Winter Feeling

„Enchanted Branches“ (Simone Garland)

Dieser Winter gehört sicher zu meinen bisher produktivsten, denn ich habe viel Neues geschrieben, und den Roman, an dem ich schon so lange „poliere“ endlich los gelassen und in die noch eisige Welt hinaus geschickt. Nun muss die kleine Marigard allein bestehen, ohne mich. Ein bisschen einsam fühle ich mich ohne die ständige Nähe meiner Figuren, aber in jedem Abschied liegt auch ein Neubeginn. Jetzt ist mein Kopf endlich wieder frei für ein anderes Buch, für eine andere Geschichte. Ich wünsche meinem jüngsten Romankind, dass ihm recht bald starke Flügel wachsen, die ihn zu seinen Lesern tragen. Alles, was in meiner Macht steht, habe ich getan.

„Frozen Falls“ (Simone Garland)

Außerdem habe ich mich schon die ganze Zeit darauf gefreut, wieder einige von Simone Garlands stimmungsvollen Schneebildern zeigen zu können und meiner Fantasie beim Betrachten und bei der Titelfindung freien Lauf zu lassen. In Kanada war es diesmal wieder besonders frostig, genau wie in den USA, wo ein Jahrhundertwinter die Menschen das Fürchten lehrt. (Schon komisch, dass der derzeitige US-Präsident so gar nicht versteht, dass auch die extreme Kälte mit der zunehmenden Erderwärmung zu tun hat. Aber das hatte ich, ehrlich gesagt, auch nicht anders erwartet.) Selbst die Niagara Fälle sind teilweise wieder zu eiskalter Pracht erstarrt. Wie gern würde ich sie selbst einmal sehen, doch ich habe es bisher immer nur an die Westküste der Vereinigten Staaten geschafft.

„Snow Garden“ (Simone Garland)

Es macht mich ein wenig traurig, dass ich nicht mehr freudig nach draußen laufen kann, sobald ich vor den Fenstern die Schneeflocken tanzen sehe. Mit zunehmendem Alter kommt leider auch die Angst, auszugleiten und zu fallen. Zu genau kann ich mich daran erinnern, dass genau dies meinen Eltern passierte – mehrmals und zum Schluß immer häufiger. Meine Mutter stürzte einmal sogar an Heiligabend und musste Weihnachten mit gebrochenem Oberschenkel im Krankenhaus verbringen. Im Grunde hat sie sich von diesem Fall nie richtig erholt. Die Angst hat sich daher dauerhaft in meinem Gehirn eingenistet. Nein, fallen möchte ich auf keinen Fall. Auch Simone war die kalte kanadische Pracht nach einem bösen Treppensturz in diesem Jahr übrigens so leid, dass sie davonflog in die Wärme, aber wunderbare neue Fotos hat sie trotzdem gemacht.

„Winter Glow“ (Simone Garland)

Mir gefällt der Winterhimmel sehr. Meine Oma sagte früher immer „Die Engelchen backen“, wenn der Himmel leicht bis schwer errötete, und bis heute fällt mir der Satz beim Anblick der frostigen Abendröte jedes Mal ein. Genau wie ein Satz meines Opas beim sommerlichen Zusammentreffen von Regen und Sonne: „Jetzt kommt ein Schneider in den Himmel!“ Er war übrigens selbst Schneider. Und wenn es unerwartet an der Tür klopfte, pflegte er lachend zu sagen: „Nur herein! Wenn’s kein Schneider ist!“ Schon merkwürdig, welche Sätze im Gedächtnis eines Kindes hängen bleiben. Ich habe viel an meine Oma gedacht in den letzten Wochen, vor allem bei meinem vorigen Beitrag über „Mariä Lichtmess“. Wie viele Jahrzehnte hatte ich unseren Besuch der Kirche zum „Kerzenweihen“ vergessen! Die wiedergefundene Erinnerung war ein richtiges Geschenk.

„Not quite fifty Shades of Purple“ (Simone Garland)

Da ich schon seit vielen Jahren Porzellan bemale und wir unsere Farben immer selbst aus Pigmentpulver anmischen, fallen mir beim Anblick der zarten Winterwolken und Winterfarben natürlich auch gleich die vielen kleinen Gläser in allen Farben ein, aus denen wir mit Dicköl und Terpentin unsere Lasuren zaubern. Es gibt gleich mehrere Sorten Purpur, und wenn ich das Bild oben farblich nachmalen müsste, würde ich als erstes zu den Gläsern mit Rosenpurpur, Mittelpurpur und Hellviolett greifen. Ich muss mir morgen unbedingt die anderen Gläschen ansehen, deren Namen mir grade nicht einfallen wollen. Gerade die alten Meissener Porzellanfarben haben zum Teil sehr poetische Namen.

„Polar Bear Icycles“ (Simone Garland)

Dieses Bild von Simone erinnert mich spontan an zotteliges Tierfell, ein wenig sieht es nämlich aus, als stünden hier mehrere Eisbären nebeneinander, zwei große und viele kleine. Richtige Eiszapfen habe ich hier schon lange keine mehr gesehen. Früher hingen sie an den Regenrinnen der Häuser, manchmal auch an den Fenstern. Und Gucklöcher in gefrostete Scheiben habe ich auch schon ewig nicht mehr gemacht. Das ging sehr gut mit einer angewärmten Münze, aber auch mit kräftigem Hauchen. Man musste nur aufpassen, dass einem die Lippen dabei nicht am Eis kleben blieben. Genau das ist mir als Kind mal passiert, und es war alles andere als angenehm!

