. Bei KiRaKa. Ich hatte glatt vergessen, wie angenehm seine Stimme ist. Und wie schön seine Lieder. Danke, WDR! Auch die Nachrichten höre ich jetzt alle paar Stunden. Komischerweise fühlt sich das sehr viel unmittelbarer an als das Fernsehen, und die „Tagesthemen“ und das „Heute Journal“ kommen ja erst so spät. Die schaue ich mir auch beide an. Schade, dass die „Heute Show“ nicht jeden Abend den Abschluss bildet, dann hätte ich wenigstens was zu lachen. So liest mir mein Mann (er hat eine wunderbare Stimme, eigentlich hätte er Radiosprecher werden sollen) im Moment „Winnie the Pooh“ vor. Das brauche ich, um runterzukommen. Vorher hatten wir „Karlsson vom Dach“.

Auch die Ansprache von Angela Merkel habe ich mir gestern bewußt zuerst im Radio angehört und erst dann „richtig“ im Fernsehen. Meine Gefühle waren dabei so ähnlich wie bei „The King’s Speech“. Es war ein historischer Moment. Das hat sie noch nie zuvor getan. Sie sprach einfühlsam, unaufgeregt, klar und für ihre Verhältnisse erstaunlich emotional. Ich war und bin beeindruckt. Leider werden viele Menschen ihren dringenden Appell nicht befolgen. Auch heute haben sich wieder hunderte Jugendliche am Rheinufer versammelt und Coronafeiern abgehalten. Es ist einfach nur noch zum Heulen und wird zu Ausgangssperren führen. Wir sind offenbar immer noch nicht reif und mündig genug, um in dieser historischen Ausnahmesituation Vernunft walten zu lassen und Rücksicht aufeinander zu nehmen. Ich wünsche mir, die „Partymacher“ würden den verzweifelten Bericht der jungen New Yorker Ärztin lesen, den ich heute gefunden habe: „The Sky is falling!“ Doch antiphobisches Verhalten ist nicht neu. Es gab auch schon wilde Feste währen der Pestepidemien. Aber das waren eher Totentänze. Tanzen auf dem Vulkan muss ein ganz besonderer Thrill sein, den ich nicht nachvollziehen kann.

Wie im Rest von Köln und in vielen anderen Städten (besonders eindrucksvoll schafft man das in Italien!) gab und gibt es auch hier im Westen abendliche „Klatschaktionen“ als Dank an die Menschen, die „den Laden am Laufen halten“, immer um 21:00 Uhr. Von der ersten habe ich zu spät erfahren, die zweite habe ich durch einen wichtigen Anruf verpaßt. Aber an der breiten Aachener Straße hätte sich mein Klatschen ohnehin sekundenschnell „versendet“. Für Sonntag, den 22. März ist um 18:00 Uhr eine Art kollektives Musikkonzert geplant, doch selbst dazu werde ich an der Aachener Straße nicht viel beitragen können. Kein Instrument wäre hier laut genug. Damit man mich irgendwie bemerkt, müsste ich wohl riesige Leuchtkugeln in den Himmel schießen. Mal sehen, wie es heute Abend wird. Noch ist nicht 21:00 Uhr.

Seifenblasen (pixabay)

In diesen Tagen fällt es mir schwer, mich beim Schreiben auf „Unpandemisches“ zu konzentrieren. Mein Roman pausiert daher erst mal. Merkwürdigerweise habe ich während der SARS-Krise (2003) ein ganzes Buch geschafft, in dem meine Romanfamilie im Belgischen Viertel sogar eine Woche in Quarantäne verbringen musste. Sie hatten damit argen Stress, denn der Vater hatte im selben Flieger gesessen wie der SARS-infizierte Arzt, und seine beiden Töchter fürchteten, dass er sich angesteckt haben könnte. Ich habe mir schon überlegt, ob ich meine Familie nicht einfach wiederaufleben lassen soll, denn sie fehlt mir schon seit langem und ich würde gern wieder mehr Zeit mit ihr verbringen (außerdem hege ich insgeheim tiefe Gefühle für Martin, den amerikanischen Vater). Vielleicht versuche ich in den nächsten Tagen, mit ihnen Kontakt aufzunehmen. Wenn sie Lust dazu haben, was ich sehr hoffe.

Aber zuerst möchte ich mir noch die verpassten Podcasts von Christian Drosten anhören. Ich habe erst bei Folge 10 angefangen, heute war Folge 17. Inzwischen kann man sich auch die Scripts herunterladen oder im Computer lesen, und die NDR-App schickt mir morgens und abends die neuesten Meldungen aufs Handy. Genau wie der Newsletter des Kölner Stadtanzeigers speziell für die Lage vor Ort (Stadt mit K). Heute habe ich auch zum ersten Mal von der wohl aktuellsten Infoseite über die Corona Verbreitung gelesen. Sie heißt ncov2019live und wird von einem hochbegabten 17jährigen namens Avi Schiffmann in Seattle betrieben, der schon in einem Alter zu programmieren begonnen hat, in dem andere gerade erst anfangen zu lesen. (Sein Name klingt ein bisschen, als wäre er aus dem Roman „Die Lügnerin“, dem letzten Buch für die Stadt. Hab ich damals ausführlich im Literaturkreis besprochen. (der Literaturkreis fällt jetzt leider aus.)

Hummelchen (pixabay)

Draußen bleibt es frühlingshaft mild. Die ersten Hummeln habe ich im Garten gesichtet, die Vögel scheinen schon mit ihrem Nestbau zu beginnen, gestern habe ich den Rasen gemäht (natürlich ganz hoch eingestellt, damit er nur ja keinen Mähschock bekommt). Auch einen wirklich magischen Moment habe ich erlebt: Heute flogen schreiende Wildgänse hoch am Himmel über mich hinweg. Ihr Anblick rührt mich sowohl im Frühjahr als auch im Herbst zu Tränen. Irgendwie wecken diese Vogelzüge ein uraltes archaisches Bild in mir auf. Wie viele Generationen von Menschen haben diese eindrucksvollen Züge wohl schon beobachtet? Und sehr wahrscheinlich sind ihnen dabei auch Schauern über den Rücken gelaufen. Auch mit Fischfüttern habe ich jetzt angefangen, denn es gibt viele neue Fischbabys.  Hoffentlich kommt der Reiher nicht und frißt sie sie mir alle an einem Tag weg. Es gibt einen gewissen Reiher, der auf den Kölner Westen spezialisiert ist. Meine Freundin in der Bahnstraße kennt ihn auch bestens. Er hat uns beiden schon mehrfach den Teich leer gefischt, und ich habe ihn auch schon mal ganz aus der Nähe fotografiert. Er ist riesig! Sehr schön eigentlich, aber auch sehr hungrig.

Kirchenglocke (RoyBuri/pixabay)

Übrigens läuten jetzt täglich um 12:00 in Köln die Glocken zum kurzen Gebet, ebenfalls um 19:30. Auch das erinnert mich an etwas. Früher läutete in unserem Dorf die Kirchenglocke, wenn jemand gestorben war. Dann hielten die Menschen kurz inne, und meistens wußten sie auch, wer da gerade gestorben war. Es war ein kleiner Ort, in dem jeder jeden kannte. Die alten Frauen begannen dann, zu Maria zu beten. Glockenläuten ist für mich immer noch extrem emotional besetzt. Vielleicht gehe ich morgen Mittag und Abend kurz nach draußen und höre den Glocken zu. Schade, dass ich nicht mehr gegenüber von St. Michael im Belgischen Viertel wohne. Wie meine Buchfamilie, die mir gerade so fehlt, dass es fast schon weh tut. Vielleicht gehe ich morgen um 12 und 19:30 kurz an die Straße. Das Glockengeläut müsste ich eigentlich hören. Und vielleicht kommen noch mehr Menschen an die Straße und wir können uns zuwinken.

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Kölner Westen trifft Corona

Seifentrost

Ich mache mir grade wieder selbst eine Freude und schaue mir Seifenbilder an. Das finde ich überaus beruhigend in Zeiten der Pandemie.

