Kürbisrausch

Schon lange freue ich mich darauf,  Simone Garlands Herbst- und Winterfotos zu zeigen und dazu etwas zu schreiben. Schade, dass ich mich nicht einfach mal schnell mit meiner Kamera zu ihr nach Kanada beamen kann, denn hier in Köln findet man so stimmungsvolle Motive natürlich nicht. Ich würde bestimmt sofort in den absoluten Kürbisrausch verfallen. Ganze Felder, Vorgärten und Karren voller pumkins hat Simone auf ihren Bildern eingefangen, herbstlich geschmückte Verandastufen, grinsende Kürbiskerle mit Holzfällerhemden, alte Schindelhäuser unter bunten Bäumen und lodernde Laubfeuer im kanadischen Indian Summer. Im Kleinen habe ich es dieses Jahr endlich auch selbst mal geschafft, eine Veranda nach Herzenslust zu bestücken, denn ich habe meinen Mäusen eine amerikanische Mini-Veranda gebaut. Aber das ist natürlich nicht dasselbe.

Keine Ahnung, warum mich dieses Fest von Anfang an so fasziniert hat – lange, bevor es in Deutschland überhaupt bekannt war. Es muss die prickelnde Mischung aus Melancholie, Farbrausch, Vergänglichkeit und Gruselschauer sein. Zum ersten Mal bestaunte ich die ausgehöhlten Kürbisse und die Hexen mit den schwarzen Spitzhüten als Kind in einem Donald Duck-Heft, das mir ein Handwerker schenkte, der in unserem Keller ein defektes Wasserrohr reparierte. Ich muss noch sehr jung gewesen sein, denn ich konnte noch nicht selbst lesen. Ich weiß noch, wie mir der freundliche junge Mann die Sprechblasen vorgelesen hat. Das Wort Halloween hat er falsch ausgesprochen, weil er es auch noch nicht kannte. Das Heft habe ich lange gehütet wie einen Schatz. An dem Nachmittag wurde ich gleich auch Donald Duck-Fan. Meine Kollegin Dr. Erika Fuchs, die Übersetzerin der Walt Disney-Hefte, war übrigens ein echtes Genie. Wem sonst wären Namen wie Gundel Gaukelei oder Fähnlein Fieselschweif eingefallen!

Später begegneten mir die grinsenden pumpkins in Büchern und Bilderbüchern wieder, auf ganzseitigen Fotos in Bildbänden, gezeichnet bei den Peanuts und auf den Herbst-Covern der Zeitschrift „The New Yorker“. Ich versuche seit einiger Zeit, die Cover-Klassiker (z.B. die von Chas Addams, dem Erfinder der Addams Family) zusammenzutragen, denn jedes Jahr Ende Oktober hänge ich voller Vorfreude meine Halloweenbilder auf. Darüber habe ich ja auch schon im vorigen Herbst geschrieben.

Ganzjährig gibt es eine kleine Wechselausstellung mit Covern hier im Haus, denn seit ich vor etlichen Monden einen Reiseführer über New York übersetzt habe, bin ich treue Abonnentin von „The New Yorker“ und erwarte jede Woche gespannt die neue Ausgabe. Auch wenn sich der Preis im letzten Jahr leider aus mir unerklärlichen Gründen verdoppelt hat. Möglicherweise ist daran auch nur wieder der derzeitige POTUS schuld. Ich habe lange überlegt, ob ich mir die Hefte weiter leisten kann und soll, aber am Ende konnte ich doch nicht widerstehen. So ist das eben, wenn man papiersüchtig ist.