„Crispy Road“ (Simone Garland)
Snow Lady (BFL)

Immerhin habe ich vorige Woche eine winzige Schneefrau gebaut. Der Schnee war dazu nicht ideal, aber es musste einfach sein. Sie stand ein paar Tage auf dem Tisch und veränderte jeden Tag ihr Aussehen, weil ihre Augen partout nicht an Ort und Stelle bleiben wollten. Die ersten Augen waren kleine Perlen, danach bekam sie Trockenfutteraugen. Ich fürchte die Mäuse, die sich hier jeden Abend ihre Käsestückchen holen, haben sie gefressen. Es sei ihnen gegönnt, denn die kleine Schneefrau hat ja zumindest als Foto alles heil überstanden. Ich muss bei ihrem Anblick an den Zeichentrickfilm „Der Schneemann“ denken, in dem ein dicker großer Schneemann mit einem kleinen englischen Jungen hoch über die Felder und Wälder fliegt – direkt zum Weihnachtsmann. Dazu hört man im Film ein Lied, das ich dazu auch gleich im Kopf habe: „We’re walking in the Air“. Das werde ich mir jetzt gleich mal anhören.

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Lichtmess und Imbolc – Maria und Brigid

Luna Moonhare (Wendy Andrew)

Die Tage werden länger, das Licht verändert sich, es wird wieder heller. Ich fand es fast ein bisschen berauschend, heute morgen mit geschärften Sinnen durch meinen Garten zu wandern. Schneeglöckchen und Winterlinge blühen schon, und die ersten Krokusse bahnen sich zartblau und lila den Weg durch die harte Erde. Die Luft war angenehm kühl und klar, ich konnte sie tief einatmen und frisch durch meine Lungen strömen lassen. An einigen Stellen gibt es noch Schneenester, ein paar Teichpunkte sind noch vereist, aber der Rest des Gartens zeigt erste Anzeichen von Frühling. Ich ging bewusst „der Nase nach“. Einige Sträucher blühen gerade, etwa die Japanische Zieraprikose (Prunus mume). Besonders eindrucksvoll sind die intensiv nach Maiglöckchenen und Veilchen duftenden Geißblattsträucher (Lonicera purpusii) und die pfeffrig und zitronig duftende Zaubernuss (Hamamelis). Eigentlich ist sie ja ein Strauch, aber in unserem Garten hat sie die stattliche Größe von mehreren Metern erreicht und sieht eher aus wie ein Bäumchen. Mir gefällt ihr englischer Name: witch hazel. Hexenhasel.

Luna Moon Hare am Winterhimmel (Wendy Andrew)

Im letzten Jahr habe ich mir vorgenommen, die acht keltischen Jahresfeste angemessen zu feiern und vor allem den Mond genau zu beobachten. Ich versuche, mir seine (eigentlich sind es ja „ihre“, denn in den meisten Sprachen ist der Mond eine „Mondin“) schönen deutschen und indianischen Namen zu merken. Drei Vollmonde habe ich bereits zwischen unseren Bäumen bewundert. Im November den Nebelmond oder Nebelung (Beaver Moon, Frosty Moon), im Dezember den Kalten Mond oder Julmond (Cold Moon), und im Januar den Wolfsmond oder Hartung (Wolf Moon), der in diesem Jahr besonders intensiv war, denn er war gleichzeitig auch ein Blutmond. Leider habe ich davon nicht viel sehen können, jedenfalls nicht von unserem Haus aus. Dabei bin ich in der Nacht extra um sechs aufgestanden!

Die acht keltischen Jahresfeste (Wendy Andrew, aus „Luna Moon Hare“)

Der Februar ist ein geheimnisvoller Monat. Sein Name geht zurück auf das lateinische Wort „februare“, das „reinigen“ bedeutet. Es ist die Zeit des Frühjahrsputzes und der Reinigung, die Zeit, sich von Altem zu trennen, um Platz für Neues zu schaffen. Der Februar Vollmond heißt Schneemond, Milchmond oder Hornung, früher hieß er auch Stummer Mond (Snow Moon, Hunger Moon, Milk Moon). In meiner Kindheit markierten den Anfang des Monats zwei besondere Feste, an die ich mich noch gut erinnern kann. Damals endete die Weihnachtszeit erst nach 40 Tagen. Erst an diesem Tag wurden in den katholischen Häusern und Kirchen Krippen und Christbäume abgebaut.

(Foto: pixabay)

Der erste besondere Tag hieß „Mariä Lichtmess“ und war eindeutig weiblich geprägt (seit 1970 steht die „Darbietung des Herrn“ im Vordergrund) und das Fest der Kerzen und Lichter. „Als ich klein war, gab es sogar richtige Lichterprozessionen“, erzählte meine Oma. Aber leider gab es die in meiner Kindheit offenbar nicht mehr. Meine Oma, die selbst Maria hieß, nahm mich morgens mit in unsere Dorfkirche, und wir ließen unsere Kerzen weihen. Wir hatten sehr viele dabei, zwei Taschen voll. Die meisten Kerzen waren lang und weiß, aber verschieden groß und dick. Zur Kerzenweihe nahmen wir auch die Kerzen von Verwandten mit, die an dem Morgen keine Zeit hatten, weil sie arbeiten mussten oder krank waren. Damals war es wichtig, stets geweihte Kerzen im Haus zu haben, und neben der Eingangstür hing auch immer ein kleines Gefäß mit Weihwasser, hinter dem der kleine Palmzweig steckte, der jedes Jahr an Palmsonntag gesegnet wurde. Wir zündeten in meiner Kindheit übrigens auch bei Gewitter oder Unwetter Kerzen an, die sogenannten „Wetterkerzen“. Auch die Kirchenkerzen, die im Laufe des Jahres in der Kirche brennen würden, wurden an diesem Tag geweiht – Altarkerzen, Kommunionkerzen und Taufkerzen. Alle wurden gesegnet und mit Weihwasser besprengt. „Das Fest heißt auch Mariä Reinigung“,erklärte meine Oma. 40 Tage nach der Geburt eines Sohnes wurden die Mütter nämlich wieder „eingesegnet“. Bis dahin galten sie als „unrein“, was mir höchst ungerecht vorkam. „Mariä Reinigung“? Wieso sollte eine Frau „unrein“ sein, nur weil sie ein Baby bekommen hatte? Oma erklärte mir, dies sei ein sehr feierlicher Akt, aber so richtig konnte ich ihr das nicht glauben.