Draußen ist es heute bis auf den normalen Puls des Kölner Westens (möglicherweise ist die Aachener Straße gerade ein wenig leiser als sonst, aber noch fällt es nicht auf) und einige frühlingsschmetternde Vögel ziemlich still. Mir fehlen die Stimmen der vielen Kinder, die um diese Zeit normalerweise draußen den Schulhof bevölkern. Manche sind ganz schön laut, ein Mädchen kann täuschend echt wiehern, und etliche nerven mich auch gelegentlich, weil sie so laut kreischen, dass mir die Haare zu Berge stehen, aber alles in allem erinnert mich die quicklebendige Geräuschkulisse immer an meine Kindheit und das Haus meiner geliebten Oma. Sie wohnte unmittelbar neben einer Schule, und da war es vor 60 Jahren schon genau so laut.  Die Stimmen von spielenden Kindern sind offenbar immer gleich. Herumtollende Kinder sind etwas Vertrautes. Wenn sie nach der Pausenglocke alle gleichzeitig auf den Schulhof strömen, ist das eine Szene voller Lebenslust und Übermut. Jetzt sind die Kinder fort. Nur der Rasenmäher und der Hausmeister sind noch da. Und die Schulglocke. Pünktlich. Als wäre alles wie sonst.

Spielen (Robert Collins/unsplash)

In Köln sind ab heute nicht nur alle Kitas und Schulen, sondern auch alle Restaurants, Kinos, Spielplätze, Schwimmbäder und Bordelle (die Stimme der meisten Nachrichtensprecher verändert sich bei diesem Wort sehr subtil, und jedesmal muss ich lächeln) geschlossen. Nun ist auch der Zoo zu, der noch am Wochenende (bis auf die Tierhäuser) geöffnet war und die Kölner und ihre Kindern erfreute.

noch mehr Seife

Es ist so schön draußen, die ersten Blätter sprießen, Bäume blühen, Narzissen und Tulpen stehen im Blust, sogar der jährliche Heuschnupfen ist im Anflug. Trotzdem ist alles anders. Ab heute sind fast alle Geschäfte zu, bis auf Apotheken, Tankstellen, Banken und Lebensmittelläden, in denen die Angestellten (es ist bewundernswert, dass sie immer noch so freundlich sind!) zu Stoßzeiten bis an die Grenze ihrer Kraft (oft sicher auch oft darüber hinaus) arbeiten und dabei auch noch ständig unterhalb des empfohlenen Sicherheitsabstands bleiben müssen. Eine Kassiererin klagte darüber, dass rücksichtslose Kunden einfach in die Hand husten und ihr dann mit genau dieser Hand das Geld reichen. Wenn man sie darauf anspricht, reagieren sie sauer und gereizt. Nach wie vor gibt es den Super-Run auf Nudeln und Klopapier. Nudeln kann ich gut verstehen, aber ich frage mich, warum die Menschen scharf auf Toilettenpapier sind. Ist Klopapiersucht ansteckend? Triggert sie der Anblick der leeren Regale? Oder ist Klopapier irgendwie das Symbol für „Keine Sorge, alles ist gut“?

Das Einkaufscenter glich gestern einer Geisterwelt. Die Gänge, die meisten Läden und die Rolltreppen waren leer, im Kaufhof musste man ähnlich wie im Flughafen erst mal Slalom laufen, um zur Kasse zu kommen. In der Konfektionsabteilung waren wir die einzigen Kunden, was mich normalerweise erfreut hätte, denn ich mag keine Warteschlangen, aber unter den gegebenen Umständen war es unheimlich und bedrückend. Die Kassiererinnen trugen Handschuhe und machten ernste Gesichter. Leider bekam ich nicht mal das, was ich suchte. „Lieferstopp. Ham wir nicht im Moment.“ Ich hatte schon seit einigen Tagen meine Vorahnungen und habe mich daher vorige Woche einfach bei der Verkäuferin meines Vertrauens direkt erkundigt. „Wir wissen auch noch nichts“, meinte sie. „Das kommt immer ganz plötzlich. Aber ich gehe mal davon aus, dass hier nächste Woche zu ist.“ Ob wirklich zu ist? Ich muss es selbst sehen, um es zu glauben.

Klopapierhorter von Heather Anthony, @mousesprouts (Foto: Paul Anthony)

Irgendwie bizzar, aber es ist überall auf der Welt dasselbe, sogar das Horten von Klopapier ist gleich, wie ich täglich aus den sozialen Medien erfahre. Auf instagram beschäftigen sich sogar die Miniaturisten mit dem Thema. Auf höchst humorvolle Weise. Überhaupt ist instagram im Moment eine wahre Wohltat, hier wünschen Menschen aus aller Welt einander täglich Kraft, schicken sich virtuelle Umarmungen, liebe Worte und Ratschläge und finden sogar unerwartet Seelenverwandte (so bin ich seit kurzem auf die Ferne richtig gut mit Künstlerinnen in New York, Texas, Australien, England und  Norwegen befreundet, alles „Mausfrauen“). Wir posten spöttische, selbstironische und mitfühlende Bilder. Aber vielleicht habe ich auch nur Glück und „folge“ den (für mich) richtigen Personen. Oder gehen Künstler in aller Welt besonders feinfühlig und kreativ mit diesen einschneidenden, furchterregenden Veränderungen um?

Mausbuchladen „Mouse Tales“  (BFL)

Auch meine eigenen instagram Bilder sind „eingestimmt“. Bei mir in Mouseland (@cheddarandmozzarella) sind zum Glück alle Läden geöffnet und werden das auch bleiben, sofern mich die Coronaviren nicht vom Stuhl fegen. Auch das gemeinsame üppige Schmausen darf selbstverständlich weitergehen. Mäuse sind äußerst soziale Wesen und dürfen sich zum Glück auch bei Menschencorona noch fest in den Arm nehmen und nach Herzenslust beschmusen. Ich freue mich immer, wenn ich lese, dass meine Mäuse andere trösten und zum Lächeln bringen. Genau das sollen sie ja! Ich verkaufe dort nichts, ich brauche keine Werbung,  ich poste meine Bilder, weil es Freude macht und weil ich meine Mäuse liebe. Es tut gut, dieser bedrohlichen Dunkelheit einfach jeden Tag ihre kleine heile Welt entgegenzusetzen. Ohne Viren, Einschränkungen, Verbrechen und Gefahr.

Tina, Chester und Mimolette (BFL)

Auch die vielen hilfsbereiten Menschen, denen ich hier im Westen seit einigen Wochen real wie virtuell (vor allem bei facebook und nebenan.de) begegne, beeindrucken mich. Das „Viertel“ hält zusammen, formiert sich vielleicht gerade erst richtig, die Jungen helfen den Alten, überall herrscht große Solidarität. Auch der Kölner Westen verändert sich. Die Menschen werden zwar gezwungen, einander zu meiden, doch sie rücken gleichzeitig auch enger zusammen, lernen sich vielleicht jetzt erst kennen. Wir sitzen tatsächlich alle im selben Boot, weltweit, stadtweit, straßenweit, alle sind wir von dieser Katastrophe betroffen. Danach werden wir vielleicht anders miteinander umgehen. Köln zeigt sich hier gerade von seiner besten Seite, und mir wird das Herz weit.

trauriger Anblick (BFL)

Was mich traurig macht: Dass am Sonntag die Gläubigen ungetröstet zurück nach Hause geschickt werden mussten, weil auch die Gottesdienste verboten sind. Dass man sie nicht mal beruhigend in den Arm nehmen konnte. Dabei war alles so liebevoll vorbereitet, auf den Stühlen waren die Sitzkissen so verteilt, dass genug Abstand zwischen den Menschen bestanden hätte, die Gesangbücher lagen schon auf den Plätzen (und wären auch dort liegen geblieben), am Ausgang stand eine große Flasche mit Desinfektionsmittel, auf dem Altar standen frische Frühlingsblumen, zwei Türen wären einladend weit geöffnet worden. Die Gemeinde hätte nicht gesungen (denn dabei verteilt man natürlich auch Viren), sondern gemeinsam gesummt. Alle hatten sich auf diesen Abendgottesdienst in Krisenzeiten gefreut und auf die beruhigenden Worte ihres Pfarrer gehofft. Die gewohnte innere Nähe, die vertrauten Menschen, der gemeinsame Glaube hätten die Anwesenden, von denen viele betagt und einsam sind, sicher trösten können. Doch die unsichtbare Bedrohung verlangt, dass die Menschen einander meiden. Sie dürfen einander nicht mehr berühren, sich nicht mehr nah sein, nicht mal in Sprechnähe stehen. Auch die Beerdigungen werden von nun an eine Zeitlang anders sein. Nur Angehörige ersten Grades dürfen am Grab stehen und müssen auch in ihrem Schmerz allein bleiben. Gerade bei Trauerfeiern bekommt man normalerweise so viel dringend benötigte Zuwendung und Trost. Alles dahin. In Italien bleiben inzwischen auch die Sterbenden allein. Vorübergehend brechen uns alle inneren und äußeren Haltestrukturen weg.