Jetzt ziehe ich auch wieder „The Halloween Tree“ (auf Deutsch „Halloween“) von Ray Bradbury aus dem Regal und tauche begeistert ab in die Geschichte von Pipkin und seinen Freunden. Es ist ein ungewöhnliches Buch, poetisch, gut übersetzt und jedes Mal wieder neu spannend. Wer genug Englisch kann, sollte es unbedingt auch in der Originalsprache lesen. Halloween ist eben kein Tag wie jeder andere. Die Jungen, die zunächst in ihren Kostümen unterwegs sind, um Süßigkeiten zu sammeln, begegnen in einem Spukhaus einem geheimnisvollen Mann (es ist der Tod persönlich), der sie mitnimmt auf eine Wirbelreise durch Zeit und Raum und ihnen bei der Suche nach ihrem verschwundenen Freund Pipkin hilft, der in höchster Gefahr schwebt und nur von ihnen gerettet werden kann.

Getragen werden sie auf ihrer abenteuerlichen Reise von einem riesigen Drachen aus lebendigem Herbstlaub, der sie unter anderem zu den Feuern der Steinzeitmenschen fliegt, zu den Hexen im Mittelalter, den Wasserspeiern hoch oben auf das Dach von Notre Dame und nach Mexiko, mitten hinein in das bunte, quirlige Treiben am Tag der Toten (über dieses Fest habe ich im vorigen Jahr schon ausführlich geschrieben). Es ist Ray Bradbury at his best: überaus wortgewaltig, sehr amerikanisch, ziemlich unheimlich und wunderschön, für Kinder und Erwachsene gleichermaßen. Aber Bradbury gehört ohnehin seit langem zu meinen Lieblingsautoren.

Alle Fotos in diesem Beitrag stammen von meiner Bilderfreundin Simone Garland.

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Oktoberland

Perfect bliss (unsplash)

Wie in jedem Jahr freue ich mich auf meinen Lieblingsmonat und heiße ihn herzlich willkommen, auch wenn er diesmal sicher nicht so farbenprächtig daherkommen kann wie sonst. Zu viele Blätter sind im Sommer verbrannt, verdorrt und vorzeitig abgefallen.

Heute morgen las ich im Kölner Stadt-Anzeiger ein Interview mit dem britischen Star-Koch Nigel Slater, der ganz ähnlich zu ticken scheint wie ich. „Im Sommer funktioniere ich einfach nicht gut genug. Mir ist ständig heiß, ich habe kaum Energie, und ich hasse es zu schwitzen.“ Vielleicht ist er auch hochsensibel? Er liebt allerdings vor allem den Winter. Bei mir ist es eindeutig der Herbst.

Ich merke förmlich, wie all meine quirligen Lebensgeister wieder zurückkehren, mich begeistert umwuseln, mir vielstimmig Ideen zurufen und Lust auf völlig neue, aber auch altvertraute kreative Tätigkeiten machen. Der Porzellanmalkurs mit seinem Duft nach Nelkenöl und Terpentin hat grade wieder angefangen, vor mir liegt das nagelneue Scraperboard-Kit und lädt zum kontrastreichen Bildermachen ein, die kleine Halloween-Veranda muss unbedingt in verschiedenen Blautönen gestrichen und zusammengesetzt werden, damit meine Mäuse endlich ihre winzigen Kürbisse richtig in Szene setzen können, mein neuer Roman ist immer noch nicht ganz fertig „poliert“ – ich hänge noch zu sehr an ihm und kann ihn  irgendwie nicht los lassen und allein hinaus in die Welt schicken. Und dann warten da noch all die Filme, die ich schon so lange sehen möchte, in der langen „Watch List“. Seit kurzem habe einen amazon firestick, den ich noch nicht so ausgiebig genutzt habe, wie ich es gern getan hätte. Es war mir einfach zu warm zum Filmegucken! Außerdem gibt bald wieder Lesungen, die es vorzubereiten gilt. Lauter schöne Herausforderungen.