(Foto: pixabay)

Heute bin ich oft dankbar dafür, dass ich mitten im Marienkernland am Niederrhein groß geworden bin, wo im Volksglauben die Große Göttin in Form der Muttergottes noch eine enorme Bedeutung hatte – und wohl immer noch hat. So leicht ließ sie sich hier nicht vertreiben, überall stehen ihre Kirchen und Kapellen, und im Mai bekam sie ihren eigenen Maialtar und eigene Andachten mit schönen Liedern. Soweit ich mich erinnere, beteten meine Oma und meine Großtanten ausschließlich zu Maria. Ansonsten höchstens zum heiligen Antonius, wenn sie mal wieder Sachen verlegt und verloren hatten. „Auf den ist meistens Verlass“, sagte Oma, und sie hatte Recht. Durch die Omnipräsenz von Maria bekam ich schon früh ein Problem mit der (männlichen) Dreifaltigkeit, auch wenn man sich den heiligen Geist durchaus weiblich vorstellen kann, denn er verkörpert im Grunde die Lebensenergie und die Schöpfungskraft, also ein mütterliches Prinzip. Leider heißt sie trotzdem der Geist im Deutschen, was mich nicht überzeugte. Im biblischen Urtext steht für das deutsche Wort Geist „ruach“ (Hebräisch) im Alten Testament sowie „pneuma“ (Griechisch) im Neuen Testament. Beide lassen sich mit Hauch, Luft oder Wind übersetzen. Trotzdem fehlte mir Maria! Nachhaltige Beruhigung trat erst ein, als ich irgendwann die Große Göttin in all ihren Manifestationen und mit all ihren Namen entdeckte.

Die drei Matronen in Nettersheim (BFL)

Der Wallfahrtsort Kevelaer war nicht weit, aber wirklich gefreut hat mich die Erkenntnis, dass ausgerechnet in meiner Gegend in der Römerzeit (70-240 n Chr.) drei ungewöhnliche Göttinnen verehrt wurden: die drei Matronen. Sie entsprechen in vielem der keltischen Dreiheit Maiden, Mother, Crone (Jungfrau, Mutter, weise Alte). Doch das wusste ich als Kind leider noch nicht, auch wenn die Niers schon früh mein Seelenfluss war, mit dem ich gelegentlich sogar „sprach“. Merkwürdigerweise hatte ich auch immer das Gefühl, dass ich eine Antwort bekam. In der Tat gab es genau dort zur Römerzeit einen Stein für die drei Niersmatronen. Sie kommen auch in einer meiner Erzählungen vor, die „Nebel über der Niers“ heißt.

Brigid und Zaubernuss (BFL)

In Irland ist der 2. Februar der Tag der heiligen Brigid, die wahrscheinlich aus einer alten heidnischen Licht- und Frühlingsgöttin hervorging und dann kurzerhand zur Heiligen erklärt wurde, weil sich ihre Verehrung nicht unterdrücken ließ. Das alte Fest heißt auf Englisch Imbolc (bei uns Imbolg – wahrscheinlich bedeutet es „im Bauch“), und wird vom Sonnenuntergang des 1. bis zum Sonnenuntergang des 2. Februar gefeiert. In der Göttinnen-Triade verkörpert sie das junge Mädchen, die jungfräuliche Göttin, also die Maiden. In Irland hat sie ein eigenes Symbol, das Brigid-Kreuz. Es soll das Haus und seine Bewohner beschützen. Vor vielen Jahren habe ich mir aus Irland so ein Kreuz mitgebracht. Seitdem hängt es hier im Haus, doch bis vor kurzem habe ich es nie richtig „gewürdigt“. Diesmal wollte ich die Jahrestage bewusster begehen, sowohl den alten Lichter-Kerzen-Tag, der mich so an meine Oma erinnert, als auch das Fest von Brigid, deshalb habe ich viele Kerzen angezündet und mir eine Brigid-Figur gemacht. Traditionell ist sie aus Stroh, Bast oder Binsen, aber da ich nichts davon hatte, bekam meine Brigid ein Kleid aus frühlingsfarbenen Bändern. Brigid ist eine Lichtbringerin, ihr Element ist das Feuer, und sie trägt das neu erwachte Licht, eine hell leuchtende Flamme in den Händen. So bringt sie Wärme und Erleuchtung in die kalte Zeit und beschützt das neu geborene Leben. 

Am 3. Februar gingen wir übrigens gleich wieder in die Kirche und holten uns den Blasius Segen, an den ich allerdings bald nicht mehr glaubte. Wie konnte der heilige Blasius nur zulassen, dass ich ausgerechnet am Tag meiner Erstkommunion Mumps hatte, mit meinen dicken Backen aussah wie ein veritables Hamstermonster und gleich nach der Messe wieder ins Bett musste?

softly to Avalon (Wendy Andrew)

Die Bilder von Luna Moon Hare stammen aus dem gleichnamigen Buch von Wendy Andrew, einer britischen Künstlerin, die u.a. Karten, Poster und ein wunderschönes „Goddess Wheel“ gestaltet hat. Sie hat eine Homepage, die Painting Dreams heißt, hier ist der Link: Wendy Andrew . Thank you so much for your pictures, Wendy!