Einsamer Mose (BFL)

Die Welt ist in Aufruhr. Möglicherweise werden viele Menschen aus dieser Phase traumatisiert hervorgehen. Wenn die Pandemie vorbei ist, hat sich das Leben tiefgreifend verändert. Wir befinden uns in einem globalen Kampf mit einer unberechenbaren neuen Krankheit. Die Zustände in Italien sind unvorstellbar (wie es auch in China der Fall war), ich lese darüber täglich in der „New York Times“ und hoffe immer noch, dass uns diese  Wucht erspart bleibt. Ärzte kämpfen dort nicht nur um das Leben ihrer Patienten, sie sind auch selbst in höchster Gefahr. Viele trennen sich jetzt von ihren Familien, um sie nicht zu infizieren. Alle Länder wappnen sich. In Frankreich gibt es ab jetzt eine Ausgangssperre, und selbst der intelligenteste Präsident aller Zeiten (he whose name must not be mentioned, also Voldetrump) und sein ruppiger Brexitfreund rudern jetzt nach großen Tönen heftig zurück.

Was mir gerade akut zu schaffen macht: In Köln wurden an der Uniklinik sozusagen über Nacht 50.000 Atemschutzmasken gestohlen, was  hier in der Stadt möglicherweise etliche Leben in Gefahr bringt oder sogar kosten wird (aber wie kann jemand nur so viel Zeug ungesehen fort schaffen?).

Außerdem gibt es schon wieder Trickbetrüger, die bei hilflosen Senioren klingeln und sich als Mitarbeiter des Gesundheitsamts ausgeben. Angeblich wollen sie einen Rachenabstrich nehmen, haben es aber in Wirklichkeit nur auf das Geld und den Schmuck ihrer betagten Opfer abgesehen. Während Täter 1 ablenkt, räumt Täter 2 die Wohnung leer. Mir fehlen für so ein Verhalten die Worte.

Lavendelduft

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Mülhausen revisited, März 2020

Bibliothek (BFL)

Nach fast zwei Jahren war ich wieder zu einer Lesung aus meinen Büchern „Mit Winnie in Kattendonk“ und „Mit Winnie in Niersbeck“ an meiner alten Schule, diesmal las ich allerdings vor Schülern und Schülerinnen. Für mich eine echte Premiere und entsprechend spannend. Normalerweise kann ich davon ausgehen, dass mein Publikum sich an zahlreiche Personen, Orte, Lieder und Gegenstände in meinen Büchern erinnert, was bei dieser sehr jungen Generation natürlich nicht der Fall war. Daher hatte ich vorgesorgt und eine kleine Powerpoint-Präsentation vorbereitet. Es funktionierte. Die Kinder waren wunderbar, sie staunten, amüsierten sich, gingen mit, stellten kluge und interessierte Fragen, brachten auch ihre eigenen Erfahrungen und Ideen ein und überraschten mich immer wieder. Die Doppelstunde verging wie im Flug. Wie bei meiner ersten Lesung saßen wir in der alten Bibliothek mit den langen Fenstern, die immer noch einen Hauch von Hogwarts ausstrahlt, vor allem, wenn man noch weiß, wie es hier früher aussah. Bloß der Literaturgeruch ist inzwischen ein anderer, und der Raum wirkt jetzt auch viel heller und großzügiger. Trotzdem!

Paradiese hinter Hecken (antranias/pixabay)

Und so begaben wir uns gemeinsam auf eine kleine Zeitreise in die 1960er Jahre, nach „Niersbeck“ und „Kattendonk“, damals ein großes Dorf, mitten hinein in das verschlungene Gässchen-Labyrinth  mit den gepachteten Kirchgärten hinter hohen Heckenwänden, morschen Holztüren und rostigen „Törchen“, krochen durch das Loch in der Eibenhecke auf den verfallenen, längst eingeebneten alten Friedhof, von dem nur noch wenige Reste übrig sind (wohl aber der Straßenname „Am alten Friedhof“), saßen in den warmen, dunklen Wohnzimmern meiner Großtanten, betraten die ehrwürdigen alten Schulgebäude und schlenderten durch den riesigen wilden Park der Klosterschule, den es bis auf einige der alten Bäume heute nicht mehr gibt.

Elfenreigen an der Wand (BFL)

Dass uns die strengen und damals noch schwarz-gewandeten Ordensschwestern mit ihren wehenden Schleiern stark an die Lehrerschaft von Harry Potter erinnerten (sie konnten eindeutig auch apparieren und disapparieren, also sich auf magische Weise in Luft auflösen und an anderen Stellen plötzlich wieder auftauchen), konnten die Kinder wahrscheinlich kaum nachvollziehen, denn die Atmosphäre der alten und neuen Gebäude ist heute so gänzlich anders. Alles ist bunt, modern, offen, entspannt und quicklebendig, und die Kinder wirken sehr viel selbstsicherer und redegewandter als wir damals. Niemals hätten wir in kleinen Gruppen so munter im Flur „herumlungern“ dürfen, wurden wir doch am Anfang meiner Schulzeit sogar noch von einer gewissen Ordensschwester wie eine kichernde Gänseschar unter lautem Händeklatschen aus dem Park in die Aula getrieben und dort eingeschlossen, sobald sich zwischen den Bäumen Handwerker oder Gärtner zeigten. Die Gärtner und Handwerker hatten übrigens vor der gewissen Schwester einen Heidenrespekt. („Und getzt sofort rein, Mädchen! Es sind Männer im Park! Augen geradeaus!“)

Zu meiner Schulzeit gab es nicht mal Jungen an der Schule, und bis 1969 durften wir Mädchen keine langen Hosen tragen. Höchstens die blöden häßlichen Lastexhosen mit Reißverschluß an der Seite, unbedingt! Die Kinder staunten nicht schlecht. Und wir trugen sie auch nur auf dem Schulweg, wenn es richtig kalt war im Winter, und zwar ausschließlich unter dem Rock, was zu unschönen und überaus lästigen Stoffwülsten im Taillenbereich führte. Nicht mal Mittelscheitel und offenes Haar waren erlaubt! Als es dann endlich so weit war, erschienen wir am nächsten Tag natürlich alle in Jeans. Eine Erinnerung, bei der mir bis heute das Herz weit wird. Was für ein Tag! Endlich befreit!

Nach der Lesung machte ich auch diesmal eine kleine Tour durch die Flure, auf der Suche nach neuen und vertrauten Ecken. Dabei konnte ich gleich auch die ehemalige Josefshalle im neuem Gewand bestaunen. Früher standen hier Vitrinen mit ausgestopften Tieren und „eingemachten“ Schlangen und Fröschen, es roch intensiv nach Klosterschule und Bohnerwachs, und mit leisen und sehr unterschiedliche Wuuuschs bogen die sonst katzenleisen Schwestern um die Ecke. Die kleinen und großen KünstlerInnen, die jetzt überall die Wände gestalten dürfen, kann ich wirklich nur beneiden. Das hätte mir als Schülerin auch Riesenfreude gemacht (würde es sogar heute noch!). Immerhin war Kunst mein Lieblingsfach und der Zeichensaal für mich der schönste Raum in der gesamten Schule. Unser Paradies war natürlich der Park. Auch meine ehemalige Kunstlehrerin Frau Vogt wäre sicher von den Wandgemälden beeindruckt gewesen. Für die Kinder hatte ich einige der Bilder mitgebracht, die wir damals gemalt haben. Merkwürdige Themen fielen Frau Vogt ein, etwa „Verbrecherjagd im Treppenhaus“. Bis heute finde ich Stufen und Treppen äußerst schwer zu malen. Als Kind war es eine richtige Qual. Mein Treppen sahen leider eher aus wie Leitern. Natürlich war während der Lesung auch die ganze Zeit meine Freundin Winnie an meiner Seite. Die Kinder fragten nach ihr. Fünf Jahre ist sie nun schon tot, aber in Niersbeck kann man ihr immer noch im Park und auf den Fluren begegnen. Genau wie meinen anderen Freundinnen, die im Buch nicht vorkommen, sehr wohl aber in meinem Leben und in meinen Erinnerungen.