Herbstbuch (unsplash)

Es ist natürlich kein Zufall, dass mein nächster Roman an Halloween beginnt und ein Jahr später an Halloween endet. Mir hat wohl noch nie ein Buch so viel Freude gemacht, und noch nie waren mir die Personen so nah. Ich könnte sie glatt in ihrer Wohnung am Brüsseler Platz besuchen oder alle hierher zum Tee einladen. Oder sogar für immer hier einziehen lassen. Nach all der gemeinsam verbrachten Zeit sind sie echte Familienmitglieder. Für meinen Mann zum Glück auch. Wir haben Martin und Marigard sogar schon mehrmals mit in Urlaub genommen und uns dabei dauernd gefragt: Was würden sie jetzt tun oder sagen? Sie haben es uns immer sehr bald mitgeteilt. Ihre Reaktionen waren oft überraschend und unvorhersehbar.  Jetzt fehlt nur noch ein Verlag, aber da bin ich zuversichtlich.

Martins Hände (unsplash)

Manchmal suche ich im Internet nach den Gesichtern meiner Hauptpersonen. Ich weiß natürlich genau, wie sie aussehen und würde sie sofort erkennen! Aber wie soll man Fotos von jemanden finden, den es gar nicht gibt? Moment mal: gar nicht gibt? Sie sind absolut real! In Marigards Vater Martin bin ich sogar ein klein wenig (möglicherweise auch mehr) verliebt. So was ist mir auch noch nie passiert. Schon ein merkwürdiges Gefühl, den Kopf so voller Geschichten, Gesichter und Stimmen zu haben. Manchmal träume ich von meinen Figuren, und sie teilen mir mit, was ich doch bitte unbedingt noch ändern sollte, weil sie das nie im Leben so sagen oder tun würden. Oder sie lassen mich wissen, was ich in einer Szene noch vergessen habe. Bisher haben sie mich immer überzeugt! Ich habe jetzt schon Angst, wie einsam ich mich fühlen werde, wenn ich sie nicht mehr jeden Tag um mich habe. Aber dann schreibe ich eben einfach eine Fortsetzung. So wie bei den Winnie-Romanen. Marlies und Winnie haben damals auch einfach keine Ruhe gegeben. Auch wenn sie keinen Vater hatten, in den ich ein klein wenig (möglicherweise auch mehr) verliebt war.

Bücherwolken (unsplash)

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Mülhausen revisited – die alte Bibliothek

Ein bisschen wie Hogwarts (BFL)

Die alte Bibliothek der Liebfrauenschule stammt noch aus der Klosterschulzeit und erinnert offenbar nicht nur mich, sondern auch die heutigen Schüler ein bisschen an Hogwarts, die Schule von Harry Potter. Vielleicht liegt es am dunklen Holz, vielleicht auch an der ganz besondere Stimmung oder am typischen Bücherduft.

Bücherleben (unsplash)

Inmitten von Büchern habe ich mich schon immer besonders wohl und sicher gefühlt, und selbst nach über einem halben Jahrhundert ist die Bibliothek in Mülhausen tatsächlich ein Stückchen Heimat für mich geblieben. Sehr verändert haben sich allerdings die Ordensschwestern. Sie sehen heute gänzlich anders aus als die strengen schwarzweißen Lehrerinnen aus meiner Schulzeit und haben mich durch ihre herzliche, entspannte Art tief beeindruckt. Überhaupt war es eine gelöste, heitere Atmosphäre, auch nach der Lesung gab es noch  viele interessierte Fragen und persönliche Gespräche. Meine ehemalige Schule hat mich wirklich mit offenen Armen empfangen. Ich freue mich schon darauf, in derselben Bibliothek bald auch vor den SchülerInnen zu lesen.

während der Lesung (JL)