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Nur eine Frage der Zeit

Die stille Zeit ist vorüber. Schon Februar! Den Christbaum habe ich wie immer am Dreikönigstag entschmückt, ein paar Tage später mit leichtem Bedauern die Adventskalender abgehängt und sämtliche Weihnachtskarten bis auf eine (der Hase ist einfach zu schön!) aus dem echt britischen Kartenhalter gepflückt und im Kartenkarton verstaut. Unsere provenzalische Krippe habe ich erst letzte Woche abgebaut. Die kleinen Tonfiguren stehen jetzt wieder in ihrer Vitrine, wo sie (zumindest für mich) das ganze Jahr über sichtbar sind. Im Laufe der Zeit sind es immer mehr geworden. Ungefähr siebzig müssen es schon sein, Tiere mitgerechnet. Häuser, Bäume und Laternchen liegen jetzt in der Krippenkiste und müssen im Dunkeln auf den nächsten Jahresauftritt warten. Alles hat seine Zeit.

(Foto: pixabay)

Schmücken und Abschmücken (genau wie Weihnachten und Silvester) machen mich immer irgendwie traurig. Wohl weil ich mir dabei zu viele Gedanken mache. Über die Vergänglichkeit. Über die Vergangenheit. Die Zeit im Allgemeinen. Tempus fugit. Die Zeit rast! Im Sauseschritt! Schon wieder Weihnachten! War das nicht grad erst? Schon wieder abschmücken! Ich hab den Baum doch gestern erst geschmückt! Schon 2019! Ist es wirklich schon ein halbes Jahrhundert her, dass ich zum letzten Mal mit meinem Vater Moos für die Krippe gesammelt habe? Schon zwanzig Jahre, dass meine Mutter an Heiligabend ihren speziellen Heringssalat gemacht hat? Ist sie wirklich schon seit acht Jahren tot? Und mein Vater seit sechs Jahren? Ist es wahr, dass alle unsere Enkel schon zur Schule gehen? Dass von meinen Katzen nur noch eine lebt? Wo ist die Zeit geblieben? Time is a jetplane! Möglicherweise ein ganz normales Gefühl, wenn man älter wird. Die Zeit wird immer kostbarer, aber leider auch immer knapper. Man darf sie nicht verschwenden, nicht vertrödeln, nicht verlieren und ihr nicht hinterherhinken. Festhalten kann man sie wohl nur mit der Kamera oder vielleicht mit dem Füller oder der Computertastatur. Wenn man Glück hat. Kontrollieren kann man sie leider auch nicht. Zurückdrehen oder anhalten schon gar nicht. Das kann sie nur selbst. Und hadern sollte man besser auch nicht mit ihr. Oder ständig über sie jammern. Das mag sie nämlich nicht, wie ich seit kurzem weiß.

(Foto: pixabay)

Weihnachten war diesmal ein echter Reinfall. Die Nordmanntanne war eindeutig von einem potenten Kater besprüht worden, was zum Glück nur meine (hochsensible) Nase (leider ziemlich massiv) störte, und ausgerechnet an Heiligabend setzte mich eine Lebensmittelvergiftung schachmatt. Der Ziegenkäse hatte zwar seine Mindesthaltbarkeitszeit noch lange nicht erreicht, schmeckte aber irgendwie komisch, was mir meine (hochsensiblen) Geschmacksknospen deutlich signalisierten. Hätte ich doch nur auf sie gehört! Aber ich war nun mal mitten beim Baumschmücken und Zeithadern und voll im Stress. Immer dieser Zeitdruck! In der folgenden Nacht ging es los, und danach war ich so krank, dass wir die Feiertage und das Familienessen „verschieben“ mussten. Ich lag flach, konnte weder essen noch trinken und war sogar zu krank zum Lesen und Fernsehen. Was bei mir extrem selten vorkommt. Diese Übelkeit! Wie bei einem akuten Anfall von Seekrankheit wünschte ich mir nur noch, mein Bett möge bitte sofort und auf der Stelle mit mir untergehen. Die stechenden Kopfschmerzen bitte gleich mit!

Ich hätte die Zeit liebend gern totgeschlagen, ich wusste nur nicht, wie. Sie muss es gespürt haben, denn zu meiner großen Verblüffung trat sie plötzlich neben mein Bett. Und stand wahrhaftig still! „Ich kann auch anders!“, sagte sie leise. „Merk es dir gut, bevor du wieder anfängst zu jammern, weil ich angeblich zu schnell bin!“ Daraufhin wechselte sie vor meinen Augen in den niedrigsten Schneckentempo-Gang, den man sich vorstellen kann. Und verschwand. Vier Tage und vier Nächte lang ließ sie mich völlig links liegen. Erst als ich anfing, mich wieder etwas besser zu fühlen, lächelte sie, startete durch und beschleunigte auf Normaltempo.

Seitdem rast sie in alter Frische. Mit einer kurzen Unterbrechung. Das war Mitte Januar. Ich hatte mal wieder den halben Tag mit ihr gehadert und vor lauter Zeitdruck meine guten Vorsätze vergessen. Alte Gewohnheiten wird man nun mal nicht so leicht los. Es begann hoffnungsvoll. Ich hatte keine Lebensmittelvergiftung, und wir konnten die geladenen Gäste empfangen und bewirten. Alles war bestens vorbereitet. Bloß die Quiche Lorraine musste noch aus dem Ofen geholt werden. Dummerweise löste sich beim Heben der Metallring vom Inneneinsatz und rutschte mir auf den (unbedeckten und überaus hochsensiblen) Unterarm. Es tat so höllisch weh, dass ich die Quiche sofort fallen ließ. Spontanreflex. Glucksend kippte sie kopfüber zurück in die offen stehende Backofentür und zerbarst in unzählige zitternde Stücke. Irgendwie schaffte ich es, die Wabbelteile schnell in eine Schüssel zu schaufeln, bevor ich das Coolpad (man sollte wirklich stets so einen Gel-Eisbeutel parat haben) aus dem Kühlschrank riss und auf den flammenden Arm presste. Das Malheur tat so weh, dass ich am liebsten geheult hätte.