Bevor mein Mann und ich uns auf die Heimfahrt machten, hatte ich Gelegenheit, auch die Kapelle wiederzusehen, die sich ebenfalls stark verändert hatte. Kühl und weiß war sie immer noch, der helle Bogengang sah aus wie früher, auch die schönen Fenster, die warm in der Nachmittagssonne leuchteten, aber in der Kapelle sind Altar und Bänke jetzt anders arrangiert.

In der Nähe von Maria dufteten aber immer noch ganz vertraut die Lilien. In Gedanken spürte ich den harten Zeigefinger von Schwester Maria „Theosopha“ (sie hieß in Wirklichkeit anders) im Rücken. Sie mochte es gar nicht, wenn wir in der Kapelle flüsterten (schwätzten), husteten oder uns auch nur bewegten (zappelten), taten wir es doch, bohrte sie uns unbarmherzig ihren rechten Zeigefinger zwischen die Schulterblätter, wenn man das Pech hatten, genau vor ihr zu sitzen. Das versuchten wir daher auch tunlichst zu vermeiden.

Wie gut, dass die Schulen in NRW erst ab morgen geschlossen sein werden und meine Lesung gerade noch stattfinden konnte. Mit vielen frischen Eindrücken und noch mehr Erinnerungen kehrte ich zurück nach Köln.

Der kühle Bogengang neben der Kapelle (BFL)

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Hochsensible Angst trifft Corona (2)

Angst (Alexandra Gorn/unsplash)

Seit meinem letzten Beitrag hat sich leider eine Menge getan. Es geht meiner Angst nicht gut. Sie tut mir leid, und ich fühle mit ihr. Wir haben Probleme, weil sie sich chronisch überschwemmt fühlt, und leider ist im Moment noch kein Licht am Ende des Tunnels zu sehen.

Wie soll sie es schaffen, in Coronazeiten entspannt zu bleiben? In Köln ist die lit.cologne abgesagt worden, in Leipzig die Buchmesse. Veranstaltungen mit mehr als tausend Personen sind in Deutschland verboten. Schulen und Kitas schließen in vielen Orten, Krankenhäuser schränken Besuche stark ein, die Uni Köln verschiebt den Semesterstart, in den Drogeriemärkten sind die Desinfektionsmittel innerhalb von Minuten ausverkauft, die ersten wichtigen Medikamente werden knapp, bald vielleicht auch die Krankenhausbetten, es gibt keine Atemschutzmasken mehr, weil irgendwelche Leute (die sie wahrscheinlich nie im Leben brauchen werden) sie stapelweise bunkern, und jetzt fehlen sie dem medizinischen Personal. Die Börsen sind auf Talfahrt, die ersten Fluglinien melden Insolvenz an. Die evangelische Kirche im Rheinland rät, in den Kirchen keine Gesangbücher mehr auszugeben und Liedtexte an die Wand zu projizieren, selbst das Abendmahl soll ausgesetzt werden, die Konfigottesdienste werden wohl ans Ende des Jahres verlegt. Sorge und Unruhe überall. (In Australien haben sich übrigens vor ein paar Tagen drei Frauen kreischend um eine Klopapierrolle geprügelt und mussten mit Gewalt getrennt werden. Das fanden wir beide lustig.)

Nebenbei läßt die Klimakatastrophe grüßen, was auch unruhig macht. Der letzte Winter war der wärmste seit Beginn der Wetteraufzeichnungen, der nächste Sommer wird höchstwahrscheinlich genauso qualvoll wie der letzte. Our House is on Fire. Because it is.

Corona trifft Westminster (Hello I’m Nick/unsplash)

Unsicher blickt meine Angst in die Welt. Überall ernste Mienen. Möglicherweise haben es auch die Journalisten nicht leicht im Moment. Irgendwie müssen sie es schaffen, informativ und sachlich zu bleiben. In den Talk Shows geht es hoch her, und nach den Diskussionsrunden ist man noch verwirrter als zuvor. Meist schalte ich ab, es sei denn der ruhige und kundige Prof. Drosten ist dabei (er hat übrigens einen eigenen NDR-Podcast, den ich nur empfehlen kann). Ich habe mich auch schon gefragt, ob ich nicht ganz aufhören soll, mir die Nachrichten anzusehen oder meine geliebte „New York Times“ zu lesen. Ich habe mich mit der Angst beraten, und die Antwort ist NEIN. Wir möchten weiterhin gut informiert sein, doch ich habe ihr versprochen, (noch) mehr Rücksicht auf sie zu nehmen und uns die Quellen (noch) sorgsamer aussuchen. Ich möchte wissen, was um mich herum passiert!

Über den Wolken (Sacha Verheij/unsplash)

Ich sitze auch im Flugzeug am liebsten am Fenster und schaue mir die Landschaften und Wolken an, die wir überfliegen, obwohl ich das Flugzeug nicht selbst steuere und keinen Einfluss darauf habe, wie die Landung wird, wie wir aus den Turbulenzen herausfinden oder ob wir in einen Orkan geraten. (Nein, ich habe keine Flugangst, das ist so ungefähr die einzige Phobie, die in meiner eindrucksvollen Sammlung noch fehlt. Aber wenn ich nicht am Fenster sitze, geht es mir gar nicht gut.) „Blind fliegen“ funktioniert bei mir nicht, und „blind leben“ auch nicht. Ich muss sehen und wissen, wo ich mich befinde.

Aber was ist denn jetzt mit Corona? fragt die Angst. Der wortgewaltigste Präsident aller Zeiten mit dem (nach eigener Einschätzung) höchsten IQ der Welt hielt die neue Seuche bis vor kurzem noch für einen „Hoax“, eine Erfindung der Demokraten oder der Chinesen (was ihn hoffentlich bald viele  Wählerstimmen kosten wird!). Aber als absoluter Fachmann, was das Corona-Thema betrifft (ebenfalls nach eigner Selbsteinschätzung), hat er in seiner großen Weisheit gestern beschlossen, ab sofort keine Europäer mehr in die USA zu lassen, weil die ja besonders infektiös sind. Bis auf Briten, aber die sind ja keine Europäer (mehr) und haben außerdem Boris Johnson (Great guy, good friend of mine!). Und das („ausländische“!) Virus „will go away“. Übrigens finde ich diesen Einreisestopp gar nicht so schlimm, denn die USA haben ja noch nicht mal genug Testkits! (Aber das ist nur Barack Obama schuld.) Ganz in unserer Nähe versinkt Italien gerade im Chaos, und meine Angst fragt, ob uns das wohl auch noch droht. Wahrscheinlich nicht. Hoffentlich nicht. Aber wer weiß das schon? „Ruhig, ganz ruhig!“, würde Karlsson vom Dach jetzt sagen. Vor Karlsson vom Dach hat meine Angst Respekt, denn sie findet ihn toll. Wohl weil er so angstfrei und durch nichts zu erschüttern ist. Aber ein bisschen erinnert er mich allerdings an den Präsidenten mit dem höchsten IQ aller Zeiten. Doch davon will sie nichts hören.

Ich bin nicht allein mit meiner Angst. Viele Menschen fürchten sich vor der „neuen Naturkatastrophe“. Verständlich. Die WHO wertet die Ausbreitung des Coronavirus (Stand vom 11.3.2020, gerade als ich anfing, diesen Beitrag zu schreiben) inzwischen als Pandemie. Der WHO-Generaldirektor äußerte, er sei tief besorgt über das „alarmierende Niveau der Untätigkeit“ im Kampf gegen das Virus. Was genau er damit meint, erläuterte er nicht. Aber es klang irgendwie schlimm, und meine Angst zuckte sofort schmerzhaft zusammen. Wie soll ich sie nach so was wieder ruhig kriegen?