Heute steht der Raum mit den hohen dunklen Regalen allen Schülern und Schülerinnen offen, zu meiner Zeit war er noch ein gut gehüteter Geheimbereich, den nur wenige betreten durften. Viel zu selten hatte eine von uns das Glück, auserwäht und zum Sortieren oder Katalogisieren mit hinein genommen zu werden. Damals roch die Bibliothek noch weit stärker nach Gewürzen, Staub der Weisheit und ehrwürdigem Papier. Wenn man sie betrat, wurde einem gleich so feierlich zumute, dass man automatisch die Stimme senkte. Das ist heute wahrscheinlich nicht mehr so. Ich meine mich zu erinnern, dass hier gelegentlich auch Klausuren nachgeschrieben wurden. Die guten Geister der Bibliothek hatten am Tag meiner Lesung überall Vasen mit wunderschönen riesigen Sonnenblumen verteilt, die schon von weitem leuchteten, so dass es nicht nur „buchig“, sondern auch nach frischem Herbstgarten roch. Der Strauß, den ich mit nach Köln nehmen durfte, hat mich über eine Woche lang erfreut und wird dies auf den Fotos, die ich von ihm gemacht habe, sicher noch sehr lange tun.

aufgeschlagen (unsplash)

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Mülhausen revisited – Kunstreich

Maria im Bahnhof (BFL)

Beim Gang durch die schlafende Schule fielen mir sofort die vielen richtig guten Bilder auf. Überall, sogar hoch oben unter den Decken,  haben Schüler und Schülerinnen ihre bunten und fantasievollen Kunstspuren hinterlassen. Ganze Wände haben sie gestaltet, mit Tieren, Nero Corleone und einem Bahnhof mit Maria, zu dem es sicher eine Geschichte gibt, die ich aber nicht kenne. Vielleicht erfahre ich die bei meinem nächsten Besuch, oder jemand, der diesen Beitrag liest, erzählt sie mir? Mit den tollen Wandbildern könnte ich gleich mehrere Beiträge füllen. Meine besonderen Lieblinge finden Sie in der folgenden kleinen Galerie als Vorschaubilder. Beim Anklicken werden sie größer und entfalten etwas mehr von ihrer Farbenpracht. Dass sich zu meiner Zeit die ganze Schule in der Marienhalle versammelt hat, kann man heute kaum glauben. Sie wirkt einfach winzig! Dort wachsen jetzt die bunten Hundertwasser-Gebäude auf dem Bild ganz rechts. Genau dahinter stand früher unsere gestrenge Direktorin Schwester Maria Bernardo mit ihrer Glocke und las uns ziemlich laut die Leviten.

Große Wände zu gestalten hätte mir als Kind auch total gut gefallen, denn Kunst war mein Lieblingsfach. Zwischendurch habe ich sogar kurz erwogen, freie Künstlerin zu werden wie meine Lehrerin, aber das haben mir meine Eltern schnell ausgeredet. Von mir gibt es an den Schulwänden leider so gar keine Spuren, aber dafür stehen jetzt in der Bibliothek zwei (oder vielleicht sogar drei?) meiner Bücher. Überhaupt scheint Kunst in der Liebfrauenschule ein richtiger Schwerpunkt geworden zu sein, denn es gibt inzwischen gleich mehrere Kunsträume, wie ich zu meinem Erstaunen erfuhr. In einem entdeckte ich das kleine grimmig blickende Monsterchen mit den vielen spitzen Zähnen, das möglicherweise einen Schatz bewacht und mich irgendwie an Paul Klees Bilder erinnert.  Was mag in den Kästchen dahinter verborgen sein? Oder geht da wieder mein Schriftstellerhirn mit mir durch?

Rotmonsterchen (BFL)