Die bemerkenswert stoischen Gäste verzehrten mit Todesverachtung den größten Teil der Unglücksquiche, die alle Anwesenden stark an Kaiserschmarren erinnerte. Sie schmeckte gar nicht mal schlecht. So lange man sie beim Essen nicht ansah. Ich selbst konnte weder die Schmarren-Quiche noch das perfekte Parfait genießen und rannte immer wieder in die Küche, um meinen schwer entflammten Arm unter eiskaltes Wasser zu halten. Die Stelle, an der mir die Käse-Ei-Füllung auf die Haut geblubbert war, machte Anstalten, sich in eine riesige Blase zu verwandeln, und die Stelle, an der mich das Metall getroffen hatte, mutierte zu einer langen feuerroten Linie.

Wieder zeigte mir Frau Zeit eindrucksvoll, wie endlos langsam ihr Zeitlupengang sein kann. Nach etwa fünf Stunden Ewigkeit hörte mein Arm schlagartig auf zu schmerzen, was mich sehr verwunderte und mit tiefer Dankbarkeit erfüllte. Er sah zwar immer noch nicht schön aus (das tut er auch jetzt noch nicht), aber er tat wenigstens nicht mehr weh. Und es gab auch keinen Rückfall. Vielleicht lag es am Coolpad und an den vielen Eisklümpchen, die ich dauernd auf mir schmelzen ließ. Aber vielleicht hatte Frau Zeit diesmal tatsächlich etwas schneller Erbarmen mit mir, weil sie sah, dass ich ihre Message nachhaltig kapiert hatte. Jedenfalls schaltete sie wieder zurück auf „normal“. Wie beruhigend. Ich lasse sie jetzt in Ruhe rasen, arbeite fleißig an meiner Stressresistenz und werde mich in Zukunft zurückhalten mit zeitkritischen Äußerungen. Sie wird schon wissen, was sie tut.

(Foto: pixabay)
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Mülhausen revisited – vertraute Ecken

Altes Physikhaus und Villa Bongartz (BFL)

Auch wenn sich die Liebfrauenschule im Laufe der Jahre sehr verändert hat, gibt es immer noch vertraute Stellen, zum Beispiel die weiße Villa Bongartz und das alte Physikhaus. Beim Anblick der dunklen Backsteinmauern fiel mir gleich der denkwürdige Morgen ein, an dem wir nach einem mißglückten Experiment gemeinsam mit Schwester Irmengarde hustend und nach Luft ringend aus dem Gebäude fliehen mussten, weil es unerträglich nach faulen Eiern stank. Erst unter dem Dach des Kastanienbaums wurde es besser. Danach war es nur noch lustig. Sogar für Schwester Irmengarde.

Stiller Flur (BFL)

Die hellen, stillen Flure mit den verzierten Bögen und dem kühlen Schachbrettboden mochte ich schon immer, und ich meine mich zu erinnern, dass die dunkle Tür zu meiner Schulzeit schon ganz genauso aussah. Schade, dass der besondere Klosterschulenduft, auf den ich mich so gefreut hatte, komplett verschwunden ist. Es war eine eigenwillige Melange aus Steinkälte, Bohnerwachs, Möbelpolitur (in der Kapelle ergänzt durch diverse Kerzen-, Weihrauch- und Blumennoten) und allerlei Undefinierbarem. Wenn ich einen Namen dafür finden müsste, wäre es wohl am ehesten „feierlich“ oder einfach nur „klösterlich“. An anderen Orten, einmal sogar in einem englischen Internat, habe ich die kühle Melange sofort wiedererkannt, aber leider trotz meiner hochsensiblen Sinne nie genau analysieren können. Die Klassenräume riechen heute auch nicht mehr „richtig“. Vielleicht liegt es an der modernen Technik? Kreide, Tafeln, Schwämme und Tafellappen sind ja auch auf Nimmerwiedersehen verschwunden.

Tür zum Hof (BFL)

In den Sechziger Jahren

Am Anfang unserer Schulzeit verfügte das Kloster noch über eigene Ställe und Dienstbotenhäuschen, die jedoch bald der großen neuen Sporthalle weichen mussten, genau wie der verwunschene Kräutergarten. Neben dem Hauptgebäude stand das Physik- und Chemiehaus. Das verwinkelte alte Schulgebäude ging in einen langen Küchentrakt über, der den bedauernswerten Schülerinnen des F-Zweigs vorbehalten war, die hier in Kochen und Hauswirtschaftslehre unterrichtet wurden. Die Ärmsten mussten außerdem stricken und nähen, bis ihnen die Finger abfielen. Wir wollten auf jeden Fall in die G. Erziehungswissenschaft interessierte uns nicht, Handarbeit kam nicht in Frage, und Kochen fanden wir todlangweilig. Den ganzen Tag im Kittel am heißen Herd stehen und in Töpfen und Pfannen rühren? Es war schon schlimm genug, dass wir zu Hause beim Spülen, Erbsenpulen und Bohnenschnippeln helfen mussten.   (aus: „Mit Winnie in Niersbeck“)

die alten Gebäude (BFL)

Im Backsteingebäude ganz rechts befand sich mein erstes Klassenzimmer, man musste die Treppe hoch, an der heute „Der Kuss“ von Klimt die Wand ziert – zu meiner Zeit wäre gerade dieses Bild sicher undenkbar gewesen! Im selben Flur hatten wir unseren ersten Lateinunterricht, der mich bis heute in meinen Träumen verfolgt. Die Hautfarbe unseres Lehrers, der im Buch Prälat Sandemann heißt, war aufgrund einer Gasvergiftung im Krieg lilablau, was für unsere Kinderaugen äußerst unheimlich aussah. Ich fürchte, ich habe ihn in meiner Angst ziemlich verzerrt wahrgenommen. Unten im selben Gebäude war der große Externenraum, in dem ich im Herbst und Winter frühmorgens (gefühlt) stundenlang saß und Vokabeln lernte, weil mein Vater mich im Stockdustern auf seinem Weg nach Krefeld im Auto mitnahm und vor der schlafenden Schule absetzte.