Neues an der Wand (BFL)

Inzwischen gibt es etwa 120.000 Fälle in 114 Ländern (aber das war vorgestern, ich sitze schon seit drei Tagen an diesem Beitrag, allerdings nicht ununterbrochen, auch wenn es sich so anfühlt). Wahrscheinlich werden es immer mehr, während ich hier still schreibe und versuche, nicht dauernd die Statistiken zu checken (wozu die Angst leider tendiert). Ich messe mir schließlich auch nicht alle fünf Minuten den Blutdruck, tadele ich sie, weil ich weiß, dass das nichts bringt und die Messwerte dadurch nur verfälscht werden. Aber über 4.200 Menschen sind bereits an der Erkrankung gestorben. Hier in Köln gibt es (wieder nur Stand vom 11.3.) auch schon 54 Krankheitsfälle (leider sind es heute 15 mehr, aber das weiß die Angst noch nicht), und 164 Kölner befanden sich vorgestern in Quarantäne. Mit sichtbaren Konsequenzen: In der VHS hingen gestern morgen überall Zettel an den Wänden, und eine Frau in der Bahn trug Mundschutz. Bei all den Zahlen bin ich im Moment fast dankbar dafür, dass ich Dyskalkulie habe und die Zahlen eh sofort wieder vergesse.

In Köln bleibt die Lanxess Arena bis auf weiteres zu, der Circus Roncalli gibt keine Vorstellungen mehr, und die KVB öffnet jetzt an allen Haltestellen automatisch sämtliche Türen, damit man nicht mehr mit dem Finger auf den Halteknopf drücken muss. Gern fahre ich im Moment nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Ich versuche, möglichst meine Jackenärmel einzusetzen und nicht meine Hände. Manchmal muss ich allerdings über die Angst grinsen. So schrillte mein hochsensibles Alarmsystem vorgestern schon los, als wir mit dem Auto (!) an Heinsberg vorbei fuhren. Soweit ist es schon gekommen!

zartblaue (Vogelgrippe)Viren (CDC/unsplash)

Als wenn das alles nicht schon genug wäre, rauscht auch immer noch die Influenza-Welle durchs Land, nach der aber irgendwie kein Hahn kräht. Schnupfen, Grippe, grippaler Infekt, echte Virusgrippe, alles dasselbe. Oder? „Die Grippe“ bringt keinen mehr aus der Ruhe, dabei wurden bis zum 6. März in Deutschland 145.258 labordiagnostisch bestätigte Influenzafälle an das Robert Koch-Institut übermittelt, davon waren immerhin 23.276 so schwer krank, dass sie ins Krankenhaus mussten, und 247 Menschen sind bisher daran gestorben (Stand gestern, 11.3.) Aber gegen Influenza kann man sich auch jetzt noch impfen lassen. Zum Glück.

Und was passiert, wenn COVID-19 und Influenza aufeinanderprallen? Genau das versucht man gerade zu vermeiden. Daher auch die vielen Vorsichtsmaßnahmen. Noch haben wir einen kleinen Zeitvorsprung. Und wir haben im Vergleich zu anderen Ländern auch recht viele Intensivbetten und schon sehr früh angefangen zu testen. Gegen die echte Virusgrippe bin ich geimpft, und hoffe, dass mein Körper nach all den vielen Impfungen gelernt hat, zumindest diese Viren zuverlässig zu erkennen.

In meiner Familie (übrigens lauter Ärzte) sind alle gegen Influenza geimpft. Sogar unsere Enkel, von Opa höchstpersönlich. Das erledigen wir traditionell an Halloween, nach dem Hauptgang und vor dem Nachtisch. Bei uns gibt es nicht nur „Trick or Treat“, sondern auch „Prick and Treat.“ Tut mir leid, aber für Impfgegner (komischerweise ein rein deutsches Phänomen) habe ich wenig Verständnis. Ich hatte die Grippe schon zweimal und weiß nur, dass ich das auf keinen Fall noch mal durchmachen möchte.

Gegen die neuen Coronaviren gibt es leider (noch) keine Impfung, aber ich wäre bestimmt eine der ersten, die begeistert den Arm hinhalten würde. Ich habe mich seinerzeit auch sofort gegen die Schweinegrippe impfen lassen, als es den Impfstoff gab. Zum Glück verlief die Schweinegrippe glimpflich, was aber zu dem Zeitpunkt noch nicht vorherzusehen war. Gut für die Bevölkerung, Pech für das NRW-Gesundheitsministerium, das vorsorglich genügend Impfdosen zum Schutz der Bevölkerung bestellt hatte. Damals (und leider auch heute noch) hat man das hier nur als Geldverschwendung gegeißelt. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn die Schweinegrippe damals so explodiert wäre wie gerade Covid-19 und dann nicht genug Impfstoff zur Verfügung gestanden hätte! Sollte der  Corona-Impfstoff zufällig erst fertig werden, wenn die Pandemie bereits abgeflaut ist, wird man ihn wahrscheinlich genauso vernichten müssen wie damals den gegen die Schweinegrippe.

Man kann und sollte sich auch immer noch schnell gegen Pneumokokken impfen lassen. Allerdings wird der Impfstoff knapp.

Angstkind (ambermb/pixabay)

Die Schlagzeile „70% der Deutschen werden Corona bekommen!“, die gerade viele aufschreckte, bedeutet eigentlich nur: Bevor die Pandemie abklingt (wann immer das sein mag), muss ein Großteil der Bevölkerung Kontakt mit den Coronaviren gehabt haben (und dadurch immun werden). Die Katastrophenmeldungen werden uns weiter anspringen. Meine Angst reagiert empfindlich, was ich ihr kaum verübeln kann, und gelegentlich reagiert sie echt über, und dann muss ich ihr helfen. Mit Ablenkung, guten Worten, Eisklümpchen und anderen  bewährten „Beruhigungsmitteln“. Ich vertraue weiterhin der Seite des Robert Koch-Instituts, dem Podcast von Prof. Drosten und der „New York Times“. Tagsüber hält sich die Angst wacker und achtet darauf,  dass ich mir sorgfältig die Hände wasche. Mit Wasser und Seife. Die empfindliche Lipid-Hülle der Coronaviren löst sich nämlich bei Kontakt mit Seife auf! Dazu braucht es gar kein Desinfektionsmittel auf der Haut.

Seifenfreude (thomas despeyroux/unsplash)

Nachts erwischt es mich aber dann doch ab und zu. Schlafstörungen und Alpträume (auch mit maskentragenden Wesen und Krankenhäusern). Die Schreckensbilder des Tages wecken offenbar Urängste. Manchmal habe ich den Eindruck, dass mir die vererbten Lazarett- und Kriegsbilder meines Vaters im Kopf herum spuken. Es reicht schon, wenn ich das Wort Lazarett nur in der Zeitung lese.

Wenn Stress, Sorge und Angst massiv und gleichzeitig auftreten, sind diese Reaktionen bei angstanfälligen Menschen wohl ganz normal.  Erst recht in unruhigen Pandemie-Zeiten, wenn man neben der eigenen Angst und dem eigenen Stress auch noch die fremde Angst und Panik (ungewollt) massiv mitfühlt. Das weckt in mir Erinnerungen an meine schweren Panikanfälle als Kind, wenn meine traumatisierten Eltern Probleme hatten, von denen ich damals nicht mal etwas wußte! Für fremde Angst und fremden Stress besitzen viele hochsensible Menschen offenbar einen doppelten Verstärker in ihrer inneren Alarmanlage. Er läßt sich kaum regulieren, daher muss man (möglichst ruhig) abwarten, bis sich alles wieder einpendelt.

„Keep calm and wash your hands“ klebt weiter tröstlich über meinem Schreibtisch. Ich versuche möglichst ruhig, alles zu tun, was ich tun kann: mir häufig die Hände zu waschen, mein Gesicht möglichst nicht zu berühren, keine Hände zu schütteln, in die Armbeuge zu niesen oder zu husten, Abstand zu halten, eher mal zu Hause zu bleiben, nett zu mir selbst zu sein und meiner Angst beruhigend und verständnisvoll zuzureden. Besonders nachts. Meistens bekrabbeln wir uns schnell wieder. Wir haben es schwer miteinander, aber wir haben schon schlimmere Krisen überstanden.