Das Licht war zwar nicht gerade perfekt für meine Zwecke, aber ein paar gute Aufnahmen sind mir zum Glück gelungen. Die fröhliche Schweinefamilie fand ich auf Anhieb sympatisch. Besonders den kecken kleinen Kerl rechts. Den hätte ich am liebsten gleich mitgenommen. So große Objekte haben wir nie gemacht. Leider! „Eule aus Atadose“ (aus ganz, ganz vielen Zeitungsschichten und ganz, ganz viel Kleister auf leerer Reinigerdose, die beim Schütteln leise klackerte) war unser einziges Tierprojekt. Eine Weile wachte meine Eulalia noch in einer Ecke neben dem Herd bei meiner Mutter in der Küche, aber irgendwann landete sie dann wohl im Atadosen-Eulen-Himmel. Überlebt hat mein kleiner Specksteinkopf, der bis vor fünf Jahren bei meinem Vater im Zimmer stand und heute hier im Garten unter dem Haselbusch seinen Posten bezogen hat. Ich habe tatsächlich noch sämtliche Bilder, die ich in Mülhausen gemalt, gedruckt, geschnitzt, geklebt und gezeichnet habe, unter anderem „Biene im Ameisenhaufen“, „Adler über Gebirge“ und „Verbrecherjagd im Treppenhaus“. Frau Vogt hatte etwas merkwürdige Vorgaben, aber es war immer interessant.

Echte Schweinerei (BFL)

Emotional war für mich die Rückkehr in den großen Zeichensaal, aber das hatte ich auch nicht anders erwartet. Hier war das Refugium, in dem ich als Kind (fast) immer glücklich und zufrieden war – so lange ich nicht zur Bildbetrachtung nach vorn gerufen wurde (unsere Kunstlehrerin stand auf Expressionismus und Kubismus, was die Beschreibung nicht leichter machte) oder blöde Nägel in harte Bretter klopfen musste. Eins unserer Werke hieß „Kornfeld im Wind“, und da mein Holz völlig ungeeignet und steinhart war, fielen die Nägel der Reihe nach wieder heraus, bis schließlich nur noch das nackte Holz mit den häßlichen Löchern übrig war. Ich war total verzweifelt, und Frau Vogt war geradezu entsetzt. Durch das vermaledeite Kornfeld und meine (auf tragische Weise beim Brennen geplatzte und danach echt schreckliche) Vase stürzte meine Kunstnote in dem Halbjahr voll in den Keller. Mein Selbstbewusstsein gleich mit, denn Kunst war doch mein Lieblingsfach! Und das einzige, in dem ich sonst immer zuverlässig eine Eins hatte!

Grüner Knochenmann mit Pferd (BFL)

Ich male und zeichne übrigens bis heute, und immer noch besonders gern mit Tusche. Das war schon in der Schule „mein“ Medium. Das leise Kratzen der Federn im stillen winterlichen Zeichensaal habe ich noch deutlich im Ohr. Seit ich auch beim Porzellanmalen meine Motive mit der Feder vormale, macht es nochmal so viel Spaß. Irgendwann muss ich mal einen Beitrag über Frau Vogt machen, über die es in meinem Niersbeck-Buch ein langes Kapitel gibt, auch wenn sie da einen anderen Namen hat.

Im schlafenden großen Zeichensaal (BFL)

Im herbstdunklen Zeichensaal begab ich mich gleich an die Stelle, an der ich als Schülerin immer gesessen habe. Ziemlich weit vorn, zweite Reihe, linke Ecke. Da wir am letzten Freitag außerhalb der Schulzeiten dort waren, standen die Stühle oben auf den Tischen, was meine Wiedererkennungs-Grundstimmung leicht dämpfte. Die Tische sind heute natürlich anders gruppiert, aber ich fand meinen alten Platz trotzdem mühelos.

Hinter dem Zeichensaal (BFL)

Der Zeichensaal ist immer noch so groß wie in meiner Erinnerung, und der Raum dahinter, in dem Frau Vogt ihre persönlichen Sachen aufbewahrte, kam mir diesmal sogar noch größer vor. Es war ihr „Allerheiligstes“, aber mich hat sie oft mit hinein genommen und mir dort auch ihre Arbeiten gezeigt. Einige hängen noch in den Fluren, wie ich erfreut feststellte. Die hohen dunkelbraunen Schränke in Frau Vogts „Allerheiligstem“ kenne ich auch noch. Sogar die kleinen Holzmännchen mit den beweglichen Armen und Beinen.