Hier leistete mir oft Schwester Sirilla Gesellschaft. Sie unterhielt sich mit mir, hörte sich geduldig meine Sorgen an oder malte mit schönen Buchstaben Lesezeichen, auf denen „Ora et labora“, „Freu dich des Lebens“ oder „Ohne Fleiß kein Preis“ stand. Natürlich baten wir sie auch alle um einen Eintrag ins Poesiealbum. Wie gut, dass es einige der Alben noch gibt!

Nach der Schule gab es für besonders hungrige Kinder bei Schwester Sirilla für wenig Geld eine leckere Suppe. Im Buch heißt sie Schwester Lucia und kommt unter diesem Namen auch in einer meiner Erzählungen vor. „Nebel über der Niers“ gehört ins Genre der phantastischen Geschichten, und die geheimnisvollen Niersmatronen spielen darin eine wichtige Rolle. Die drei Göttinnen stammen noch aus römischer Zeit und wurden früher ganz in der Nähe mit einem Schrein verehrt. Heute sind sie am Niederrhein leider so gut wie unbekannt, aber wenn man großes Glück und wache Sinne hat, kann man ihnen bei Dämmerung und Nebel immer noch unverhofft begegnen.

Vor dem Backsteingebäude in der Nähe der Mauer befanden sich unzählige Fahrradständer, an denen wir stolz unsere Drahtesel banden oder anketteten. Unter den Bäumen spielten wir in den Pausen brave Mädchenspiele wie Gummitwist und Seilchenspringen – wenn wir uns nicht in den riesigen Park absetzten.

Den damaligen Küchentrakt mit all seinen interessanten Koch- und Backdünsten habe ich nie betreten, so dass er in meiner Vorstellung bis heute irgendwie die Aura des Geheimnisvollen besitzt. Ob es wohl die alte Glocke wohl noch gibt, mit der unsere strenge Direktorin immer die Versammlungen einläutete? Das Ding war ziemlich groß und sein Klang äußerst durchdringend. Wenn die Glocke geschwungen wurde, mussten sich die Schülerinnen warm anziehen. Aber vielleicht gibt es ja sogar irgendwo in der Schule ein kleines „Museum“? Da sind dann vielleicht auch die großen Glasvitrinen mit den ausgestopften Tieren, die immer so ernst und verständnisvoll auf uns herabschauten.

Schulglocke (pixabay)

Altvertraut und extrem fremd zugleich war für mich der ehemalige Musiksaal, in dem vor vielen Jahren meine musikalische Initiation stattfand. Meine Eltern hörten aus irgendwelchen Gründen nie klassische Musik, so dass ich durch nichts auf „Die Moldau“ von Smetana, das erste Klavierkonzert von Tschaikowski und „Die Fünfte“ von Beethoven vorbereitet war. Erst recht nicht auf die beiden Stellen in Dvoraks „Symphonie Nr. 9“ (aus der Neuen Welt), die mich mehr oder weniger vom Stuhl hauten. Die Schauern, die mir beim Erstkontakt mit diesen Werken über den Rücken liefen, waren unvergleichlich. Danach war ich musiksüchtig und konnte von Klassik gar nicht genug bekommen. Nur für Opern und Operetten fehlt mir bis heute jeder Sinn, aber das ist eine andere Geschichte und hat auch mit dem Musiksaal zu tun. Eine Stelle aus „Zar und Zimmermann“ kann ich bis heute auswendig, weil wir sie so oft schmettern mussten, dass sie uns aus den Ohren herausquoll. Es kommt mehrfach das Wort „Dideldum“ darin vor, und der Text ist wirklich schrecklich.

Mit meiner Blockflöte stand ich auf Kriegsfuß, zu schlimm waren die aufgezwungenen Auftritte vor Verwandten mit all den falschen Tönen und peinlichen Aussetzern. Gitarrenunterricht gab es damals an der Schule leider nicht. Dafür kann ich bis heute eindrucksvoll viele Volkslieder. Sogar als zweite Stimme und auch überaus schön im Kanon. Gelernt ist gelernt!

Im Musiksaal wurden wir übrigens auch oft genug eingeschlossen (angeblich zu unserer eigenen Sicherheit), sobald Schwester Engeltrudis, wie sie (zu ihrer eigenen Sicherheit) in meinem Buch heißt, verdächtige Männer im Park sichtete. Keine Ahnung, warum sie auf Männer so extrem reagierte. Die Männer auf sie übrigens auch. Schon bei der fernen Sichtung von Handwerkern trieb sie uns gleich mit lautem Händeklatschen wie eine munter schnatternde Entenschar vor sich her. Raus aus dem Park, rein in den Musiksaal! Und nur nach vorn kucken! Danach wurden gleich die Türen abgeschlossen. Natürlich erst, nachdem sie die Schar doppelt durchgezählt hatte und absolut sicher war, dass keine fehlte.

Kaum wiederzuerkennen: der ehemalige Musiksaal (BFL)

Sogar den Werken meiner Kunstlehrerin Lisa Vogt bin ich in den Fluren begegnet. Die Uhrenbilder hat sie mir mal in ihrem „Allerheiligsten“ gezeigt, als ich ihr nach dem Unterricht beim Aufräumen half. Ich meldete mich dazu immer freiwillig, denn Kunst war mein Lieblingsfach, und Frau Vogt war mein großes Vorbild. Ich bewunderte sie rückhaltlos. Genau so wie sie wollte ich später werden. Eine freischaffende Künstlerin! Mit eigenem Atelier! Mit eigenem Auto! Ohne Mann! Unabhängig und autark!