Also: „Keep calm and carry on!“ Oder, mit Karlsson vom Dach: „Ruhig, ganz ruhig!“  Oder auch: „Wir schaffen das!“ Because we will.

Seifentrost (monika1607)

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Hochsensible Angst trifft Corona

Eigentlich ganz hübsch….  (Matthewafflecat/pixabay)

Im Moment ist es nicht nur für ängstliche Menschen sehr schwer, ruhig und gelassen zu bleiben, wenn sie die Zeitung aufschlagen, den Fernseher anschalten, aufs Handy  schauen oder die Radionachrichten hören. Oder wenn sie versuchen, panische Familienmitglieder und FreundInnen zu beruhigen oder verunsicherten Kindern die derzeitige Weltgesundheitslage zu erklären. Als Schriftstellerin und „Angstexpertin“ versuche ich, das Ganze positiv zu sehen: Gerade jetzt bietet mir die Angst wieder mal eine hervorragende Gelegenheit, sie unmittelbar und hautnah zu erforschen. Bei mir selbst und bei anderen.

Vielleicht sollte ich ein zweites Angstbuch schreiben, denn Corona, Klimawandel, Rechtsruck, skrupellose Politiker, Fake News und globale Weltuntergangsstimmung kamen in „Hasenherz und Sorgenketten“ nicht vor. Und wieder wird mir klar: Der Angst muss man zuhören, um sie erfolgreich beruhigen zu können. Es bringt nichts, sich von ihr überwältigen und mitreißen zu lassen, ihr blind zu folgen, wenn sie außer Kontrolle gerät, oder sie verächtlich niederzumachen, wenn sie einen quält, sie schönzureden, weil sie einem peinlich ist, sie zu verdrängen oder zu leugnen, weil sie einem lästig ist oder nicht ins eigene Weltbild paßt, oder sie zu verteufeln, aus welchem Grund auch immer.

Angst ist kein Stigma, keine Schwäche, keine Schande und auch keine „Seuche“, die schlimmer ist als die schlimmsten Viren, wie eine Tageszeitung es gestern ausdrückte. Klar ist Angst ansteckend! Aber das sind Gähnen und Lachen auch. Teil der Massenpanik wird die eigene Angst erst, wenn man zulässt, dass sie sich gemeinsam mit fremden Ängsten zur Stampede hochputscht. Angst ist nichts Abstraktes. Sie gehört zu uns wie das Atmen. Wenn man Glück hat, kann die unheimliche „Lady Angst“ sogar zur Freundin oder Schwester werden. Wenn man sich freundlich auf sie einlässt und sie Vertrauen fasst, kann man durchaus mit ihr reden. Dann ist sie auch bereit zu Kompromissen, gibt sich mit dem Vereinbarten (einigermaßen) zufrieden und lässt einen (mehr oder weniger) in Ruhe. Sie versucht es zumindest. Aber manchmal muss man sie eben auch eine Weile an die Hand nehmen und ihr gut zureden wie einem verstörten Kind. Zum Beispiel in Zeiten der Pandemie.

Gefühlte Bedrohung (freakwave/pixabay)

Es ist schrecklich bis unerträglich, wenn man als Angstmensch nachts im Bett liegt, die Horror-Bilder des Tages ungewollt an einem vorüberziehen und schließlich auch noch das Kopfkino mit all seinen Katastrophenszenen anspringt, daher sollte man zur Prophylaxe rechtzeitig einige Gegenmittel zur Hand haben. Meine Angst macht mir im Moment leider beträchtlich zu schaffen, weil ich ja schon in normalen Zeiten eine ausgewachsene Krankenhausphobie habe und nicht mal Filme mit dem Bergdoktor ertrage! Und dann diese Seuchenbilder jeden Tag!!!! Wenn ich das dräuende Nachttheater abwenden oder eindämmen will, muss ich mich daher nachhaltig um meine Angst kümmern.

Ein gutes (wenn auch etwas zeitaufwendiges) Mittel habe ich gefunden: Ich gönne uns möglichst zweimal am Tag eine halbe Therapiestunde mit der beruhigenden Stimme von Dr. Martin L. Rossman („Guided Imagery“). Von ihm gibt es CDs und Bücher sowohl gegen Stress als auch gegen Angst, und die Entspannungs- und Visualisierungsübungen (innere Bilder haben mir auch in der Therapie immer sehr geholfen) beruhigen meine Angst auch, wenn uns beiden nachts das Herz bis zum Hals schlägt und wir liebend gern endlich wieder einschlafen möchten. Die schlimmen Zeitungs- und Fernsehbilder schaffen es im Moment oft bis in meine Träume, und nachts war meine Angst schon immer besonders anfällig und trostbedürftig. Bevor sie also anfängt, völlig aus dem Ruder zu laufen und mir körperliche Beschwerden zu machen, erkundige ich mich erfahrungsgemäß am besten liebevoll nach ihren Bedürfnissen.

Problempunkt eins: Alice (BFL)

Die Liste – Das kennt sie schon, und bisher hat es immer geholfen. Ich nehme sie in den Arm und frage: „Was macht dir denn eigentlich am meisten zu schaffen? Lass uns mal eine Liste schreiben. Du sagst mir deine drei wichtigsten Probleme, und die gehen wir dann gemeinsam an. Ich komm dir entgegen, und du beruhigst dich wieder.“  Wie üblich hat sie mich auch diesmal verblüfft. Schon komisch, was meiner Angst bei Sars-CoV-2 (wer denkt sich bloß diese bescheuerten komplizierten politisch korrekten Namen aus, um nur ja kein Land und keine Tierart zu beleidigen?) die größte Furcht bereitet. Nicht etwa das Virus oder die Krankheit. Nein, Problempunkt eins ist die Katze! Alice könnte unversorgt bleiben, wenn ich erkranke und unheimliche Maskierte in Schutzanzügen mich in die Isolierstation verfrachten. Oder wenn mitten in der Quarantäne das Katzenfutter ausgeht. Oder wenn es plötzlich gar kein Katzenfutter mehr gibt, wenn Supermärkte und Futterhäuser schließen, weil sämtliche Mitarbeiter erkrankt oder in Quarantäne sind. Oder weil andere Katzenhalter alles leer gekauft haben. Es sprudelt nur so aus ihr heraus. „Katzenstreu hätten wir dann auch keins mehr!“ Bei der Vorstellung muss ich grinsen. Das wäre in der Tat übel. Aber das läßt sich ja ändern. Noch.

Das Riesenpaket (BFL)

Das Paket – Gemeinsam mit meinem kopfschüttelnden Mann schleppte ich noch am selben Tag eine Tasche voll Katzenfutter und fünf Säcke Katzenstreu an. Die stehen jetzt in unserer Garage. Zudem bestellte ich (heimlich, nur im Beisein von Alice und der Angst) im Internet ein Riesenpaket Katzenfutter. Wirklich ein Riesenpaket! Wahrscheinlich hat meine alte Alice damit für den Rest ihres Lebens ausgesorgt. Zum Glück ist der Inhalt bis Ende 2022 haltbar. Beunruhigend (für die Angst) war nur, dass GLS das Paket eine Woche lang nicht lieferte. Vielleicht weil es 24 Kilo wog? Der Angst ging gleich wieder die Fantasie durch. Hatte das Virus den GLS-Fahrer erwischt, in dessen Transportfahrzeug sich unser Paket befand? Täglich kamen Mails mit neuen Zustellterminen. „Sars ist überall“, kreischte die Angst hysterisch. „Immer mit der Ruhe,“ sagte ich, „das kommt schon noch.“ Ich hatte Recht. Heute morgen kam das Paket. Es war so schwer, dass der Bote es kaum tragen konnte. Mein Mann stand entgeistert auf der Treppe und meinte „So groß hatte ich mir das jetzt nicht vorgestellt.“ Ich hatte ihn (selbstverständlich) vorab über Größe und Gewicht des Pakets informiert, hätte ja sein können, dass er es zufällig hätte annehmen müssen. Offenbar hat er mir mal wieder nicht geglaubt. Ich übertreibe selten, aber das lernt er nie. „Du spinnst!“, meinte er. „Aber ich liebe dich trotzdem.“ Ein Glück.