Gefehlt hat mir in allen Klassenräumen der Geruch von Kreide, nassem Schwamm und feuchtem Tafellappen. Komisch, dass einem ausgerechnet so was fehlen kann. Aber zu meiner Schulzeit gehört dieser nicht mal besonders angenehme Geruch einfach dazu. Überhaupt riecht die Schule komplett anders, jedenfalls für meine Nase. Der vertraute und sehr angenehme Klosterschulenduft ist verschwunden. Jammerschade. Vielleicht gibt es ihn noch in der Kapelle, aber die konnte ich diesmal nicht besuchen, weil dort gerade eine Messe gefeiert wurde.

Pinselgläser (BFL)

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Mülhausen revisited – vor der Lesung

Draußen im Schulpark

Der Mülhausener Schulpark 2018 (BFL)

Wenn ich bedenke, dass ich als Kind wahnsinnige Angst hatte, vor anderen zu sprechen, und mir schon beim harmlosen „Melden“ das Herz bis zum Hals schlug, war die Mülhausen-Lesung aus meinem „Schulroman“ am letzten Freitag wahrhaft fulminant. Ich spürte überhaupt keine Angst, nur normales leichtes Lampenfieber, meine Stimme war und blieb fest und klar, und ich hatte in der dunklen Bibliothek keinerlei Hänger oder Blackouts. Dabei trug ich beim Lesen nicht mal meine Brille. Die hatte ich vor lauter Überwältigung glatt vergessen. Hätte man dem kleinen Mädchen vor all den Jahren geweissagt, dass sie eines Tages als Schriftstellerin zurückkehren würde – keiner hätte es für möglich gehalten. Am allerwenigsten das kleine Mädchen selbst. Frei oder auch nur laut zu sprechen, war lange undenkbar.

Ich hatte schon viele Lesungen aus meinen Büchern, aber so emotional wie die in Mülhausen war bisher noch keine, denn hier nisten und wurzeln unendlich viele meiner Erinnerungen. Überall. Auch im Schulpark, durch den mich meine Freundin und ehemalige Klassenkameradin Gabi Beeck vor der Lesung führte. Mir ging dabei so vieles durch den Sinn, dass ich meine Eindrücke und Assoziationen erst jetzt im Nachhinein richtig sortieren kann. Auch das Erlebnis, das ich in meiner persönlichen Peinlichkeits-Top Ten als „The Big Sleep“ abgespeichert habe.

Dornröschen soll schlafen 

Die unschöne Szene spielte an einer besonders malerischen Stelle unter einem der großen alten Bäume. Es muss in der Quinta oder Quarta gewesen sein. Wir führten vor der (gefühlt) gesamten Schule ein englisches Stück auf, und ich war die Gute Fee und sah aus wie eine schlaksige Version von Tinker Bell. Nur mit Spitzhut. Reines Pech, dass es mich erwischte, denn ich war nur die Zweitbesetzung und hatte mich daher wochenlang sicher gefühlt. Aber dann wurde die richtige Gute Fee unerwartet krank, und es gab kein Entrinnen. Zum Glück hatte ich kaum etwas zu sagen. Nur „Sleep, sleep, for a hundred years!“ Trotzdem hatte ich wahnsinnige Auftrittsangst und starb schon im Voraus tausend Tode.