Das alte Pult vor dem „Allerheiligsten“ (BFL)

Das Riesenpult im Zeichensaal kam mir vor wie ein alter Bekannter, und auch der Blick auf die Mülhausener Kirche, deren Turmdach in meinen Kinderaugen immer irgendwie falsch proportioniert war, ist gleich geblieben. Auch das Entenhaus habe ich entdeckt, allerdings fernab vom Teich und gänzlich ohne Enten. Den schönen Teich und den malerischen Schulpark gibt es nur noch auf Fotos und in der Erinnerung. Für mich war er neben dem verfallenen Grefrather Kirchhof mein wildromantisches Paradies. Aber darüber habe ich ja bereits geschrieben.

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Das schönste Weihnachtsfest von allen

Anfang Dezember war es soweit. Wir fuhren nach Grotekerk zum Säuglingsheim, um meine kleine Schwester zum ersten Mal zu besuchen. Leider durfte nur meine Mutter das Haus betreten. Kinder mussten draußen bleiben, denn sie hätten ja eine ansteckende Krankheit haben können. Ich verstand das nicht. Ich war doch gesund! Ich musste mit meinem Vater im warmen Auto sitzen, knibbelte vor Aufregung an den Fingern und fing vor lauter Unruhe an, die Fenster an den Häusern zu zählen. Es waren verdammt viele. Warum verging die Zeit bloß so langsam? „Ich seh wat!“ rief ich plötzlich. An einem der Fenster bewegte sich tatsächlich eine Gardine, und auf einmal stand meine Mutter da und hielt etwas hoch, das wie ein riesiges Schlummerle aussah. Viel mehr konnte ich auf die Entfernung nicht erkennen. Aber das Gesicht meiner Mutter leuchtete bis zu uns ins Auto. Das da oben war also meine kleine Schwester! Mein Vater war so gerührt, dass er anfing, sich zu räuspern. Das tat er immer, wenn ihm feierlich zumute war. Offenbar hatte auch er genug vom fernen Warten. „Komm, Kind“, sagte er schließlich, und wir stiegen aus.

An der Tür wartete schon eine fremde Frau auf uns. „Sie dürfen sich ausnahmsweise mit dem Mädchen unten an die Treppe stellen“, teilte sie meinem Vater mit. „Damit Sie die Kleine besser sehen können.“ Oben stand meine Mutter mit dem Baby, das gerade versuchte, ihr die Brille von der Nase zu reißen, und laut „Gak!“ rief. „Is‘ die aber süß!“ stammelte ich. Mein Vater sagte gar nichts. Er räusperte sich nur. Das Baby war blond, pummelig und trug einen gelben Strampelanzug mit einem aufgestickten Teddy. „Erst sieben Monate alt und kann schon ganz allein aus der Flasche trinken!“, erklärte die Frau stolz. „Wirklich ein liebes Kind. Und immer so gut gelaunt!“ Was hatte ich für ein Glück! Das fand auch meine beste Freundin Winnie. „Aber et is‘ ja auch ’n Mädchen“, meinte sie. Offenbar dachte sie dabei an ihren kleinen Bruder Gregor, der bei uns aufgrund seiner Stimmgewalt nur „der Brüllaffe“ hieß.

Die Türchen vom Adventskalender waren schon fast alle auf, als es endlich soweit war. Meine Mutter packte eine Tasche mit Babysachen, denn sie würden ihr die Kleine splitternackt übergeben. „Warum dat denn?“ fragte ich entsetzt. Meine Eltern wußten es auch nicht. Vielleicht brauchten sie die Sachen dringend für all die anderen Kinder? Wir packten viel zu viel ein, damit Nana sich nur ja nicht erkältete bei der nackten Übergabe und bei ihrem ersten Ausflug ins Freie.

Wir holten sie genau vier Tage vor Weihnachten ab. Wieder verschwand meine Mutter in dem Gebäude, doch diesmal kam sie nicht allein zurück. Sie trug die pausbäckige Nana auf dem Arm, die uns aus blauen Augen freundlich anschaute. So stolz hatte ich meine Mutter noch nie gesehen. Sie hatte Tränen in den Augen, genau wie mein Vater. „Darf ich die mal anfassen?“ fragte ich. „Ja, sicher“, sagte meine Mutter. „Nana ist doch jetzt deine Schwester!“

Sie setzte sich mit der Kleinen zu mir nach hinten auf den Rücksitz. Nana steckte unten in einer rosa Decke und oben in einem dunkelblauen Poncho mit Kapuze, den meine Mutter selbst gestrickt und mit weichem roten Stoff gefüttert hatte. Nana sah so niedlich aus, dass ich am liebsten geheult hätte. Ich versuchte vorsichtig, ihre kleine Hand zu streicheln. Sie strahlte mich an, packte mit energischem Griff meine Finger und steckte sie sich in den Mund. Sie hatte schon ein paar Zähne, aber zum Glück biß sie mich nicht. Sie nuckelte nur. Ihre Augen waren fast so blau wie die Glockenblumen in unserem Garten, und in der rechten Wange hatte sie ein imposantes Grübchen, das bei jedem Lachen zuverlässig erschien. Also ziemlich oft. Es war so tief, dass ich meine Zeigefingerspitze hineinstecken konnte, was Nana extrem lustig fand. Leider konnte sie noch kein Wort sprechen, so dass sie meine vielen Fragen nicht beantworten konnte. Aber sie konnte eindrucksvoll krähen und kreischen und stieß Laute aus, die meistens wie Chinesisch und ab und zu wie „Ragenragenragen“ klangen.