Dummerweise quält sich meine Angst schon mit einer neuen unerwarteten Sorge: Die Viren könnten Haustiere befallen! Sie hat noch eine Horrormeldung entdeckt: „Erster Hund infiziert!“ „Und die Viren stammen ja von Tieren“, erklärt sie. Stimmt. Höchstwahrscheinlich von Fledermäusen, und auf dem Weg zu uns war offenbar eine Schleichkatzenart (der sogenannte Larvenroller!) der Zwischenwirt. Bis vor kurzem wussten weder meine Angst noch ich, dass es dieses Vieh überhaupt gibt. Eigentlich ganz sympathisch mit seiner dunklen Gesichtsmaske, wenn man denn ausblendet, welch üblen Gast er zwischenbewirtet. Apropos Gesichtsmaske: Die standen zu meiner Verwunderung nicht auf der Liste meiner Angst. Fiel mir gleich auf, daher hakte ich nach.

Mundschutz (Ani Kolleshi/unsplash)

„Soll ich auch Atemschutzmasken kaufen?“ Die Angst winkte verlegen ab. „Lieber nicht.“ Also kaufte ich keine, obwohl mein hochsensibles Alarmsystem mich bereits auf diese Möglichkeit aufmerksam machte, als  die Dinger noch haufenweise in den Apotheken lagen und von Hamsterkäufen keine Rede war. Jetzt sind sie nicht mehr lieferbar. Pech. Etliche Bekannte haben inzwischen eindrucksvolle Vorräte gebunkert und berichten stolz davon. Aber meine Angst kriegt unter so was Panikattacken, weil die Dinger ihr Klaustrophobie machen. „Außerdem sind sie nach 20 Minuten von der eigenen Atemluft so feucht, dass sie gar keine Viren mehr abhalten.“ Manchmal klingt sie geradezu vernünftig. Natürlich nur, wenn ihr Vernunft in den Kram passt. Das mit der feuchten Atemluft haben wir in der Zeitung gelesen und auch vom Arzt unseres Vertrauens bestätigt gehört. (Wir sind mit einem Virologen verheiratet.) „Man darf Atemschutzmasken auf keinen Fall anfassen und muss sie dauernd durch frische ersetzen. So viele hat kein Mensch“, doziert die Angst. „Außerdem sollten sie in Zeiten wie diesen dem medizinischem Personal vorbehalten sein, sonst geht denen am Ende der Atemschutz aus. Ohnehin dienen sie mehr dem Schutz der anderen als dem eigenen.“ Erst zum Schluss kommt die Wahrheit ans Licht. „Mich erinnern sie sofort an Zahnarzt“, gesteht die Angst. „Und das macht mich fertig.“ Kann ich verstehen. In Gedanken seh ich uns gleich wieder zusammen verspannt und verkrallt im Behandlungsstuhl sitzen. Das machen wir immer. Zahnarztphobie. Leider. Die Angst verzieht schmerzlich ihr Gesicht. Ich auch.

Punkt zwei auf der Liste waren Medikamente. Fand ich vernünftig. Daher begab ich mich mit den nötigen Rezepten und viel Geld zur Apotheke und deckte mich mit allem ein, was mein Mann, Alice, und ich für mindestens einen Monat brauchen. Für die Angst hab ich auch was geholt. Falls sie Panik bekommen sollte. „Du denkst wirklich an alles“, seufzte sie dankbar, und danach ging es ihr gleich besser. Fehlte also nur noch Punkt drei mit seinen diversen Unterpunkten.

Punkt drei waren Lebensmittel. „Aber übertreib bitte nicht“, sagte ich, „Wirklich nur ein paar Sachen. Wir haben echt genug Vorräte im Spind.“ Die Angst sah das ein, verlangte aber unbedingt mehr Schwarzbrot (hält ewig und lässt sich einfrieren), also kaufte ich vier Pakete, das müsste eigentlich reichen, eine weitere Riesenpackung Teebeutel (original englisch, unbedingt). Dazu noch etliche Behälter H-Milch, Philadelphia Käste und, zu meiner Verwunderung, eine ordentliche Ladung Almased. „Kann man notfalls sogar mit Wasser verdünnen und gut als vollständige Mahlzeit verwenden“, rechtfertigte sich die Angst. „Und dann auch noch Nudeln und Schokolade.“ Genug Nudeln haben wir, das konnte ich ihr ausreden, aber bei Schokolade hatte sie Recht. Ist ein gutes Angstberuhigungsmittel und wirklich sehr lecker. Kann man nie genug von haben. Der Riesenvorrat lagert in meinem Nachttisch. Wir ergatterten dabei auch gleich noch die letzte Packung Klopapier („Durchfall kommt bei Corona ziemlich oft vor“, behauptet die Angst), und das Regal war tatsächlich komplett leer gekauft. Seitdem ist meine Angst zufrieden und hält die Klappe, was Hamsterkäufe betrifft. Aber das war ja auch der Deal, die drei wichtigsten Punkte auf der Liste sind schließlich abgehakt. Fragt sich nur, wie lange die Ruhe anhält. Ich kenne ja meine Angst schon seit über einem halben Jahrhundert. Also echt lange.

Entspannen mit Steinen  (zdenek machacek/unsplash)

Sie bekam dann tatsächlich einen mäßigen Rückfall, als die ersten Corona-Fälle hier in Köln auftraten. „Das kommt mir jetzt aber doch irgendwie zu nah“, murmelte sie unruhig und sah gar nicht gut aus.“ Kannst du vielleicht noch was für mich tun?“ „Und was wäre das?“ „Desinfektionsmittel!“ „Oh Mann, warum hast du das nicht früher gesagt? Das ist jetzt echt schwierig. Morgen ist Sonntag, da sind die Läden zu. Und ich hab keine Lust, heute noch deswegen nach Köln rein zu fahren. Dazu müssten wir dann ja auch die Bahn nehmen. Also akute Virengefahr.“ Das konnte ich mir nicht verkneifen, denn ich war sauer (und faul). „Kannst du nicht wenigstens mal gucken?“ nervte sie weiter. „Nur gucken!“ Okay. Gucken ging. Ich versuchte es. Mein Mann auch. Aber Gucken war nicht. In sämtlichen Läden hier im Viertel (viele sind es zum Glück nicht) war das Zeug total ausverkauft. Wie erwartet. Derzeit nicht lieferbar. Liefertermin unbekannt. Die Angst wurde ob dieser Nachricht noch bleicher. „Vielleicht im Internet?“ Bei amazon genau dasselbe. Nur bei ebay gab es das Zeug noch. Ich verschob die Angelegenheit trotzdem auf Sonntag, weil mir das Ganze einfach zu blöd war. Aber nachts gab die Angst wieder mal keine Ruhe. „Bitte probier es noch mal! Sonst schleppt uns hier jemand die Viren rein! Aber es muss unbedingt viruzid sein. Und dann musst du sofort alle Klinken damit abwaschen.“ Hat sie auch wieder irgendwo gelesen. Sie liest eine Menge, weil sie ständig neben mir sitzt oder mir über die Schulter schaut. Manchmal liest sie auch zwischen den Zeilen und durch die Blume.

Sonntagmorgen, als mein Mann in der Kirche war („Hoffentlich schüttelt er da keinem die Hand!“ kommentierte die Angst besorgt.) und keiner uns beobachtete (außer Alice), hockten wir wieder vor dem Computer. Die Angst war reichlich aufgeregt. Das Zeug war bei ebay zwar extrem überteuert, aber was macht man nicht alles für seine Angst, vor allem, wenn sie plötzlich anfängt, wie Espenlaub zu zittern. „Sollen wir jetzt bieten oder was?“ „Bloß nicht, das dauert viel zu lange.“ „Okay. Wollte ja nur nachfragen.“

Ich war nicht die einzige, die in diesem Moment mit ihrer Angst in den Rechner starrte und scharf auf Desinfektionsmittel war. Bei den ersten Versuchen scheiterte ich kläglich, es blieb mir nicht mal genug Zeit, das angepeilte Mittel in den virtuellen Einkaufswagen zu legen, da war es bereits weggeschnappt. 20 Flaschen von 20 in der letzten Stunde verkauft! Angebot beendet! Langsam wurde auch mir mulmig. Das war in der Tat unheimlich. Erst beim fünften Versuch klappte es endlich, aber auch nur, weil ich Sofortkauf wählte. Ich sah die Angst vorwurfsvoll an. „Du weißt, wie bescheuert das ist. Völlig irrational! Wir wollten doch sparen! Nochmal mach ich das nicht. Das war jetzt wirklich schweineteuer. Außerdem kommt es per Post. Du musst also noch tagelang warten. Und vielleicht ist es auch schon verfallen oder gepantscht.“ „Oh Gott“, jammerte die Angst und fing schon wieder an, sich aufzuregen. „Vielleicht kriegt der Verkäufer ja vorher noch Sars und kann es dann gar nicht mehr schicken.“ Das hätte ich mir besser verkniffen, die Angst wurde ganz grün im Gesicht. Schnell ablenken!