Ich trug ein langes weißes Flattergewand mit goldenem Feenstaub und hielt meinen Zauberstab fest umklammert. Unsere Lehrerin war jung, nett und überaus englisch. Sie hieß Schwester Philomena und merkte rasch, dass die weißgewandete Fairy Godmother keinen guten Tag hatte. Es war nur der eine Satz, aber ausgerechnet der verschwand schlagartig aus dem kleinen Feenhirn. Mich ereilte mein erster veritabler Blackout, der mich jahrzehntelang verfolgen sollte. Als die Stille einfach nicht enden wollte, griff Schwester Philomena zum Äußersten und soufflierte der Fee vor der (gefühlt) ganzen Schule. Auffallend laut, denn akustisch ist so ein Park leider für Theateraufführungen nicht sonderlich geeignet. Die Bäume raschelten mitfühlend mit ihren Blättern, besonders der große alte Baum, unter dem die kleine Fee gerade stand. Doch die (gefühlt) ganze Schule starrte. Wie höllenpeinlich! Ich rief meinen Satz so laut ich konnte hinaus in den Park, aber das war nicht laut genug, daher musste ich ihn wiederholen und die verwünschte Prinzessin ein zweites Mal umtanzen. Die Glückliche durfte schweigen und gleich doppelt mitsamt Hofstaat in ihren hundertjährigen Entspannungsschlaf versinken. Nur die Rosenheckenkinder waren leicht irritiert, denn sie mussten doppelt los laufen. Ich wäre so gern auch versunken. In ein besonders tiefes Mauseloch. Und eindeutig auf Nimmerwiedersehen.

Meine Baumfreunde gibt es zum Glück noch  (BFL)

Der Feen Event fiel mir gleich als erstes ein, als ich die Bäume nach all der Zeit wiedersah. Sowohl der Park als auch die ehemalige Schülerin hatten sich sehr verändert, aber wir erkannten uns trotzdem sofort. „Warst du nicht damals die dreizehnte Fee?“ fragten die Bäume leicht erheitert. Ich nickte. Zu blöd, dass sie es noch wußten. „Genau hier hast du gestanden“, sagte ein besonders dicker Baum und lächelte. Liebevoll und spöttisch zugleich. Er hatte ja auch eine Rolle gespielt damals. Wir hatten ihn als Turm verkleidet.  Wie viele Kinder mag er im Laufe seines Lebens wohl schon beobachtet haben? Bäume haben bekanntlich ein unglaubliches Gedächtnis. Ich auch. Er hat recht. Ja, hier war die Stelle. Nur die vielen dichten, hohen und dornigen Büsche fehlen. Die Kulisse stimmt so gar nicht mehr. Überhaupt ist der Park nicht mehr wild und geheimnisvoll wie früher, sondern wirkt vor allem übersichtlich und pflegeleicht. Wie jammerschade! Ich war zwar darauf vorbereitet, aber es schmerzt trotzdem. Der verwunschene alte Hogwarts Park existiert wohl nur noch in der Erinnerung – und in „Mit Winnie in Niersbeck“.

Völlig versteinert – der Klosterteich (BFL)

Und der arme Klosterteich! Nackt und ungeschützt liegt er da und ist inzwischen zumindest an den Rändern komplett versteinert. Den heißen trockenen Sommer hat er gar nicht gut verkraftet und ist sogar mehrere Male „gekippt“ und musste wie ein Notfallpatient Sauerstoff zugeführt bekommen. Lauter Grünzeug schwimmt auf ihm herum, und Fische leben in dem Wasser wohl auch keine mehr. Das war früher anders! Das steinerne Brückchen gibt es zwar noch, aber es steht so kahl und bloß mitten in der Landschaft, dass ich mich nicht mal traue, es zu fotografieren. Und wo in aller Welt ist das alte hölzerne Entenhaus geblieben? Gabi beruhigte mich. „Das gibt es noch. Ich zeig es dir gleich.“ Tatsächlich, da steht es, an einer ganz anderen Stelle. Falsch herum und ohne Enten. Haben Marlies und Winnie und Beate und Kornelia hier nicht immer auf der Bank gesessen und davon geträumt, in die USA auszuwandern und bei den Indianern zu leben? Auch Wolfsforscher wollten wir werden. Und Tierärztin. Und Schriftstellerin. Nur das letzte hat geklappt, aber das war ein fürwahr weiter Weg.

Der gute Hirte im Park (BFL)

 

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