In der ersten Nacht stand Nanas Gitterbett im Schlafzimmer meiner Eltern, und ich durfte in der Besucherritze schlafen. Meine kleine Schwester ließ sich zu unserem Erstaunen problemlos ins Bett bringen, steckte sich routiniert den Daumen in den Mund, sah uns der Reihe nach an und schlief sofort ein. Sie schlief die ganze Nacht durch. Tief und fest. Wir hörten sie atmen und leise schnaufen. Meine Eltern und ich schliefen nicht. Kein bisschen. Wir wagten kaum, uns zu bewegen. Ab und zu flüsterten wir miteinander und standen immer wieder auf und sahen nach, ob sie noch da war. Nur gut, dass meine Mutter das Licht im Flur angelassen hatte. Als es endlich hell wurde, setzte Nana sich mit einem Ruck auf, rief forderend „Ragenragen“ und machte deutlich, dass sie Lust auf Gesellschaft hatte. Wir holten sie zu uns ins Bett, kuschelten ausgiebig mit ihr und ließen sie herumkrabbeln. Offenbar fühlte sie sich kein bißchen fremd. Es war wie ein Wunder.

Weil wir sie noch nicht „richtig“ adoptieren konnten, hatte ich schreckliche Angst, jemand könnte kommen und sie uns wegnehmen. Noch hatte sie ja nicht unseren Namen, so lange war sie also auch nicht sicher und musste unbedingt von mir bewacht werden. Ich hatte vor allem Angst vor ihrer richtigen Mutter. Die war nämlich nicht tot. „Un‘ wenn die jetzt einfach kommt und die Nana doch haben will?“ Ein Leben ohne meine kleine Schwester konnte ich mir schon gar nicht mehr vorstellen. „Sie weiß doch gar nicht, wo Nana ist“, versuchte meine Mutter mich zu beruhigen. „Mach dir keine Sorgen.“ Aber Sorgen machte ich mir trotzdem. Riesensorgen. Auf der Straße hielt ich dauernd Ausschau nach fremden Frauen mit Grübchen. Aber es kam keine Frau mit Grübchen, sondern nur die nette Fürsorgerin, und die fand alles in bester Ordnung und wollte uns die Kleine nicht wegnehmen. „Warum können wir die Nana denn nich‘ gleich adoptieren?“ fragte ich. „Weil das leider nicht geht, Kind“, sagte die nette Fürsorgerin. Die übliche Erklärung bei schwierigen Fragen.

Nach der ersten Nacht zog Nana mit ihrem Gitterbett in mein Zimmer, so dass ich sie nach Herzenslust beobachten konnte. Wenn sie schlief, lag sie meistens auf dem Bauch und hatte den Kopf zur Seite gedreht, ein Händchen zur Faust geballt, das andere am Mund, denn sie lutschte fast die ganze Zeit Daumen. Wenn man versuchte, das Däumchen herauszuziehen, saugte sie sich sogar im Schlaf so fest, dass man mit aller Kraft ziehen musste. Wahrscheinlich hätte man sie an ihrem Arm aus dem Bett heben können, doch so stark war ich nicht. Irgendwann machte es schließlich „Plopp“, und Nana war von ihrem Daumen getrennt, wachte auf, grinste, steckte sich den Daumen wieder in den Mund und schlief weiter. Zum Glück nahm sie mir meine Daumenexperimente nie übel. Sie hatte wunderbar weiche Locken, die man mit den Fingern oben auf ihrem Kopf zu einem Hahnenkamm drehen konnte. Dann sah sie aus wie die kleine Schwester von Max und Moritz. Nicht die einzige Gemeinsamkeit, wie sich bald herausstellen sollte.

Babyweihnacht (B. Perez-Moya/unsplash)

Immer wieder setzte sie sich zwischendurch in ihrem Bett auf, starrte merkwürdig ins Leere und schaukelte ihren kleinen Oberkörper vor und zurück. „Warum macht die Nana dat?“ fragte ich verwundert. „Das kommt vom Heim“, erklärte mein Vater. „Da waren die Babys so viel allein, dass sie sich selbst beruhigen mussten. Weil sich keiner um sie kümmern konnte. Es gibt da einfach zu viele Kinder.“ Ein schrecklicher Gedanke. „Die arme Nana!“ Wenn sie so einsam zu schaukeln begann, holten wir sie sofort aus dem Bett, trugen sie im Zimmer herum oder ließen sie krabbeln. Auf dem Schoß hielt sie es nie lange aus, denn es gab überall so viel zu erforschen. Aber das Schaukeln sollte noch eine Weile dauern. Und das Daumenlutschen erst recht.

Weihnachten kam immer näher. Wir holten Moos und Zweige für die Krippe, der Förster aus Luisenburg brachte die Tanne, und wir schmückten sie mit Holzanhängern und Kugeln. Ich baute ganz allein die Krippe auf, machte aus einem Spiegel einen silbernen See, auf dem Enten und Schwäne schwammen, und sah das Kind in der Krippe mit ganz neuen Augen. Unser Wohnzimmer war mollig warm und roch nach Babypuder, Wald, Winter, Keksen, Kerzen und frischer Wäsche.

Weihnachten mit Nana (privat)

Ich war sieben Jahre alt, Nana saß auf meinem Schoß, nuckelte an ihrer Flasche und kuschelte sich ganz eng an mich. Endlich hatte ich eine Schwester! Das hatte ich mir so sehr gewünscht wie nichts sonst auf der Welt. Mein Vater hatte den Arm um meine Mutter gelegt, eine Geste, die ich nur selten bei meinen Eltern gesehen habe. Ich spürte ihre Nähe, fühlte mich geborgen und beschützt. Ich schaute meine Eltern an, und die Freude sprang warm und leuchtend zwischen uns hin und her wie ein riesiger Ball aus Licht, bis ich es kaum noch aushielt vor Glück. Geschenke waren unwichtig in diesem Jahr, denn bei uns war das Christkind persönlich eingezogen. Es versuchte, in den Baum zu krabbeln, riß an den Strohsternen und Weihnachtskugeln, aß fast alle meine Plätzchen, und an Heiligabend fing es an zu schneien. Für mich war es das schönste Weihnachtsfest von allen. Und das ist es bis heute geblieben.

 

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