(purpleshorts/pixabay)

Das Wichtigste! (purpleshorts/pixabay)

„Wir haben ja  Seife“, sagte ich. „Seife ist gut, und Händewaschen ist ohnehin das Beste. Besser als Desinfektion, auch für die Haut.“ (Meine Haut ist höchst hochsensibel.) „Aber wir haben keinen Seifenvorrat“, stöhnte die Angst. Allmählich ging sie mir voll auf den Senkel.  „Guck doch mal, ob du hier im Haus noch ein Desinfektionsmittel findest!“ Offenbar war ihr Druck so stark, dass sie sofortige Entlastung brauchte. „Aber dann ist wirklich Schluss!“ Das war mein voller Ernst, denn ich hatte noch anderes vor an diesem Tag, und das spürte sie natürlich, denn sie kennt mich ja genauso gut wie ich sie. „Versprochen! Ehrenwort!“ Also suchte ich, während sie hinter mir stand und nervös zitterte.

In irgendeinem Schrank in den Tiefen des Hauses wurde ich tatsächlich fündig, nachdem ich mir stundenlang fluchend einen Wolf gesucht und alles in Unordnung gebracht hatte. Ich fand sogar zwei Mittel. Beide schon ewig verfallen. Seit 2007. Aber sie waren mal viruzid, wie wir auf dem Etikett lesen konnten. „Besser als nichts!“ stöhnte die Angst. „Da ist ja vor allem Alkohol drin, der wird nicht schlecht, und den überleben die Viren dann vielleicht nicht.“ Jetzt reichte es mir endgültig. „Viren können gar nicht überleben“, wies ich sie zurecht, „die sind nämlich überhaupt nicht lebendig. Die sind irgendwas zwischen lebendig und tot. Nur verpacktes Genmaterial mit einer blöden Lipidhülle drum.“ Die Angst war nicht amused. „So was wie Zombies etwa?“ „Genau. So was wie Zombies!“ Manchmal kann ich erstaunlich hart sein. Man muss mich nur lang genug nerven. Danach hielt die Angst vor Schreck den ganzen Nachmittag den Mund.

Entspannen mit Seife (silviarita/pixabay)

Eigentlich halten wir uns wirklich wacker. Aber als ängstliche Hochsensible mit Neigung zu Angststörungen und Panikattacken kann man sich noch so tapfer gegen die Flut der Sätze und Bilder stemmen, irgendwann erwischt es die arme Angst doch wieder. Wenn es nicht unheimliche Desinfektionsmittel-Sprayer (sehen die nicht aus wie seelenlose Aliens oder Roboter?) oder zum Bersten volle Intensivstationen sind (vom Erschrecken über Flüchtlingsströme, hungernde Kinder, grausame Kriegsszenen, bildgewaltige Erinnerungen an KZs und Bomben auf Köln, Heuschreckenplagen in Ostafrika und schmelzende Polen ganz zu schweigen), verliert die Angst regelmäßig die Fassung, wenn sie die widersprüchlichen Meldungsfluten liest. (Ähnlich wie bei „Teile meiner Antwort könnten die Bevölkerung verunsichern.“)

Kein Grund zur Panik“ steht gleich neben „Coronavirus zehnmal so tödlich wie Influenza“ und „Minister sieht keinen Anlass für Hamsterkäufe“ direkt über „Diese Notvorräte empfiehlt die Bundesregierung“ (mit langer Liste). Unsere zaghafte Hoffnung „Es wird mich schon nicht erwischen“ zerschmettert schnell an Schlagzeilen wie „Tödliche Seuche auf dem Vormarsch“, „Virologe sicher: 70 Prozent der Deutschen bekommen das Virus“. „Außerdem sind die Louvre-Mitarbeiter im Corona-Streik“, sagt meine bestens informierte Angst. „Und der Papst hat bei seinem letzten Auftritt ganz schrecklich gehustet, dabei hat er nur noch eine Lunge, hoffentlich stirbt er jetzt nicht, und in Italien werden ab sofort keine Gottesdienste mehr gefeiert! In Italien! Also muss das echt schlimm sein! Und im Dom bleiben die Weihwasserbecken leer, und im Fernsehen gibt es eine Sondersendung zum Virus nach der anderen.“ Jetzt geht die Litanei schon wieder los! „Und Schweine haben Flügel“, sage ich trocken. „Hör endlich auf mit dem Mist.“ Tut sie aber nicht.

„Gestern stand da noch: Zahl der Coronavirus-Infektionen in Deutschland hat sich seit Freitag mehr als verdoppelt“, jammert sie. „117 nachgewiesene Infektionen in Deutschland stand da. Heute sind es schon 150!“ (Kleiner Nachtrag: heute sind es mehr als 170, und das hat sie leider auch schon wieder mitgelesen.) Sie starrt aufs Handy und liest laut vor: „Das Coronavirus SARS-CoV-2 breitet sich rasant aus. In Italien schnellt die Zahl der Toten nach oben. Robert-Koch-Institut und EU haben Risiko-Einschätzung angehoben. Wie soll ich da ruhig bleiben?“ „Influenza ist viel schlimmer“ sage ich, um sie zu beruhigen, auch wenn ich es besser weiß, denn es ist schließlich ein neues Virus. „Und dagegen sind wir geimpft. Sogar gegen Pneumokokken und Gürtelrose, nur weil du das wolltest. Mehr kann ich wirklich nicht tun.“ Die Angst sieht mich schuldbewußt an. „Ich mein ja auch nur.“ Die arme Angst.

„Weißt du was“, schlage ich vor, „Wir machen uns jetzt einen schönen starken Tee! Dann gucken wir uns ein paar ruhige Bilder an (am besten wirken bei ihr Steine, Strände und Wasser), und dann legen wir uns auf die Couch.“ Mit der wohltönende Stimme von Dr. Martin L. Rossman im Ohr. Er spricht Amerikanisch mit uns, und das allein wirkt Wunder. Selbst bei der Angst. Sie ist genau wie ich ziemlich anglophil. Britisches Englisch wäre zwar noch einen Tacken schöner (trotz Brexit), aber wir wollen nicht undankbar sein.

Entspannen mit Strand (Simon Rae/unsplash)

Apropos Englisch: Der Satz „Keep calm and wash your hands“ gehört zu den besten, die ich in der letzten Zeit gelesen habe. Ich habe ihn sofort der Angst gezeigt und auf Facebook geteilt. Besonders gelungen ist das große Stück Seife, das langsam durchs Bild flutscht. Seife ist so wunderbar! Das findet auch die Angst.

„Kannst du nicht noch mehr davon kaufen?“ „Das hatten wir doch schon“, sage ich. „Und Flüssigseife ist momentan ausverkauft, das weißt du doch. Leider auch die mit den Fischen drin.“ Fische findet sie auch gut. „Wir haben vielleicht noch was im Keller“, sagt die Angst. „Oder in der Garage. Da sind ja auch Waschbecken.“ „Weißt du was“, schlage ich vor, „wir laden dir jetzt noch ein paar neue Seifenbilder runter! Die kannst du dann angucken, so lange du willst. Das hilft dir bestimmt. Und jetzt trinken wir erst mal Tee. Und danach machen wir Guided Imagery mit Dr. Martin L. Rossman.“

Es wirkt! Ihr Atem wird ruhiger, sie starrt verzückt auf das Seifenbild und wird langsam tiefenentspannt. Zumindest für den Moment.

Entspannen mit Seife (silviarita/pixabay)

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